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Krieg in der Ukraine
Chinas Intellektuelle streiten über die richtige Position zu Russland

Zheng Yongnian

Zheng Yongnian beim  Boao Forum for Asia. Er is ein bekannter Geopolitik-Analyst und Professor an der Chinese University Hongkong, und zitiert auf Cfisnet Putins These, wonach die NATO-Osterweiterung jegliche Vereinbarungen zwischen Moskau und dem Westen breche und nun Russlands Überleben bedrohe.

© picture alliance / Xinhua News Agency | Yang Guanyu

Zu Beginn des Krieges in der Ukraine hatte sich Peking als parteiloser Vermittler ins Gespräch gebracht. Inzwischen toben innerhalb der Volksrepublik heftige Debatten unter chinesischen Think-Tanks und Intellektuellen über Pekings Russlandpolitik.

Vor Beginn des Ukraine-Krieges zogen die chinesische und russische Führung mit einem gemeinsamen Statement eine klare Frontlinie. In dem Papier vom 4. Februar priesen Wladimir Putin und Xi Jinping die „grenzenlose Freundschaft“ beider Nationen. Demnach unterstütze China Russland in deren Bestreben gegen die NATO-Osterweiterung, während Russland China helfen sollte, gegen die amerikanische Indo-Pazifische Strategie einzutreten. Doch mehrere Wochen nach Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine schwankt Chinas Diplomatie zwischen der entschlossenen Weigerung, Russlands Aggressionskrieg zu verurteilen, und dem Bestreben, den Westen, vor allem Europa, nicht allzu sehr zu reizen.

Am 1. April auf dem China-Europa-Gipfel sprach Xi Jinping per Videokonferenz von einer gemeinsamen Mission Chinas und Europas für Frieden und Ordnung der Welt, ohne auch nur ein Wort über Putins Invasion der Ukraine zu verlieren. Auf die Forderung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Peking dürfe nichts unternehmen, um westliche Sanktionen gegen Russland zu unterminieren, gab Peking keine Antwort.

Im Hintergrund der widersprüchlichen Aussagen brodelt eine innerchinesische Debatte bisweilen laut und sichtbar. Historiker wie Tang Yue, der auch Unternehmer ist, zog am 18. März bei der Plattform Zhihu eine blutige Bilanz darüber, wie vom Zarenrussland über die Sowjetunion bis heute Russland China zugesetzt habe. Und er fragt rhetorisch seine Kontrahenten wie Hu Xijin, Ex-Chefredakteur des Staatsmediums  „Global Times": „Brauchen wir wirklich ein starkes Russland als unseren Schutz? Brauchen wir wirklich ein chinesisch-russisches Bündnis heute?“  

Zheng Yongnian, ein bekannter Geopolitik-Analyst und Professor an der Chinese University Hongkong, Campus Shenzhen, zitiert auf Cfisnet Putins These, wonach die NATO-Osterweiterung jegliche Vereinbarungen zwischen Moskau und dem Westen breche und nun Russlands Überleben bedrohe. Er fügt seine eigene These hinzu: „Der neue Kalte Krieg [wird] sich auch um die Bemühungen des Westens gruppieren, Chinas Aufstieg einzudämmen. Bloß: Dieser Krieg in der Ukraine hat alle Pläne der US-Regierung durcheinandergebracht. Und dies ist eine Chance für China, geopolitisch das Beste herauszuholen." Eindringlich mahnte Hu Wei, Professor für Internationale Beziehungen aus Shanghai und stellvertretender Direktor des Beratenden Gremiums unter dem chinesischen Staatsrat, in einem namentlich gezeichneten Gastkommentar in der Zeitung Yibao: „China muss sich rechtzeitig von Putin klar distanzieren. Verpasst man das Zeitfenster jetzt, wird dies China völlig unnötig und schädlich in eine noch viel größere Isolation bringen, schon deshalb, da Putin keineswegs zu seinem Ziel gelangen wird und Russland in einem langwierigen Sumpf des Kriegswirrens verschlissen wird.“

Gewichtiger als einzelne „Gelehrtenmeinungen“, die normalerweise streng nach dem offiziell-politischen Bedarf säuberlich zensiert werden, sind die Tatsachen, dass sich Lager herausbilden und dass dies bis dato toleriert wird. Dem geopolitisch-opportunistisch argumentierenden Zheng pflichtete der glühende Maoist Zhang Hongliang, Professor an der Pekinger Universität für Ethnien bei: „Russland würde nur dann über uns herfallen, wenn wir als China selbst hinfallen. Ansonsten würde es mit unserer Hilfe den imperialistischen Westen in die Schranken weisen.“ Hu Wei erhält, wenn auch vorsichtig, Unterstützung von Professor Shi Yinhong an der Volksuniversität, einem der wichtigsten Think-Tanks für die Führung in Peking: „China will diesen Krieg absolut nicht. Und China wird Russland nicht militärisch helfen. Nicht einmal möchte China dafür wirtschaftliche Folgen tragen.“

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In den ersten drei Wochen des Krieges fiel bei dieser heftigen Kontroverse innerhalb Chinas auf, dass Europa kaum im Fokus der chinesischen Betrachter stand. Nicht einmal wurde ernsthaft thematisiert, dass sich gerade das sonst immer zerstrittene Europa diesmal binnen kürzester Zeit geschlossen hinter die USA – zumindest als Anführer der NATO - gestellt hat und ohne Wenn und Aber die Ukraine mit Waffen beliefert. Die einzige Ausnahme blieb die deutsche Rolle, eingebettet in eine sich ständig nach Osten erweiterte NATO, so Professor Li Qingsi von der Volksuniversität Peking in einem Gastkommentar für die Webseite Guangming Daily. Demnach sei die NATO entschlossen, eine absolute Sicherheit für die NATO zu erreichen, nicht nur in Europa. Britische, französische, deutsche und kanadische Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge werden in den Westpazifik entsandt, um an Manövern der USA, Japans, Südkoreas und Australiens teilzunehmen. Diese Sicherheit für die NATO bedeute so gesehen Unsicherheit für den gesamten Globus. Für Beobachter wie Professor Gu Xuewu, Universität Bonn zeige der deutsche Beschluss die Bemühungen sowohl Deutschlands als auch Frankreichs, die Tektonik der NATO in Europa von Grund auf zu verändern. Hu Chunchun, Professor an der Shanghaier Universität für Fremdsprachen, ging am 26. März auf der Homepage seiner Universität, Sishutoday.edu.cn noch einen Schritt weiter: Er sieht sogar die gesamte Geopolitik durch die deutsche Aufrüstung „auf den Kopf“ gestellt.

Den engen Beziehungen jener Analysten und Berater zu Peking ist geschuldet, dass trotz Kontroversen in manchen Fragen die überwältigende Mehrheit der Intellektuellen konform bleibt mit der Propaganda-Linie: Die USA seien der Ursprung all dieses Unheils, lautet der Tenor in der Zeitung People’s Daily vom 31. März 2022. Wenn Europa betroffen sei, dann müsse Europa sich eine „unabhängigere Position“ von den USA überlegen. Dies gelte nun auch umso mehr für Energiesicherheit oder für die Problematik der Lieferketten.

Auffällig ist: Auch die chinesische Politik übt sich in der dröhnenden Ambivalenz der innerchinesischen Debatte. Der oben erwähnte Leitartikel der People’s Daily erschien zum Besuch des russischen Außenministers Lawrow in Qidun, Provinz Anhui, wo er laut offizieller Verlautbarungen mit dem chinesischen Außenminister Wang Yi all die in dem Leitartikel genannten Punkte besprach. Einen Tag später, als Premierminister Li Keqiang und Parteichef Xi Jinping mit der EU-Führung per Video tagten, war von dieser Rhetorik kaum noch etwas zu hören.

Ming Shi ist freier Journalist und Jurist. Er stammt aus Peking.