Spanische Präsidentschaft
Europa ohne das Mittelmeer
Wenige Tage vor Beginn des NATO-Gipfels (Nordatlantikvertrags-Organisation) in Vilnius überstieg die unaufhörliche Ankunft von Booten in Lampedusa erneut die Kapazität der Aufnahmezentren, in denen mehr als 2.000 Migranten konzentriert wurden. Da sich das Bündnis auf den Krieg in der Ukraine konzentrierte, schien es von den Problemen der so genannten Südflanke eher abgekoppelt zu sein. Dabei sind sich die europäischen und amerikanischen Staats- und Regierungschefs durchaus bewusst, dass die euro-atlantische Sicherheit, in der sich wandelnden internationalen Ordnung von heute immer komplexer wird. Dort, wo traditionelle Bedrohungen durch die aggressive Politik Russlands überholt wurden, aber auch durch die Dynamik des globalen Wettbewerbs zwischen den Mächten, die sich in Szenarien wie dem Mittelmeer manifestiert, dessen Gewässer und Küsten offen sind für das menschliche Drama der Einwanderung, die Rivalität der Interessen und das Risiko einer Konfrontation.
Unter den Prioritäten der spanischen Präsidentschaft des Ministerrats der Europäischen Union taucht der Mittelmeerraum jedoch nicht auf. Das wäre schon schockierend, wenn ein anderes Land die sechsmonatige rotierende Präsidentschaft übernehmen würde. Im Falle Spaniens, das sich seit der zweiten spanischen Präsidentschaft im Jahr 1995, als die Erklärung von Barcelona verfasst und die Europa-Mittelmeer-Partnerschaft ins Leben gerufen wurde, für die Mittelmeerpolitik einsetzt, ist dies jedoch umso mehr der Fall. Unser Land ist ein strategischer Akteur in so wichtigen Fragen der Region wie Sicherheit, Grenzüberwachung, Handel, Neuordnung der Energieversorgung, Förderung der Interkulturalität und diplomatische Vermittlung.
Unter den vier Prioritäten, die für die Präsidentschaft festgelegt wurden, ist neben der Ausweitung der Unterstützung für die Ukraine die Reindustrialisierung der Europäischen Union die erste Priorität, um ihre strategische Autonomie zu gewährleisten. Zu diesem Zweck wird eine Politik der Diversifizierung der Handelsbeziehungen und der Stärkung der Lieferketten vorgeschlagen, ein Thema, das nach Ereignissen wie der Pandemie oder wirtschaftlichen und sektoralen Krisen von besonderer Bedeutung ist. In dieser Hinsicht wird dem EU-CELAC-Gipfel voraussichtlich große Bedeutung beigemessen, wodurch eines der Ziele des Halbjahres auf die iberoamerikanische Region als Ganzes ausgerichtet wird. Dies steht eindeutig im Einklang mit einem der historischen Paradigmen der spanischen Außenpolitik, die als Bindeglied oder Brücke zwischen Europa und Amerika dienen soll. Gleichzeitig wird damit eine transatlantische Beziehung gestärkt, deren Zukunft in einem stärker integrierten, sicheren und dynamischen atlantischen Raum gesehen werden muss.
Aus geopolitischer Sicht sowohl Spaniens als auch der Union selbst erfordert ein atlantischer Raum mit diesen Merkmalen jedoch einen anderen Mittelmeerraum, der aufnahmefähig und in der Lage ist, eine wachsende Handelsdynamik zu entwickeln und sich an seinen Küsten zu stabilisieren. Es ist daher etwas überraschend, dass die mediterrane Variable in dieser europäischen und amerikanischen Gleichung nicht auftaucht.
Auf jeden Fall besteht der Grundgedanke der Prioritäten der spanischen Regierung darin, sich dem Wandel zu stellen, den die Post-Globalisierungs-Ära des Wettbewerbs mit sich bringt. So ist neben der Stärkung der Lieferketten auch die Idee der Stärkung der europäischen Einheit durch die Vertiefung des Binnenmarktes und die Verbesserung gemeinsamer Instrumente wie die EU-Fonds der nächsten Generation eine Priorität. Die dritte Priorität zielt darauf ab, den ökologischen Übergang und die Anpassung an die Umwelt voranzutreiben. In diesem Fall werden die Reform des Elektrizitätsmarktes und der Einsatz erneuerbarer Energien in den Vordergrund gerückt.
Beide Ziele sind auch mit den Mittelmeerländern der EU verbunden, so dass man davon ausgehen kann, dass ihre Umsetzung positive Auswirkungen auf den gesamten Mittelmeerraum hat. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass der Mittelmeerraum beispielsweise im Energiesektor ein besonders wettbewerbsfähiges Gebiet ist. Dies gilt sowohl für die Länder, die traditionelle Energien erzeugen, als auch für die Energietransportsysteme zu Lande und zur See. Jede Anpassung dieser Umgebungen und Sektoren wird speziell den Mittelmeerraum betreffen.
Eine der Prioritäten des spanischen Ratsvorsitzes ist schließlich die Förderung einer größeren sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit, die notwendig ist, um den tiefgreifenden Veränderungen zu begegnen. Diese Priorität sollte im Übrigen durch private Investitionen, Innovationen und die Schaffung neuer Projekte entwickelt werden. Das Konzept der wirtschaftlichen Gerechtigkeit, das als Gleichheit und Chancengleichheit verstanden wird, darf auf keinen Fall mit der wiederholten Inanspruchnahme der öffentlichen Verschuldung oder dem Missbrauch öffentlicher Mittel verwechselt werden, die in Krisenzeiten eine Rolle gespielt haben, in Zeiten des Wandels jedoch öffentlich-privaten Aktivitäten Platz machen müssen.
In dem früheren indikativen Dekalog, der vom Real Instituto Elcano vorgeschlagen wurde, waren mindestens drei politische Ziele enthalten, die den Mittelmeerraum praktisch explizit betrafen: die Gestaltung eines umfassenderen Ansatzes für Einwanderung und Asyl, die Vervollständigung des Prozesses des Strategischen Kompasses und die Förderung der strategischen Autonomie durch die Einbeziehung neuer Stimmen aus dem so genannten globalen Süden. Dies würde die geopolitische Relevanz der Region und ihre Verknüpfung mit den Transformationsprozessen, in die wir Europäer eingebunden sind, bestätigen. Die neue Regierung wird diese Verbindung, die offensichtlich ist und von den großen Parteien voll anerkannt wird, reaktivieren müssen. Bedauerlicherweise ist sie jedoch in den Prioritäten des Ratsvorsitzes nicht angemessen berücksichtigt worden.