China
Wie China Menschenrechte definiert
Der Führung in China werden immer wieder Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, etwa im Zusammenhang mit den Lagern für Uiguren in Xinjiang. Peking wehrt sich dagegen – und hat einen Aktionsplan für Menschenrechte in der Volksrepublik für die nächsten Jahre vorgelegt. Das Papier verrät viel über Chinas Motivation, Rechtfertigung und Narrativ.
Am 9. September 2021 veröffentlichte das Informationsbüro des chinesischen Staatsrats, im Grunde das Regierungskabinett des Landes, ein Dokument mit dem Titel: "Human Rights Action Plan of China (2021-2025)" , also einen Aktionsplan zum Thema Menschenrechte in China. Trotz des Titels bekam das Papier kaum internationale Aufmerksamkeit. Andere Themen bestimmten die Schlagzeilen, etwa die Immobilien- und Energiekrise der Volksrepublik und die militärische Aggression Pekings gegenüber Taiwan. Es lohnt sich aber, dem Aktionsplan Beachtung zu schenken. Denn die Führung in Peking versucht damit, die westliche Definition der Menschenrechte zu konterkarieren.
China hat seit 2009 mehrere solche Aktionspläne herausgegeben. Nun zeugt das Papier aber vom ausgeweiteten Geltungsbereich und dem gesteigerten Selbstvertrauen eines Regimes, das sich zu einer technokratischen Autokratie mit globalem Einfluss aufschwingen möchte.
Das chinesische Narrativ zum Thema Menschenrechten in den Aktionsplänen ist eher defensiv. Die „Existenzsicherung“ des Volkes wird über die Rechte des Einzelnen gestellt. Gelegentlich prangern die Verfasser westliche Versäumnisse wie Rassendiskriminierung und Kriminalfälle an. Auf chinesischer Seite wird hingegen der Erfolg beim Aufbau eines “moderaten Wohlstands" in der Gesellschaft gefeiert als Beweis für die Errungenschaften der KP im Bereich der Menschenrechte.
Das Thema wird überfrachtet: Alles ist "Menschenrechte"
Eine genauere Untersuchung der sechs Kapitel des neuen Aktionsplans verrät viel über Chinas Motivation, Rechtfertigung und Narrativ. Das erste Kapitel über "wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte” und das dritte Kapitel über "Umweltrechte" sind im Wesentlichen lange Listen von Maßnahmen zur Gewährleistung der Rechte auf eine gesicherte Existenzgrundlage, auf Arbeit, auf Gesundheit und Bildung sowie auf eine grüne und nachhaltige Entwicklung. Die Liste ist detailliert und umfasst Themen von der Lebensmittel- und Wasserversorgung bis zu erdbebensicheren Wohnungen, von der Umschulung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bis zur Sicherheit im Kohlebergbau und natürlich dem Umweltschutz. Sogar das Ziel, die Kurzsichtigkeit unter Schülerinnen und Schülern auf unter 65 Prozent zu begrenzen, wird als eine Frage der Menschenrechte bezeichnet.
Wie bei einer kleinen “Rede zur Lage der Nation" stellt Peking weiterhin die wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Gesellschaft über die Grundrechte des Einzelnen. Zum Vergleich: Wenn diese Maßnahmen als grundlegender Schutz der Menschenrechte gelten, könnte der gesamte Jahreshaushalt eines Landes als "Errungenschaften im Bereich der Menschenrechte" der jeweiligen Regierung gepriesen werden. Das ist vielleicht nicht ganz falsch, könnte aber dazu dienen, die Aufmerksamkeit von den tatsächlichen Menschenrechtsproblemen abzulenken.
Wähler sollen „mobilisiert“ werden
Das zweite Kapitel des Aktionsplans, "bürgerliche und politische Rechte", enthält vor allem vorgeschlagene Maßnahmen zum Schutz der gerichtlichen, wahlrechtlichen, religiösen und sonstigen Rechte des Einzelnen. Doch steht beispielsweise der Vorschlag, die Dauer der Untersuchungshaft für Angeklagte zu verkürzen, in starkem Kontrast zur derzeitigen Realität in Hongkong, wo seit Mitte 2020 das sogenannte Nationale Sicherheitsgesetz gilt. Behörden haben dort vielen Beschuldigten eine Kaution verweigert. So saßen sie mehr als ein halbes Jahr im Gefängnis, manche sogar länger als ein Jahr. Auf dem chinesischen Festland ist die Situation noch schlimmer. Es mag zwar einige Versuche geben, lange Untersuchungshaft auf lokaler Ebene durch Justizreformen für nichtpolitische Straftaten zu verkürzen. Doch in Anbetracht der vielen Menschen, die wegen vermeintlicher Vergehen gegen die nationale Sicherheit oder anderer politischer Straftaten angeklagt sind, kann von struktureller Verbesserung keine Rede sein. Schließlich versteht es sich von selbst, dass in China Gesetze zur nationalen Sicherheit über allen anderen Gesetzen und rechtlichen Bestimmungen stehen, einschließlich des Schutzes der Menschenrechte.
Unter dem Punkt „Wahlrecht“ will China anstreben, seine mehr als eine Milliarde Wählerinnen und Wähler zur Teilnahme an den bevorstehenden Wahlen auf allen Ebenen zu "mobilisieren". Damit wird China mit Leichtigkeit zur größten "Demokratie" der Welt, obwohl dieses Wort in dem Dokument nie verwendet wird. In Wahrheit will das Regime seine Herrschaft im Rahmen seiner "Einparteien"-Verfassung rechtfertigen. Die Mechanismen, das zu erreichen, sind bereits in Hongkong und Macau erprobt und angewandt. Dort werden unerwünschte Kandidaten überprüft, disqualifiziert und manchmal sogar in Gewahrsam genommen, bevor sie sich zur Wahl stellen können.
LGBTQ+-Gemeinde nicht unter "besonderen Gruppen", die geschützt werden sollen
Das vierte Kapitel über den "Schutz der Rechte bestimmter Gruppen" ist weitaus weniger detailliert und mit deutlich weniger Zielvorgaben versehen als die anderen Kapitel. Zu den "besonderen Gruppen” gehören Minderheiten, Frauen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit körperlichen Behinderungen. Es wird vor allem das Ziel genannt, "das System der regionalen Selbstverwaltung zu vervollkommnen, die einheitliche chinesische Kulturagenda zu konsolidieren, die schnellere (wirtschaftliche) Entwicklung der Regionen der Minderheitenvölker zu unterstützen und die gesetzlichen Rechte der Minderheiten zu schützen". Das Kapitel gleicht eher einer kolonialen Herrschaftserklärung als einer Erklärung zum Schutz der Selbstrechte von Minderheiten oder gar zum Schutz vor Diskriminierung. Die LGBTQ+ Gemeinde fehlt unter diesen "besonderen Gruppen", die geschützt werden sollen.
Das langfristige Ziel: Die globalen Menschenrechtsstandards neu definieren
Die letzten beiden Kapitel "Menschenrechtserziehung und -forschung" und "Beteiligung an der globalen Menschenrechtspolitik" zeigen den Willen Chinas, den Einfluss seines Menschenrechts-Narratives sowohl im eigenen Land als auch auf internationaler Ebene auszuweiten. Das Regime ist selbstbewusst genug, um die Diskussion der Menschenrechtsfrage im Inland nicht völlig zu vermeiden. Gleichzeitig geht es in die Offensive: China formuliert eine globale Vision durch neue Definitionen grundlegender Ideale, Prinzipien und Prioritäten der Menschenrechte. Dieses Ziel will China erreichen durch "gründliche Beteiligung an der Menschenrechtsorganisation der Vereinten Nationen, durch die Übernahme einer führenden und konstruktiven Rolle, um eine gesunde und nachhaltige Entwicklung der internationalen Menschenrechte zu gewährleisten."
Dieses Ziel könnte leicht als Selbstgefälligkeit abgetan werden. Jedoch darf die immense Anziehungskraft des chinesischen Narratives nicht außer Acht gelassen werden – sowohl auf die Menschen in China wie auch auf Bürgerinnen und Bürger vieler anderer Länder der Welt, von Entwicklungsländern bis hin zu westlichen Ländern mit liberalen demokratischen Traditionen. Während der Westen weiterhin vermeintlich in einem Sumpf feststeckt, der aus einer Kombination von ineffektiver politischer Führung, spaltender Politik, Rassismus, COVID-19 und vielem mehr entstanden ist, hat China mit seiner absoluten Kontrolle in allen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekten und mit seinem riesigen Marktpotenzial enorme Anziehungskraft. Diese könnte es zur vorherrschende Quelle für die politische Philosophie des nächsten Jahrhunderts werden lassen – zumindest ist die Führung in Peking zuversichtlich, dass dies so sein wird.
Export-Modell für Staatsführung und für das Menschenrechts-Narrativ
Das chinesische Narrativ der Menschenrechte deutet den Schutz der Rechte des Einzelnen zu einer Stütze für die Autokratie um. Während China die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (AEMR) mit entwickelt und den Internationalen Pakt über soziale, wirtschaftliche und kulturelle gar ratifiziert hat, ist Chinas tatsächliche Politik deutlich anders: Peking erklärt, dass es "die freie, umfassende und gemeinsame Entwicklung aller Individuen als allgemeines Ziel fördern wird" – "alle Individuen" werden damit quasi zur Gruppe. Dies ermöglicht es der Führung, dieses gemeinsame Wohlergehen für alle so umzudefinieren, dass es der Festigung seiner eigenen absoluten Herrschaft dient. Und das in einem Staat, in der es bereits keine demokratischen Institutionen und keine Unabhängigkeit der Justiz mehr gibt, und in dem die "unveräußerlichen Rechte" jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft, die durch die AEMR geschützt werden sollen, wenig Beachtung finden.
Die Zuversicht, mit der die chinesische Führung für diese neuen globalen Standards eintritt, beruht auf der Einschätzung, dass es ihr gelungen ist, in einer stark kontrollierten Gesellschaft mit relativ stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen nationalistische Begeisterung zu schüren. Dies ist offensichtlich ein Modell für Staatsführung und für das Menschenrechts-Narrativ, das China in den Rest der Welt exportieren will, und zwar vor allem dorthin, wo demokratische Institutionen fehlen. Oder in jene Nationen, deren Herrscher Chinas autoritärer Kontrolle der politischen Macht folgen wollen, indem sie neue Gesetze zur "Nationalen Sicherheit", gegen “Ausländischen Einmischung" und andere Maßnahmen zur Legitimierung ihrer autokratischen Systeme verabschieden.
Fest steht, dass jede Debatte über eine Menschenrechtsagenda auf wackligen Beinen steht ohne einen objektiven, sinnvollen und durchsetzbaren rechtlichen und verfassungsmäßigen Schutz der Rechte des Einzelnen, einschließlich einer Charta der Rechte für jeden Bürger, die durch eine unabhängige Justiz und echte Rechtsstaatlichkeit gestützt wird. Jede Art, die Menschenrechte neu zu definieren, ist lediglich ein Versuch, sie für die eigenen Zwecke zu kapern.
Charles Mok ist derzeit Direktor von Tech for Good Asia. Er war Internetunternehmer und vertrat von 2012 bis 2020 als Abgeordneter den Bereich Informationstechnologie im Parlament (LegCo) von Hongkong.