Thailand Talks
Warum die Naumann-Stiftung Hunderte Thailänder streiten lässt
Seit Monaten stehen sich in Bangkok regelmäßig Demonstranten und Sicherheitskräfte gegenüber. Die Protestierenden fordern gesellschaftliche Veränderungen: von einer Reform der Monarchie bis hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit und einem besseren Corona-Management.
Dahinter stehen oft tiefere Fragen, mit denen die thailändische Gesellschaft bereits seit Jahrzehnten ringt: Wie viel Macht sollen die Wähler haben, wie viel die etablierten Eliten des Landes? Wie ist das Verhältnis zwischen wirtschaftlichen Kraftzentren wie Bangkok und den ländlich geprägten Regionen des Landes? Wie wichtig sollen Tradition und Religion künftig noch sein?
All diese ungeklärten Fragen werden kaum offen diskutiert. Stattdessen wurden sie häufig ausgekämpft. Staatsstreiche, Proteste und Straßenschlachten sind omnipräsent in der jüngeren thailändischen Geschichte. Zuletzt putschte die Armee 2014. Anschließend ließen sich die Generäle 2019 per Wahlen legitimieren. Doch viele Thailänder wollen permanenten politischen Einfluss der Armee und des Königshauses nicht mehr hinnehmen - umso heftiger ist die Gegenreaktion der Anhänger des Status Quo.
Mit dem neuen Projekt „Thailand Talks“ will die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit einen kleinen Beitrag zum friedlichen Austausch leisten - und für eine freie und offene Diskussionskultur werben. Auf Initiative der Stiftung holen nun rund ein Dutzend Medienpartner die Open Source Plattform “My Country Talks“ erstmals nach Asien. “My Country Talks“ entstand aus der Aktion „Deutschland spricht“ von ZEIT ONLINE. Gemeinsam mit Partnern entwickelte das deutsche Medium die Idee zu einer internationalen Plattform weiter.
In Europa hat “My Country Talks” schon Zehntausende Menschen mit unterschiedlichen politischen Meinungen zusammengebracht. Allein bei der jüngsten Runde von „Deutschland spricht“ vor der Bundestagswahl registrierten sich14.000 Menschen. Viele Teilnehmer berichteten hinterher, dass nach den persönlichen Gesprächen zumindest die Akzeptanz für andere Standpunkte gestiegen sei, auch wenn man sich nicht habe einigen können - eine der wichtigsten Grundlagen für Demokratien.
So funktioniert “Thailand Talks”
Damit sich auch in Thailand Menschen mit möglichst unterschiedlichen Meinungen zum Diskutieren finden können, betten Medienpartner der Stiftung insgesamt sieben verschiedene Ja-Nein-Fragen in ihre Online-Artikel ein, die ganz unterschiedliche Themen behandeln. Den Lesern werden Fragen angezeigt wie beispielsweise diese: Soll das Militär Einfluss auf die thailändische Politik haben? Hat Religion noch eine wichtige Bedeutung in einer modernen Gesellschaft? Der Algorithmus von “My Country Talks” führt dann jene Teilnehmer zusammen, deren Antworten möglichst unterschiedlich sind. Am 20. November werden sie sich dann treffen, sowohl online als auch offline. Mehr als 500 Menschen haben sich bereits registriert.
Die Konflikte in Thailand sind auch Resultat der strukturelleren Machtasymmetrie zwischen der alten Elite rund um Königshaus sowie der Armee auf der einen Seite und einer immer selbstbewusster werdenden Zivilgesellschaft auf der anderen Seite. Das erste Lager nutzt seine Machtposition aus: So ist etwa die Meinungsfreiheit in Thailand eingeschränkt. Immer wieder werden Journalisten und Oppositionspolitiker drangsaliert. Diskussionen über die Rolle der Monarchie bleibt für viele ein Tabu. Majestätsbeleidigung kann mit jahrzehntelangen Haftstrafen geahndet werden.
Ein Teil der Bevölkerung erkennt den Machtanspruch von Königshaus und Armee aber durchaus an - so wurde der Putsch 2014 von vielen Thailändern begrüßt. Wahlen zeigen, dass die konservative, militärnahe Phalang-Pracharat-Partei Sympathien in der Bevölkerung genießt. Gleichzeitig wächst im einem anderen Teil der Bevölkerung der Unmut über die streng hierarchische und konservative Gesellschaftsordnung. Insbesondere viele jüngere Menschen wünschen sich ein demokratischeres und transparenteres System.
Beide Seiten stehen sich verbittert gegenüber - und reden kaum noch miteinander. Die Filterblasen der sozialen Medien verstärken das Problem. Dringend benötigte gesellschaftliche Kompromisse darüber, wie das Verhältnis der Bürger untereinander sowie zu ihrem Staat künftig geregelt werden soll, können so kaum ausgehandelt werden. Das hemmt die politische und demokratische Entwicklung des Landes.
Grundlagen guter Diskussion
Der liberale österreichisch-britische Philosoph Karl Popper definierte einst drei grundlegende Prinzipien für eine gute Diskussion. Beide Seiten sollten sich Fehlbarkeit eingestehen: Vielleicht hast Du Recht, vielleicht habe ich Recht - vielleicht haben sogar beide Unrecht. Zweitens: Die Diskutanten sollten unpersönlich und rational die Argumente überprüfen. Durch eine solche sachliche Diskussion kommt man zum dritten Prinzip: Selbst, wenn sich die Diskutanten nicht einigen, nähern sie sich der Wahrheit so gut es geht an.
Popper begann als Wissenschaftsphilosoph. Er forderte, dass wissenschaftliche Theorien immer offen für Veränderungen und Irrtümer sein müssen. Heute gilt er aber auch als einer der wichtigsten politischen Denker und Demokratie-Theoretiker des vergangenen Jahrhunderts. Was für die Wissenschaften gilt, das gilt auch für Gesellschaften. Statt an Dogmen festzuhalten, sollte sie beweglich sein, offen für neue Ideen. Wie die Wissenschaft sich schrittweise der Wahrheit annähert, so kann sich auch eine Gesellschaft durch einen öffentlichen Austausch weiterentwickeln: nicht durch eine Revolution, sondern einen kontinuierlichen Reformprozess.
Die Stiftung und ihre Partner wollen mit „Thailand Talks“ einen solchen Austausch unterstützen – und sind optimistisch, dass ihnen das gelingt. Das Interesse an dem Projekt war größer als gedacht. Eine zweite Runde „Thailand Talks“ ist bereits in Planung.
*Frederic Spohr leitet von Bangkok aus die Projekte der Stiftung in Myanmar und Thailand