EN

Russland und China
Was der Angriffskrieg in der Ukraine für Taiwan bedeutet

Eine  Frau protestiert in Taipeh, Taiwan am 13. März 2022 gegen die Invasion Russlands.

Eine  Frau protestiert in Taipeh, Taiwan am 13. März 2022 gegen die Invasion Russlands.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Chiang Ying-ying

Der russische Angriff auf die Ukraine kann auch das Schicksal der 8.000 Kilometer entfernten Insel Taiwan beeinflussen. Dort fürchten sich die Einwohner davor, dass Peking sie angreift. Das Stocken der russischen Truppen und die massiven Sanktionen des Westens senden nun an Peking ein deutliches Warnsignal. Doch kann das die chinesische Führung wirklich zu einem Umdenken bewegen? 

Ein Mann im Tarnanzug steht vor einer tristen Kulisse aus braunem Gehölz. Das Gesicht ist verdeckt, auf seiner Brust prangt ein Aufnäher in den Farben der ukrainischen Flagge. In seinen Armbeugen liegt ein Gewehr, mit den Händen hält er ein Pappschild in die Kamera: „Danke Hongkong und Taiwan, von der Ukraine“. Daneben ist mit schwarzem Filzstift ein Herz gemalt. Zur gleichen Zeit, als das Foto des ukrainischen Soldaten von Hongkonger Aktivisten veröffentlicht wurde, twitterte Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen: „Taiwan steht an der Seite der demokratischen Welt und fordert ein Ende der Gewalt gegen ukrainische Zivilisten“. 

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Regierung in Taipei den russischen Angriff auf die Ukraine deutlich verurteilt – anders als Peking, das sich offiziell unparteiisch gibt, tatsächlich aber die russische Propaganda in den Nachbarländern und den eigenen staatlich zensierten Netzwerken auf dem Festland verbreiten lässt. In Taiwan hingegen ist das Bild ein anderes: In den sozialen Netzwerken dort geht vor allem eine Losung um: „Heute die Ukraine, morgen Taiwan“. Tausende Menschen nahmen in Taipei im März an Protestmärschen gegen die Gewalt teil, unterschrieben Petitionen, spendeten Geld. Das Schicksal der Insel, so sehen es offenbar viele, entscheidet sich auch in der Ukraine, 8.000 Kilometer entfernt.

„Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine macht mir Angst vor dem Tag, an dem das Gleiche hier geschehen wird“, sagt Yu-hsien Liao vom Landrat in Yulin an Taiwans Westküste. Sie ist sich sicher, dass sich der Krieg in der Ukraine auf die Taiwan-Strategie der Kommunistischen Partei in Peking auswirken wird. Damit ist sie nicht allein: „Der Krieg kommt mir jetzt viel realer vor“, sagt NGO-Mitarbeiterin Peng-hsuan Lee. „Ich mache mir ein wenig Sorgen, weil ich das Gefühl habe, dass viele meiner Mitbürger sich nicht trauen würden, das Land so zu verteidigen, wie es die Ukrainer tun“, sagt Lee (mehr Stimmen aus Taiwan lesen Sie hier).

Fallstudie für Peking

Tatsächlich haben die Taiwaner und Ukrainer auf den ersten Blick vieles gemein. Über das Staatsoberhaupt entscheiden die Bürgerinnen und Bürger in größtenteils freien und fairen Wahlen, und gleichzeitig schwebt über beiden die Angst vor dem großen, autokratisch regierten Nachbarn – angeführt von Wladimir Putin in Moskau oder Xi Jinping in Peking. Beide Staatsoberhäupter eint das Feindbild des Westens – allen voran die USA – und die Überzeugung, um ihren historischen Platz in der Weltordnung gebracht worden zu sein. In beiden Fällen wurde die vermeintliche Wiederkehr zu vergangener Größe zur folgenreichen Obsession der Führung. Spätestens mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 wuchs in Kiew die Sorge um das Schicksal der Ukraine. In Taiwan nimmt die Drohkulisse aus Peking seit Jahren immer besorgniserregende Gestalt an: Die in seinen Augen abtrünnige Provinz Taiwan will Präsident Xi zur Vereinigung mit der Volksrepublik zwingen, Gewalt schließt er dabei nicht mehr aus. Für viele Experten stellt sich nicht mehr die Frage, ob Xi das auch umsetzen wird – sondern nur noch, wann.

Xi könnte den Krieg in der Ukraine als Lackmus-Test für seine eigenen Invasionspläne nutzen: Wie reagiert die Welt auf einen solchen Überfall? Offenbar wusste Xi schon im Vorhinein über die Pläne Putins Bescheid. Bei den Olympischen Winterspielen in Peking im Februar wurde Putin noch als Ehrengast empfangen und die „grenzenlose Freundschaft“ der beiden Staaten bekundet. Heute, mehr als 45 Tage nach dem Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine, ist jedoch klar, dass nicht nur Putin sich verkalkuliert hat – sondern auch Xi Jinping. Beide Staatsmänner gingen von einem kurzen Krieg aus, bei dem die russischen Kräfte schnell eine Kapitulation der Ukraine erzwungen hätten, um dann eine pro-russische Marionetten-Regierung in Kiew einsetzen zu können. Das hätte auch an Taiwan das unmissverständliche Signal geschickt: Sich gegen den übermächtigen Nachbarn zu wehren, ist zwecklos.

Doch einen kurzen Krieg wird es nicht mehr geben. Der stockende Vormarsch der russischen Kräfte, die offensichtlichen Planungsfehler der Militäroperation und die heftige Gegenwehr der Ukrainer haben zu umkämpften Gebieten statt zu schnellen Siege geführt. Etliche Wochen nach Ausbruch der Gewalt ist der Ausgang des Krieges zwischen den beiden ungleichen Kontrahenten alles andere als gewiss. Dazu sorgt die Eskalation der Gewalt weltweit für Entsetzen. Nach den vielen toten Zivilisten in Butscha untersuchen die USA mutmaßliche Kriegsverbrechen der russischen Truppen. Die liberalen Justitzminister a.D Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Gerhard Baum haben gegen Putin und andere Militärangehörige Anzeige wegen Kriegsverbrechen erstattet. Angesichts des Schreckens rückt nicht nur der Westen immer weiter zusammen, auch asiatische Nationen – Japan, Südkorea, Singapur – haben Sanktionen gegen Russland verhängt. Das sendet auch ein Signal an Xi Jiping: Sollte er in Taiwan einmarschieren, stünden diese Länder nicht auf seiner Seite.

Halten die Demokratien auch nach Kriegsende weiter zusammen?

Angesichts dieser Entwicklung muss auch Peking die Kosten einer Invasion in Taiwan neu kalkulieren: Als Exportland ist China noch enger mit der westlichen Wirtschaft verbunden als Russland, und ist gleichzeitig auf den Import von Halbleitern und Computerchips angewiesen, um die gesteckten Wachstums- und Entwicklungsziele im Hochtechnologiebereich erreichen zu können. Sanktionen, wie sie nun Russland betreffen, wären der chinesischen Bevölkerung kaum zuzumuten - wenngleich der chinesische Nationalismus auf dem Festland erstarkt und damit die Schmerzgrenze für die Kosten einer Invasion Taiwans erhöht.

„Der Verlauf der russischen Invasion in der Ukraine wird Xi Jinpings Denken definitiv beeinflussen“, sagt Billy Zhe-Wei Lin, der in Taiwan als Bürgerjournalist arbeitet. „Xi Jinping denkt vor allem an seine eigene politische Karriere. Selbst wenn er eine Schlacht verliert, wird er dies tun, solange er seine politische Karriere festigen kann.“ Mit der sogenannten Wiedervereinigung mit Taiwan will Xi sein politisches Erbe krönen. Das Vorgehen in Tibet und Hongkong habe gezeigt, dass die KP keine Angst vor einem Zusammenschluss der europäischen Länder habe, sagt Yu-hsien Liao.

Noch ist ohnehin offen, ob das Zusammenrücken der Demokratien auch nach dem Ende des Krieges in der Ukraine Bestand haben kann. In den USA wird 2024 ein neuer Präsident gewählt – schon der Wahlkampf könnte den politischen Blick wieder auf innenpolitische Felder fokussieren. Umso mehr, sollte tatsächlich Donald Trump erneut als Kandidat der Republikaner ins Rennen gehen. Auch die Geografie spielt eine Rolle: Nicht vorstellbar, dass die westlichen Demokratien gleich stark auf einen Angriff auf das weit entfernte Taiwan reagieren, wie auf den Angriff auf europäischem Boden.

Entscheidende Unterschiede

Zudem gibt es auch entscheidende Unterschiede zwischen der ukrainischen und taiwanischen Ausgangslage. Die Ukraine ist als souveräner Staat international anerkannt, Taiwan nicht. Fast alle Länder der Welt haben, um mit Peking wirtschaftliche Beziehungen unterhalten zu können, eine Ein-China-Policy. Demnach gibt es nur ein China, und man erkennt an, dass die Volksrepublik die Insel Taiwan als Teil des eigenen Territoriums betrachtet. Selbst die in Peking verhasste taiwanische Präsidentin Tsai fordert keine formale Unabhängigkeit – anders als Wolodymyr Selenskyj. Taiwans Regierung will vielmehr den „Status Quo“ beibehalten, bei dem die taiwanische Demokratie weiterbestehen kann, ohne dass es zu einem ultimativen Konflikt mit dem Festland kommt.

Taipei hofft im Falle eines chinesischen Angriffs auf den Schutz der USA, den Washington der Insel 1979 zugesichert hatte. Darauf verweist das US-State Department weiterhin. Allerdings ist unklar, wie die Umsetzung konkret aussehen würde. Das ist durchaus gewollt: Washington will sich mit der strategischen Ambiguität alle Türen offenhalten. Taiwan könnte sich im Falle eines Angriffs kaum lange selbst verteidigen. Die Ukraine hingegen liegt – auch wenn sie selbst kein NATO-Mitglied ist – zumindest in der Nachbarschaft von NATO-Staaten.

Xi Jinping bleibt angesichts des russischen Fiaskos nun noch, auf Zeit zu spielen. Solange die Ukrainer im Westen als Helden gefeiert werden, ist auch Taiwan die Solidarität des Westens und liberaler Nachbarn gewiss. Anders als es die Hongkonger Bürger im Sommer 2020 erlebt hatten, als sich Peking Hongkong relativ reibungslos einverleiben konnte - der Westen war mit Covid beschäftigt. Aktuell steht das Momentum noch auf der Seite Taiwans. Doch das kann sich nach dem Ende des Ukrainekrieges schnell ändern.

*Vanessa Steinmetz ist Projektassistentin im FNF-Regionalbüro SOOA in Bangkok.