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Georgien
Ruhe vor dem Sturm: Hat Georgien die Wahl?

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Ludwig Theodor Heuss
Georgien

Eindrücke aus Georgien (c) Ludwig Theodor Heuss

Zur Mittagszeit ist in Tiflis mit den üblichen Verkehrsmitteln kein Durchkommen. Wer es eilig hat, greift sich auch hier einen E-Roller und kurvt auf dem abgetrennten Radweg unter den Platanen des Rustaweli Boulevards an stehenden Autokolonnen und den Schaufenstern bekannter westlicher Modelabels vorbei. Zur Nutzung des Rollers verwendet man die gleiche App, wie in Zürich oder Berlin und spätestens hier wird dem Besucher bewusst: man ist in Europa. Es könnte Südfrankreich oder Spanien sein, wären da nicht die geheimnisvollen Schriftzeichen und die unzugängliche Sprache.

Unübersehbare Spuren der Massenproteste

Im Juli 2024 ist Georgien ein Land am Scheideweg. Im Mai hatten hier auf dem Rustaweli proeuropäische Massenproteste mit ca. 300'000 Teilnehmern stattgefunden, nachdem die Regierung das sogenannte «ausländische Agenten-Gesetz» durch das Parlament geboxt hatte. «Russisches Gesetz» nennen es die Georgier, weil es, ähnlich wie in Russland, die Arbeit von internationalen NGOs, aber auch Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, die mehr als 20% ihrer Mittel aus dem Ausland beziehen, wahrscheinlich zwingen wird sich zu registrieren und vor allem auch Angaben über ihre inländischen Kooperationspartner zu machen. Ein Instrument freilich, mit dem jegliche  zivilgesellschaftliche Arbeit verhindert werden kann. Die Folgen der Proteste sind noch überall sichtbar. Europa-Fahnen hängen in unzähligen Fenstern und von Balkonen, die Fassaden sind übersäht mit Graffittis, die Solidarität mit der Ukraine bezeugen. «Ruzzia terrorist state» oder «Putin go home», sind dabei noch die zitierfähigsten Spuren der brodelnden Volksseele. Die Gegenseite ist für den fremden Besucher weniger sichtbar. Nur Einheimische geben den klärenden Hinweis, dass auf dem Bürgersteig vor den Büros von NGO’s «ausländische Agenten» oder «Feinde des Staates» gesprayt wurde.

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Straßenszene in Georgien

© (c) Ludwig Theodor Heuss

Ruhe vor der Richtungswahl

Aktuell, zur Sommerferienzeit herrscht in Georgien Ruhe. Allerdings ist dies wohl eine Ruhe vor dem Sturm. Überall ist «das Gesetz» Thema, viele Institutionen sind unsicher, ob sie unter die Registrierungspflicht fallen oder sich freiwillig registrieren sollten und fürchten die drohenden drakonischen Geldbussen. Die anstehenden Parlamentswahlen im Oktober werden als Referendum über die Orientierung Richtung Europa, oder Richtung Russland, Richtung liberale Demokratie oder illiberale Autokratie gesehen. Schicksalswahl - das Wort wird gelegentlich inflationär bemüht, hier ist es angebracht. Dabei wird dem Beobachter eines klar: die Europaliebe der Georgier ist alles andere als die opportune Anlehnung eines postsowjetischen Satellitenstaates an den westlichen Wirtschaftsblock. Auch wenn es ein armes Land ist, in dem ein Achtel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Georgien, mit eigener Sprache und Schrift, mit einer 100 Jahre älteren Tradition des Christentums und 1000 Jahre älteren des Weinbaus, als in Mitteleuropa, ist ein europäisches Land. Es ist nicht vergleichbar mit den slawischen Ländern Osteuropas, nicht vergleichbar mit der Türkei, nicht vergleichbar mit seinem Nachbarn im Norden, jenseits des Kaukasusgebirges. Seine besondere Tradition fusst letztlich auf der Besiedelung des antiken Kolchis, als Teil der antiken Welt am Ufer des «gastlichen Meeres», mit Prometheus, den Argonauten und dem goldenen Vlies. Georgien ist ein europäisches Land sui generis. Es war immer geistig nach Europa orientiert, auch als im 19. Jahrhundert in Tiflis von italienischen Architekten ein Opernhaus gebaut, die Pariser Mode getragen und die Söhne und Töchter der vornehmen Familien nach Deutschland zum Studium geschickt wurden. Dass dies immer noch so ist, bestätigen georgische Partner in jedem Gespräch. Über 85% der Bevölkerung wünscht sich den Beitritt zur EU und ist zugleich gekränkt und etwas enttäuscht, wie wenig dieses Bewusstsein im Westen geteilt und wie wenig die Liebe erwidert wird.

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Eindrücke aus Georgien

© (c) Ludwig Theodor Heuss

Undurchsichtiges Lavieren der Regierungspartei

Der Beitritt zur EU ist als Ziel in der Verfassung festgelegt und seit 2023 ist Georgien,  auch wenn noch nicht alle Voraussetzungen der EU erfüllt sind, offizieller Beitrittskandidat. Umso ratloser macht unsere Gesprächspartner der Kurswechsel der aktuellen Regierung. Bidsina Iwanischwili, seines Zeichens Selfmade-Milliardär, aus einfachen Verhältnissen, der sein Vermögen mit windigen Geschäften im Russland der 1990er Jahre gemacht hat, ist die graue Eminenz der Regierungspartei «georgischer Traum». Er thront in einer riesigen Villa von fraglicher architektonischer Eleganz, die der Kulisse eines James Bond Films entsprungen zu sein scheint - und angeblich auch über ein Aquarium mit Haien verfügen soll (se non è vero, è ben trovato),- hoch über der Hauptstadt Tbilissi. Von hier zieht er mit seinem unermesslichen Reichtum die Fäden, tauscht Regierungsmitglieder nach Gutdünken aus und bestimmt aus dem Verborgenen die Geschicke der Politik. Die öffentlichen Medien verbreiten ähnlich wie in autokratischen Regimen die Mär von der westlichen Zersetzung traditioneller Werte. Die konservative Kirche zieht mit. Ohne offiziell die Orientierung nach Europa aufzugeben, laviert die Regierung zwischen den Fronten, kokettiert mit den Haltungen eines Viktor Orban, Robert Fico oder Donald Trump und zieht langsam die Daumenschrauben an. Ende April 2024 hat sich Iwanischwili in einer seltenen öffentlichen Rede geäussert und dabei verstörende antiwestliche Formulierungen von «globaler Kriegspartei» in die Welt gesetzt. Von «liberalem Faschismus» sprechen die Mitglieder seiner Regierung regelmässig. Wen kann es da wundern, wenn der  grosse Teil der urbanen, westlich orientierten Bevölkerung das «ausländische Agenten Gesetz» als Blaupause einer autokratischen Entwicklung sieht und argwöhnt, Iwanischwili habe aufgrund des mafiösen Milieus, in dem er gross wurde gute Gründe sich vom Westen ab- und Russland zuzuwenden? Nirgends, ausser im Kriegsgebiet selbst, wird wohl auch die Gefechtslage des Ukrainekrieges akribischer beobachtet als hier. Wohin sich die Waagschalen senken.

Ein schwieriges Verhältnis zu Russland

Doch so einfach wie es scheinen mag ist die Lage nicht geklärt. Mit ihrer 200jährigen Besatzung haben sich die Russen im Land einen nachhaltig schlechten Ruf erarbeitet und seit dem letzten Georgienkrieg von 2008 sind 20% des Territoriums, die Provinzen Abchasien und Südossetien von Russland besetzt. 8% der Bevölkerung sind sogenannte idp (internally displaced persons), Binnenflüchtlinge, die von russischen Greueltaten berichten, die an Bestialität kaum zu überbieten sind. Ausserdem wurde schon in den 1990er Jahren das zur Sowjetzeit verpflichtende Erlernen der russischen Sprache abgeschafft. Nur die alte Generation spricht noch Russisch, die Jüngeren alle Englisch. Im Zentrum für Erwachsenenbildung von Akhaltsikhe, einer Kleinstadt im georgisch-armenisch-türkischen Grenzgebiet haben die Sprachkurse für Englisch seit Jahren ungebrochen höchste Popularität, an zweiter Stelle folgt mit Abstand Türkisch und an dritter -mit deutlichem Abstand- Deutsch. Russisch will niemand lernen. Das ist auch insofern bemerkenswert, als hier eine grosse armenische Minderheit lebt, der traditionell eine enge Beziehung zu Russland nachgesagt wird. Doch seitdem die russische Unterstützung im Herbst 2023 bei der gewaltsamen aserbeidschanischen Annexion des armenischen Karabakh ausgeblieben ist, hat sich diese Beziehung merklich abgekühlt. So weht heute auch in der tiefen Provinz vor der etwas heruntergekommenen staatlichen Grundschule neben der Fahne Georgiens stolz das Banner der EU im Wind. Tbilisi, so heisst es immer wieder trotzig, sei nicht Bishkek und werde es auch nicht werden. Daran ändern auch die anfänglich rund 150‘000 russischen Kriegsflüchtlinge, meist mobil arbeitende moderne IT-Nomaden, nichts. Im Gegenteil.

Eindrücke aus Georgien

Eindrücke aus Georgien

© (c) Ludwig Theodor Heuss

Diese vielschichtige Gemengelage liegt, ähnlich der sommerlichen Schwüle, wie eine Glocke über dem Land. Im Treibhaus der politischen Gefühle und Enttäuschungen gärt es und alle sind sich einig, dass sich spätestens ab September die Lage wieder zuspitzen, vielleicht sogar explosiv werden wird. Denn am 26. Oktober finden in Georgien Wahlen statt, an denen sich entweder die Partei „georgischer Traum“ des Oligarchen Iwanischwili an der Macht halten, oder von einer wie auch immer gearteten Oppositionskoalition abgelöst wird.

Sechs liberale Parteien mit unerschütterlichem Optimismus

Die georgische Parteienvielfalt nach westlichen Gesichtspunkten zu beschreiben ist alles andere als selbsterklärend. So gehörte die Oligarchenpartei „georgischer Traum“ bis 2023 zur sozialdemokratischen Parteienfamilie. Die grösste Oppositionspartei UNM des früheren Präsidenten Saakaschwili definiert sich im konservativ-christdemokratischen Spektrum, auch wenn Saakaschwilil heute bei vielen im Lande wegen seines zuletzt ausschweifenden und eher lasziven Lebensstils verachtet wird.

Bei den Liberalen ist es nicht weniger bunt. In Georgien existieren 6 (in Worten sechs) Parteien, die sich dem liberalen Parteienspektrum zuordnen. Alle sind entweder affilierte oder Vollmitglieder der Alliance of Liberals and Democrats for Europe (ALDE). Inhaltlich reichen sie vom schwerpunktmässig pragmatisch marktwirtschaftlichen, gesellschaftlich moderat konservativen Kurs, über solche, die eine konsequente Trennung von Kirche und Staat fordern, sich offen für LGBTQI Menschen einsetzen, bis zu provozierenden Libertären, die Drogen und Prostitution freigeben wollen. „Epater le bourgeois“ im Dienst der Aufmerksamkeitsökonomie. Die Parteivorsitzenden (zwei sind weiblichen Geschlechts) sind allesamt charismatische Persönlichkeiten, mit viel Charme und Überzeugungsgabe. Wenn man sie gemeinsam erlebt, so entsteht der Eindruck eines guten, ja geradezu freundschaftlichen Verhältnisses. Man neckt sich, klopft sich auf die Schulter, lacht zusammen und umarmt sich. Aber vor den Wahlen würde man sich keinesfalls mit einem der anderen verbünden, nach den Wahlen soll das dann möglich sein, wenn auch in einem schwierigen Prozess. Die Hoffnung der georgischen Opposition liegt in einer „polnischen Lösung“: die Oppositionsparteien schliessen sich zu einem Wahlbündnis zusammen um so mit vereinten Kräften die Regierungspartei zu besiegen. Die (mittlerweile) der Opposition zuneigende Staatspräsidentin Salome Surabischwili hat die Opposition nach einem allfälligen Wahlsieg auf ein 100 Tage-Programm verpflichtet. Als erstes wird das „russische Gesetzt“ abgeschafft und dann sollen in diesem Zeitraum sämtliche noch ausstehenden Punkte, die einem EU-Beitritt im Wege stehen abgearbeitet werden. Eine Herkules-Aufgabe, aber ein Ziel hinter das sich die gesamte Opposition versammelt, im Gegensatz zu einer gemeinsamen Wahlliste. Zurzeit formieren sich vier unterschiedliche Listenverbindungen, „Zentren“ nennen es die georgischen Partner, zu denen sich die verschiedenen Parteien zusammenfinden. Diese können inhaltlich ziemlich verschieden sein und so kann sich eine marktwirtschaftlich, von zwei Investmentbankern geführte Partei schon einmal im Bündnis mit Sozialdemokraten wiederfinden. Auch die sechs liberalen Parteien sind nicht etwa in einem, sondern über drei Zentren verstreut. Nach der Wahl werde man sich zu einer gemeinsamen Koalition zusammenfinden, so wird beteuert. Die Frage, wer denn der georgische Donald Tusk sein könnte, erntet Achselzucken. Der werde sich dann schon aus der Situation herauskristallisieren. Im Vordergrund steht die Notwendigkeit keine einzelne Stimme und keine Partei an der 5%-Hürde scheitern zu lassen. Alle, ein farbiger, lebendiger und sympathischer Haufen einigt das Ziel nun endlich den Anschluss an Europa zu besiegeln. Der gemeinsame Sieg über die Regierungspartei muss nur gross genug sein, damit keine Zweifel aufkommen können. Aber der Optimismus ist ungebrochen. Bei höchstens 30% stünde der „georgische Traum“ in ernstzunehmenden Meinungsumfragen, da sei der Sieg doch zu Greifen nahe.

Weniger optimistisch sind manche Akteure der Zivilgesellschaft. Sie bestätigen zwar die grundsätzliche politische Strategie in Hinblick auf die Wahlen, doch die schleichende Zunahme des autoritären Einflusses wird sensibel beobachtet. Nicht nur die undurchsichtige Regierungspartei und kryptische Verlautbarungen aus Moskau machen hier Sorgen, auch China übt einen Einfluss in der Region aus. Mit dem Bau des Tiefseehafens Anaklia am Schwarzen Meer und dem Ausbau der Eisenbahnlinie nach Zentralasien ist die geostrategisch vorgehende Macht auch hier zunehmend präsent.

Die Intelligenzia sitzt auf gepackten Koffern

Investigative Journalisten und Akteure der Zivilgesellschaft, die sich trotz handfesten Drohungen nicht einschüchtern lassen, gehen den Dingen auf den Grund. Doch Aufklärung und Offenlegung von Skandalen, die Publikation von Schwarzbüchern braucht Öffentlichkeit und politisches Momentum, braucht Einflussnahme und unterstützende politische Machtwerkzeuge. Fallen diese weg, laufen die Dinge ins Leere. Das tragische Schicksal von Navalny in Russland steht als Zeichen an der Wand. Die zögerliche westliche Unterstützung der Ukraine tut das ihre dazu. Appeasement-Politik, so wird immer wieder betont, wäre das falscheste, was Europa tun könne. Gegenüber Russland, aber auch gegenüber Georgien.  Gefühlt sitzt die junge Intelligenzia auf gepackten Koffern. Alle haben Eltern, Geschwister, Freunde in Westeuropa. Vor allem in Italien und Griechenland wächst die georgische Diaspora beständig, aber auch München ist nur knappe 4 Flugstunden entfernt. Wenn die Schicksalswahl schief geht, so der Eindruck, sind viele schneller weg, als andere bis drei zählen können. Ihren freien westlichen Lebensstil werden sie sich nicht nehmen lassen.

Ludwig T. Heuss ist Vorsitzender des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Chefarzt am Spital Zollikerberg.

Sein Artikel erschien in gekürzter Form am 11. September 2024 in der Neuen Zürcher Zeitung.