Menschenrechte
Urteile gegen Demokraten in Hongkong – “Ich hoffe, dass die Deutschen nicht wegschauen”
“Wenn sie diesen Mann ins Gefängnis stecken, schreckt China vor nichts mehr zurück”: So war ein Kommentar in der “Washington Post” im März überschrieben . Gemeint war Martin Lee, der Gründer des größten Pro-Demokratie-Lagers in Hongkong, der als “Vater der Demokratie” in seiner Heimat gilt. Lee musste sich vor Gericht als Mit-Organisator eines friedlichen Protestmarsches von 2019 verantworten. Das Gericht befand ihn schuldig, setzte seine Strafe aber zur 24-monatigen Bewährung aus. Trotzdem entsetzte der Fall die verbliebenen liberalen Kräfte in Hongkong. Emily Lau, ehemalige Abgeordnete der Democratic Party, ist eine von ihnen.
CB: Frau Lau, können Sie uns die Hintergründe des Prozesses gegen Martin Lee erläutern?
Emily Lau: Er musste sich für seine Rolle bei einer unerlaubten Versammlung verantworten. Auch wenn das Gericht die elf monatige Haftstrafe gegen ihn zur Bewährung aussetzte so befand es ihn doch für schuldig. Es ist richtig, dass der Protestzug vom 18. August 2019, der sich vom Victoria Park zur Charter Road bewegte, von der Polizei nicht genehmigt war. Das ist unstrittig. Lee und seine Mitstreiter argumentieren, dass sie ein Recht auf freie Versammlung haben und dass es komplett friedlich zuging. Die Richterin akzeptierte das aber nicht. Sie verhängte eine sehr harte Strafe, vor allem wenn man bedenkt, dass Angeklagte bei einem solchen Fall früher höchstens eine Geldstrafe fürchten mussten. Das macht uns schon Sorgen.
CB: Warum genau besorgt Sie das?
Emily Lau: Es wird noch viel mehr solcher Fälle geben, viel mehr Menschen werden ins Gefängnis kommen. Gegen Martin Lee gibt es keine weitere Anklage, aber gegen viele, die damals protestiert haben. Und diejenigen, die schon in Haft sitzen, müssen noch weitere Prozesse fürchten. Werden sie erneut schuldig gesprochen, verbringen sie noch viele Jahre hinter Gittern.
CB: Warum kommt es gerade jetzt, zwei Jahre nach den landesweiten Protesten für mehr Demokratien, zu diesen harten Urteilen?
Emily Lau: Ich denke, das ist ein Signal an die Hongkonger, nicht mehr zu solchen Protesten zu kommen. Auch wenn Peking keine direkten Anweisungen gegeben haben mag, so gibt es doch die Annahme, dass die Führung in Peking von den Gerichten in Hongkong ein hartes Durchgreifen gegen die Demonstranten sehen möchte. Deshalb könnte es bald noch zu drastischeren Urteilen kommen. Wenn man mit jungen Hongkongern spricht, sagen sie, dass es hier keine unabhängige Justiz mehr gibt und die Richter unfair urteilen. So weit würde ich zwar nicht gehen, aber natürlich stehen viele Menschen hier, nicht nur die Richter, unter einem immensen Druck.
CB: Sorgen Sie sich als bekannte Politikerin um ihre eigene Sicherheit?
Emily Lau: Eigentlich nicht, aber das muss nicht heißen, dass ich nicht doch festgenommen oder angeklagt werde. Das kann jedem passieren, es gibt keine klare Definition von dem, was erlaubt ist und was nicht. Die Angst davor, die “rote Linie” zu übertreten, ist weit verbreitet. Aber es gibt ein chinesisches Sprichwort: “Wir alle sterben irgendwann, also warum ist das so eine große Sache?”. Jeder möchte ein lebenswertes Leben führen und man kämpft für die Dinge, an die man glaubt. Aber vielleicht muss man einen sehr hohen Preis dafür bezahlen. Damit sind wir Hongkonger nicht allein, wenn man sich in der Welt so umschaut. Menschen sterben, während wir miteinander sprechen.
CB: Glauben Sie, dass es irgendwann in der Zukunft wieder zu großen Protesten in Hongkong kommen wird?
Emily Lau: Ich hoffe das und ich werde weiter dafür kämpfen. Aber es gibt Menschen, die da sehr viel pessimistischer sind. Sie sagen, dass die Polizei nie wieder solche Protestmärsche in Hongkong dulden werde. Weil sie befürchtet, dass dann gleich wieder Tausende mitlaufen würden. Und ich glaube, das wäre auch so. Wenn wir jemals die Chance haben werden, wieder auf die Straße zu gehen, hoffe ich, dass es friedlich abläuft.
CB: Im vergangenen Jahr wurde das sogenannte Sicherheitsgesetz in Hongkong eingesetzt, das viele Freiheitsrechte einschränkt. Was hat sich für die liberalen Kräfte seitdem verändert?
Emily Lau: Die Menschen haben Angst vor Festnahmen und dass sie für viele Jahre ins Gefängnis gesteckt werden. Deshalb haben viele schon das Land verlassen, etliche mehr werden ihnen folgen. Andere zensieren sich selbst, um nicht ins Fadenkreuz zu geraten. Journalisten stehen unter einem besonderen Druck, genauso wie Universitäten, die als Brutstätten der Protestbewegung gelten. Politiker, die jetzt ihren “Patriotismus” unter Beweis stellen wollen, plädieren etwa für eine Videoüberwachung der Seminare, damit sichergestellt wird, dass dort die “richtigen” Inhalte gelehrt werden.
CB: Das Prinzip “ein Land, zwei Systeme” halten Experten inzwischen für erledigt. Sie auch?
Emily Lau: Ich glaube, es geht sehr schnell bergab damit, auch wenn es noch deutliche Unterschiede zwischen dem Festland und Hongkong gibt. Wissen Sie, was ich damals Margaret Thatcher gefragt habe, als ich 1984 noch Journalistin war? Thatcher hatte gerade die Übergabe der britischen Kronkolonie Hongkong an China unterschrieben, dabei hatte sich die Führung in Peking auf das Prinzip “ein Land, zwei Systeme” für 50 Jahre verpflichtet. Bei einer Pressekonferenz dazu habe ich Thatcher gefragt: “Sie haben ein Abkommen unterschrieben, wonach mehr als fünf Millionen Menschen in die Hände einer kommunistischen Diktatur gegeben werden. Ist das moralisch vertretbar oder stimmt es eher, dass in der internationalen Politik die höchste Form der Moral die ist, die den nationalen Interessen dient?” Natürlich war sie auf eine solche Frage vorbereitet. “Was meinen Sie?”, erwiderte sie. “Großbritannien hat das Beste für Sie getan. Jeder in Hongkong ist darüber sehr froh, sie müssen die einzige Ausnahme sein.” Einzige Ausnahme, das heißt soviel wie: “eine Verrückte”. Das dachte Margaret Thatcher damals von mir.
CB: Und wenn Sie heute nochmal mit ihr sprechen könnten? Was würden Sie ihr sagen?
Emily Lau: Ich würde sagen: Ich war keine Ausnahme, nicht einmal damals. Ich hatte Recht und sie lag falsch. Das habe ich all die Jahre gesagt. Ich habe von den Briten nie erwartet, dass sie gegen China in den Krieg ziehen. Aber ich habe verlangt, dass sie uns die britische Staatsbürgerschaft geben für den Fall, dass es hier nicht gut läuft. Das hat die britische Regierung aber abgelehnt.
CB: Nun endlich gibt es die “British National Overseas”-Pässe für Hongkonger und damit gelockerte Einwanderungsbestimmungen für sie in Großbritannien.
Emily Lau: Nachdem China das sogenannte Sicherheitsgesetz einsetzte hatte, verkündete der britische Premierminister Boris Johnson plötzlich die neue Möglichkeit der BNO-Pässe. Damit können Hongkonger nach Großbritannien kommen, dort für fünf oder sechs Jahre leben und Staatsbürger werden. Wir hatten nichts mehr von den Briten erwartet, deshalb reagierten viele Menschen geschockt, aber glücklich darauf. Tausende haben diese Möglichkeit nun schon wahrgenommen.
CB: Was können Liberale in Deutschland tun, um die Demokraten in Hongkong zu unterstützen?
Emily Lau: Sie können die Dinge offen ansprechen. Ich kann einiges nicht sagen, weil es unter dem sogenannten Sicherheitsgesetz verboten ist. Ich hoffe, dass die internationale Gemeinschaft Druck auf die Regierung in Hongkong und Peking ausübt, sich uns gegenüber zivilisiert zu verhalten und die Menschenrechte zu achten. Ich hoffe, dass es den Deutschen – seien es die Bürger, Unternehmer oder Politiker – ebenfalls wichtig ist und sie nicht wegschauen, um weiter auf dem chinesischen Markt Geschäfte machen zu können.
Vanessa Steinmetz ist Projektassistentin im Regionalbüro Südost- und Ostasien (SOOA) in Bangkok.