Türkei
100 Jahre Türkei – Geburtstag eines gespaltenen Landes
Istanbul ist auch nach dem hundertsten Geburtstag der Türkei noch rot von Fahnen mit weißem Mond und Stern – sie hängen von öffentlichen Gebäuden, von privaten Balkonen, sie schmücken als Wimpelketten jedes Fenster der Metrozüge, Straßenbahnen und Schiffe auf dem Bosporus. Dazwischen immer wieder das Konterfei Mustafal Kemal Paşas, genannt Atatürk, der am 29. Oktober 1923 nach vier Jahren Unabhängigkeitskrieg die Republik ausgerufen hatte. Aus Lautsprechern ertönt hier und da unvermittelt seine Stimme – eine Originalaufnahme seiner berühmten Rede zum 10. Jahrestag der Republik. Auf dem Taksimplatz im Zentrum der Metropole ist eine große runde Leinwand aufgebaut, eingepasst in einen leuchtenden weißen Halbmond und einen Kranz aus Laserstrahlern. Am Jahrestag selbst waren es jedoch vor allem die Menschen, die rot und weiß gekleidet, mit Fahnen oder Luftballons in der Hand auf die Straßen strömten, sich in Cafés versammelten und das Bild einer feiernden Nation vermittelten.
Es war ein trügerisches Bild. Denn die Deutung und Gestaltung des Tages waren so gespalten wie das Land selbst. Die Opposition und die säkularen Teile der Bevölkerung feierten den hundertsten Geburtstag eines Staates, den sein Gründer – auf den Trümmern des Osmanischen Reiches gebaut – als modernen, säkularen Rechtsstaat konzipiert hatte. Entsprechend großen Raum nahmen etwa bei den Festveranstaltungen der CHP-regierten Metropolen Ankara und Istanbul in den Reden, auf den Postern und Plakaten der CHP, die Dankbarkeit und Verehrung für Atatürk ein. Das Branding des Festes in Istanbul enthielt gar den Slogan „Jahrhundert der Demokratie“. Der Feststimmung haftete jedoch etwas Bitteres an, denn der säkulare Rechtsstaat ist unter Führung Recep Tayyip Erdogans deutlich in der Defensive.
Errungenschaften der letzten Jahre standen im Vordergrund
Die AKP-Regierung ihrerseits inszenierte eine andere Symbolik: Nicht Atatürk stand im Vordergrund, sondern die Errungenschaften der Türkei, und insbesondere die der letzten 20 Jahre. Festtagsvideos, die auf dem Taksim und anderen großen Plätzen ausgestrahlt wurden, zeigten mit Stolz 100 Jahre technologischer Entwicklung von der Landwirtschaft bis zum Drohnenbau, von der Medizin bis zum ersten türkischen E-Auto, und sie zeigten zwei große Staatenlenker, die das Jahrhundert gleichgewichtig einrahmen – Atatürk und Erdogan. Anspielungen auf die gesellschaftlichen Umwälzungen und Reformen der Atatürk-Zeit suchte man ebenso vergeblich wie ein Abbild des vielfältigen Staatsvolkes der Türkei. Stattdessen konnte man in regierungsnahen Artikeln von der Bedeutung der Religion für die Entwicklung der Republik lesen. Bezeichnend war auch der Ort, von dem der Präsident die Parade von 100 Kriegsschiffen verfolgte, die aus Richtung des Marmarameeres den Bosporus verfolgen, gekrönt von einer Flugshow mit etlichen Kampffliegern: Es war nämlich nicht der Dolmabahce-Palast, den Atatürk als Amtssitz genutzt hatte und in dem er gestorben ist, sondern der Palast des letzten osmanischen Sultans Vahdeddin auf der asiatischen Seite der Stadt.
Die deutlichste Kritik aus Opposition und Zivilgesellschaft erfuhr jedoch Erdogans Ankündigung, ausgerechnet am Vorabend des Jahrestages, eine große Pro-Palästina-Kundgebung im alten Atatürk-Flughafen Istanbul abzuhalten. Sie stellte den Jahrestag medial erwartungsgemäß in den Schatten und gab dem Präsidenten Gelegenheit, rhetorisch gegen den Westen auszuholen, den er bei der Gelegenheit als Hauptverursacher des Krieges zwischen Israel und der Hamas ausmachte.
So ehrlich die Festtagsstimmung vieler Menschen am 29. Oktober auch war, so groß waren vielfach Enttäuschung und Befremden, wie seitens der Regierung mit dem Ereignis umgegangen wurde. Der 100. Jahrestag der Republikgründung mag sich im roten Fahnenkleid präsentiert haben – er war ein weiteres Schaufenster in ein polarisiertes Land.