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Türkei Bulletin
Der Wahrheit den Kampf ansagen, wenn man sie nicht ändern kann

Desinformations«-Gesetz

Journalisten stehen vor dem Strafgericht: Protest gegen geplantes Desinformations-Gesetz

 

© Tolga Ildun / ZUMA Press Wire / picture alliance 

Erdoğan und seine Partei haben vor genau 20 Jahren begonnen, dieses Land zu regieren. Die längste ununterbrochene Regierung in der neueren türkischen Geschichte nach 1923 hat ihre Höhen und Tiefen gehabt. Doch noch nie haben sich Erdoğan und seine Partei vor einer Wahl so unsicher gefühlt wie heute. Vor jeder Wahl seit 2002 schien die Macht für sie gesichert. Die einzige Frage war, wie deutlich sie gewinnen würden. Doch sowohl die Verschleißerscheinungen von 20 Jahren Regierung als auch die Tatsache, dass die Türkei eine der schwersten Wirtschaftskrisen ihrer Geschichte durchmacht, lassen bei Erdoğan und der AKP die Alarmglocken läuten.

Nach den von Ankara manipulierten offiziellen Statistiken liegt die jährliche Inflation bei über 80 Prozent, dem höchsten Stand seit 24 Jahren. In der Realität ist sie mindestens doppelt so hoch. Die türkische Lira hat in den letzten zehn Jahren 90 Prozent an Wert verloren. Aufgrund der Wirtschaftspolitik von Erdoğan wurden allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres etwa 16.000 Unternehmen geschlossen, und die Arbeitslosigkeit explodierte. Als Folge der Unberechenbarkeit der Regierung sind in den vergangenen zwei Jahren 7,2 Milliarden Dollar ausländisches Kaptial abgeflossen. Nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die Regierung in Ankara war nicht mehr in der Lage, ihre Rechnungen zu bezahlen. Um die Erdgasschulden gegenüber Russland zu begleichen, nahm die Erdoğan-Regierung bei der Deutschen Bank einen Kredit in Höhe von 925 Millionen Euro auf. Da dies nicht ausreichte, klopfte sie bei Putin an, um die Schulden auf die Zeit nach 2024 zu verschieben.

Was Erdoğan 2002 an die Macht brachte, war die von der Vorgänger-Regierung verursachte Wirtschaftskrise. Erdoğan gewann damals mit dem Versprechen, gegen Armut, Korruption und staatliche Eingriffe vorzugehen. Aber am Ende von 20 Jahren Herrschaft steht er nun vor demselben Schicksal. Durch die Auswirkungen der Korruption wurde die Armut in der Türkei, die Erdoğan in den Hafen der Autokratie geführt hat, noch weiter verstärkt. Deshalb deutet bisher auch keine der Umfragen vor den Wahlen im Juni 2023 auf einen Sieg von Erdoğan hin.

Bereits seit den Kommunalwahlen 2019, bei denen das Oppositionsbündnis Istanbul gewinnen konnte, wurde Erdoğans Absolutismus von den Wählerinnen und Wählern in Frage gestellt. Aufgrund der Verschärfung der Wirtschaftskrise, die insbesondere die Unter- und Mittelschicht traf, wurde auch die sonst so wirksame Waffe der Polarisierung neutralisiert, die der Präsident oft einsetzt, um seine Wähler wieder für sich zu gewinnen. Auch seine Versuche, den durch die Krise verursachten Schaden vergessen zu machen und nationalistische und konservative Wähler zurückzugewinnen, führen nicht zum Erfolg. Weder die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee noch die zunehmende Unterdrückung von LGBTI+-Personen, das Versprechen eines Einsatzes in Nordsyrien oder Erdoğans Drohung an Griechenland, dass „wir eines Nachts plötzlich nach Griechenland kommen können”, konnten die Erosion der Stimmen aufhalten.

Als der Präsident die Realität im Land auch wenige Monate vor den Wahlen nicht ändern konnte, erklärte er der Wahrheit selbst den Krieg. Unter dem Vorwand, Desinformation zu bekämpfen, wurden Änderungen an den Pressegesetzen vorgenommen, und es trat ein Gesetz in Kraft, das für die Verbreitung „unwahrer Nachrichten” eine Freiheitsstrafe von ein bis drei Jahren vorsieht. In den 20 Jahren der AKP-Herrschaft waren bereits 95 Prozent der Presse direkt oder indirekt der Regierung unterstellt. Das wichtigste Medium, das sich bisher noch deren Kontrolle entziehen konnte, war die virtuelle Welt. Das neue Gesetz schüchtert nun nicht nur die herkömmliche Presse ein, sondern auch alle in der Türkei lebenden Menschen. Das einzige Medium, über das die Bürgerinnen und Bürger ihre Reaktionen auf die Regierung und insbesondere ihre Empörung über die Wirtschaftskrise zum Ausdruck bringen können, steht somit ebenfalls unter der Kontrolle Ankaras.

Dem neuen Gesetz nach wird die Justiz, die ihrerseits stark von Erdoğan geprägt wurde, entscheiden, ob die weitergegebenen Informationen der Wahrheit entsprechen oder nicht – nicht unähnlich dem Ministerium für Wahrheit in Orwells Dystopie 1984. Auch die Verwendung eines Pseudonyms ist beim Teilen einer Nachricht, die der Regierung missfällt, nicht ratsam. Die Haftstrafen für Personen, die ihre Identität verbergen, werden um 50 Prozent auf bis zu 4,5 Jahre erhöht. Auch die Plattformen der sozialen Medien werden schwierige Zeiten erleben. Social-Media-Plattformen, die Nutzerdaten mit Ankara nicht teilen, werden mit hohen Geldstrafen belegt, gefolgt von einer Drosselung der Internetgeschwindigkeit auf den Plattformen von bis zu 90 Prozent. Mit diesem Schritt wird die Regierung die sozialen Medien vollständig zum Schweigen bringen, genau wie im Iran. Eine am Tag der Verabschiedung des Desinformationsgesetzes veröffentlichte Statistik zeigt, dass Erdoğans Türkei laut Liberal Democracy Index der Universität Göteborg inzwischen Platz 147 von 179 Ländern belegt. Wir liegen jetzt hinter Iran, Libyen und Pakistan.

Es bleibt ungewiss, ob Erdoğans jüngster Schachzug gegen die digitalen Medien die Macht, die er zu verlieren droht, zurückbringen wird. In jedem Fall werden wir die neuen Generationen, die wir verlieren, wenn wir uns weiter von der Demokratie entfernen, nie wieder für ein Leben in der Türkei zurückgewinnen. Seit der unverhältnismäßig gewaltsamen Niederschlagung der Gezi-Proteste im Jahr 2013 gehören nun auch Gymnasiasten zu den gebildeten Gruppen, die aus der Türkei auswandern. 100 von 171 Absolventinnen und Absolventen des deutschsprachigen Istanbuler Gymnasiums Istanbul Erkek Lisesi und 103 von 113 Absolventinnen und Abosolventen des Deutschen Gymnasiums entscheiden sich für ein Leben in einem Land, in dem man fürs Twittern keine 3 Jahre Gefängnis fürchten muss.