Türkei
Krieg in Europa: Die Rolle der Türkei
Schon während der russische Präsident Putin in den vergangenen Monaten seine militärische Drohkulisse um die Ukraine aufbaute, bemühten sich nicht nur amerikanische und europäische Politiker mit reger Reise- und Telefondiplomatie um Deeskalation. Auch die Türkei als Land, das sowohl mit Russland als auch der Ukraine vielfältig verbunden ist, hat sich wiederholt nachdrücklich als Vermittlerin angeboten. Vor Kriegsbeginn trafen diese Avancen zumindest in Moskau auf wenig Gehör. Inzwischen ist die Welt eine andere geworden, und das Bemühen der Türkei um Vermittlung hat sich eher noch intensiviert. Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist nicht nur mit den Konfliktparteien wie auch den NATO-Partnern regelmäßig in Kontakt – so stand etwa der Antrittsbesuch von Olaf Scholz in dieser Woche ganz im Zeichen des Krieges in Europa. Es gelang der Türkei auch, die Außenminister Russlands und der Ukraine Sergej Lawrow und Dmytro Kuleba zu ihrem ersten Gespräch nach der Invasion an einen Tisch zu bringen. Das Treffen am 10. März im Vorfeld des Antalya Diplomacy Forums wurde vom türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu moderiert und von der Türkei als diplomatischer Erfolg gewertet. Ergebnisse erbrachte es jedoch nicht, weder in Richtung eines Waffenstillstands noch für die Lösung humanitärer Fragen. Am 16. und 17. März setzt die Türkei ihre Vermittlungsbemühungen mit persönlichen Besuchen Çavuşoğlus in Moskau und Kyjiw fort. Das Land gehört damit zu den möglichen Mediatoren, die zu beiden Konfliktparteien gute Beziehungen pflegen. Ebenfalls im Gespräch sind Israel, Indien oder China.
Die Türkei in einer Sonderrolle
Die Türkei nimmt seit Jahren innerhalb der NATO-Staaten eine Sonderrolle in Bezug auf Russland und die Ukraine ein, indem sie ihre Beziehungen zu beiden Ländern auszubalancieren versucht. Sie gehört wie Großbritannien oder die USA zu den Ländern, die militärische Hilfe für die Ukraine befürworten und waffentechnische Güter an Kyjiw liefern. Einer im Januar beschlossenen militärischen Verstärkung der NATO-Präsenz in Ländern mit Grenzen zur Ukraine und Russland stimmte sie zu, ohne jedoch eine Beteiligung zuzusagen. Zugleich hält sie Sanktionen gegen Russland für nicht wirksam. Bereits nach der Annexion der Krim hatte die Türkei diese scharf verurteilt und die UN-Resolution 68/262 zur Ungültigkeit des Krim-Referendums unterschrieben. Auch die jüngste Anerkennung der so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk bezeichnete Erdoğan als inakzeptabel. An den Sanktionen gegen Russland hat sich die Türkei bisher dennoch nicht beteiligt. Stattdessen wird aus Ankara immer wieder die Notwendigkeit von Dialog betont und auf russische Sicherheitsinteressen verwiesen. Wenige Tage nach Kriegsbeginn willigte die Türkei ein, die Bosporusdurchfahrt für russische Kriegsschiffe zu sperren, so weit dies unter dem Montreux-Abkommen von 1936 möglich ist – Schiffen der Schwarzmeerflotte kann demnach die Rückkehr in den Heimathafen nicht verwehrt werden. Die russische Aggression bezeichnen Präsident Erdoğan und Außenminister Çavuşoğlu deutlich als „Krieg“, während von russischer Seite nur von einer „Militäroperation“ die Rede ist. Andererseits beteiligt sich die Türkei nicht an der inzwischen beinahe europaweiten Sperrung des Luftraums für russische Flugzeuge, die den Kreml im Zweifel härter treffen würde als die Sperrung des Wasserwegs. Auch im Rahmen internationaler Abstimmungen fällt ein Lavieren auf: Bei der Suspendierung der russischen Mitgliedschaft im Europarat enthielt sich die Türkei als einziges Land, stimmte aber am selben Tag dafür, den Beitrittsprozess Russlands zur OECD auszusetzen. Die Gründe für diese Sonderrolle und die wiederholten Vermittlungsinitiativen liegen in vielfältigen Interessen und Abhängigkeiten, die die Türkei mit beiden Staaten verbinden.
Türkei und Ukraine: Strategische Partnerschaft
Mit der Ukraine hat die Türkei seit der Maidan-Revolution eine strategische Partnerschaft aufgebaut, deren Hauptfokus auf der Rüstungszusammenarbeit liegt. Die Ukraine hat seit 2019 schätzungsweise 20 Drohnen vom Typ Bayraktar TB2 sowie Bodenkontrollstationen und Raketen eingekauft und die Drohnen im Oktober 2021 erstmals im Donbas eingesetzt. Auch zur Abwehr des aktuellen Einmarsches haben sie bereits beigetragen. Die Ukraine hat außerdem Korvetten der Ada-Klasse aus türkischer Produktion bestellt, die ihre Verteidigungsposition im Schwarzen Meer und Asowschen Meer erheblich stärken sollten. Umgekehrt hatte die türkische Rüstungsfirma Baykar begonnen, eine Produktionsstätte für bewaffnete Akinci-Drohnen in der Nähe von Kyjiw zu bauen. Die ukrainische Flugzeugfirma Motor Sich sollte wichtige Maschinenteile für den Drohnenbau liefern – eine Folge der amerikanischen Sanktionen gegen die Türkei wegen des Erwerbs russischer S400-Abwehrraketen.
Die Partnerschaft mit der Ukraine geht aber weit über die Rüstungskooperation hinaus. Im Jahr 2021 war die Türkei mit einem Investitionsvolumen von 4,5 Milliarden US-Dollar der größte ausländische Investor in der Ukraine. Mehr als 700 türkische Firmen sind in der Ukraine aktiv, der Mobilfunkbetreiber Turkcell besitzt den drittgrößten ukrainischen Anbieter Lifecell, es gibt große gemeinsame Infrastrukturprojekte. Ein erst am 3. Februar dieses Jahres unterschriebenes Freihandelsabkommen sollte das Handelsvolumen von 5 Milliarden USD in 2021 auf 10 Milliarden Dollar anwachsen lassen. Schon seit 2017 können Bürgerinnen und Bürger beider Länder das jeweils andere Land einfach mit ihrem Personalausweis bereisen.
Ein besonderes Band zwischen beiden Ländern bilden die Krimtataren, nicht nur, weil die 1783 vom Zarenreich eroberte Krim als erster territorialer Verlust des Osmanischen Reiches symbolischen Wert besitzt. Zwischen drei und fünf Millionen Krimtataren leben in der heutigen Türkei. Als die unter Stalin deportierten Krimtataren in den 1990er Jahren in die gerade unabhängige Ukraine zurückkehren konnten, finanzierte die Türkische Agentur für Zusammenarbeit und Entwicklung (TIKA) Wohnungen und Kulturprojekte. Auch aktuell wurden mit türkischen Mitteln in Kyjiw, Cherson und Mykolajiw 500 Häuser für Krimtataren gebaut, die die Krim nach der Annexion 2014 verlassen haben und aufs ukrainische Festland gezogen sind. Nicht zuletzt kamen führende Persönlichkeiten der krimtatarischen Volksversammlung Medshlis 2017 wesentlich durch Präsident Erdoğans persönliche Vermittlung aus russischer Gefangenschaft frei.
Politisch spricht sich Ankara immer wieder deutlich für die Souveränität der Ukraine aus, was in Kyjiw – ebenso wie die Waffenlieferungen – mit Dankbarkeit honoriert wird. Dass sich die Türkei bislang dennoch nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligt, hat jedoch gute Gründe.
Türkei und Russland: Energieabhängigkeit und komplexe sicherheitspolitische Balance
Die Türkei ist in hohem Maße abhängig von russischen Gaslieferungen. Obwohl sie nach Diversifizierung ihrer Energiequellen strebt, Speicherkapazitäten ausgebaut hat und auf Flüssiggas setzt, wird der stetig steigende Erdgasbedarf immer noch zu 34 Prozent aus Russland gedeckt. Das erste türkische Atomkraftwerk wird von der russischen Staatsfirma Rosatom gebaut. Das Handelsvolumen mit Russland ist sechsmal so hoch wie das mit der Ukraine. Für türkische Bauunternehmen ist Russland der führende Auslandsmarkt; russische Touristen sind mit zuletzt 20 Prozent die stärkste Gruppe unter den Türkeibesuchern. Diese Handelsverflechtungen hat Moskau wiederholt genutzt, um Missfallen über die türkische Unterstützung der Ukraine auszudrücken. So wurden 2021, direkt nach einem Treffen Erdoğans mit Selenskij, sämtliche Flüge aus Russland in die Türkei eingestellt, angeblich aufgrund der Pandemie. Auch die russische Behörde für Veterinär- und Pflanzenschutzaufsicht, Rosselkhoznadzor, verbietet regelmäßig die Einfuhr türkischer Produkte in zeitlichem Zusammenhang mit unliebsamem politischen Verhalten aus Ankara. Nach dem ersten Einsatz der Bayraktar-Drohne durch die Ukraine im Donbas wurde etwa ein Bann gegen türkische Mandarinen wegen „übermäßiger Pestizidbelastung” verhängt. Angesichts der türkischen Wirtschaftskrise ist die Türkei gegen jede Art wirtschaftlicher Druckmaßnahmen hoch empfindlich.
Die enge und ambivalente Beziehung der Türkei mit Russland beschränkt sich jedoch nicht auf Energie und Handel. In mehreren regionalen Konflikten – Syrien, Libyen, Berg-Karabach – sind beide Länder auf unterschiedlichen Konfliktseiten involviert und pflegen eine enge Abstimmung miteinander. Gemeinsame Militär-Patrouillen in Syrien und ein gemeinsames Zentrum zur Überwachung des Waffenstillstands nach dem armenisch-aserbaidschanischen Krieg um Berg-Karabach sind nur Beispiele für die intensive Koordination auf höchster Ebene.
Risiken einer Eskalation für die Türkei
Putins Krieg zwängt die Führung in Ankara nun weiter ein: Die NATO dürfte die Türkei absehbar zu einer klaren Parteinahme gegen Russland drängen. Doch angesichts der dramatischen Wirtschafts- und Finanzkrise und fallender Umfragewerte für ihre Politik kann sich die türkische Führung einen Wirtschafts- oder Tourismusboykott kaum leisten. Die wahre Achillesferse liegt jedoch vermutlich im syrischen Idlib, das mit russischem Einverständnis als verbliebene Rebellenhochburg de facto unter türkischem Protektorat steht. Gäbe Putin grünes Licht für einen Angriff durch Assads Kräfte, könnten zwei bis drei Millionen weitere Menschen in die Türkei fliehen – angesichts der bereits starken Flüchtlingsfeindlichkeit wäre dies für die Regierung innenpolitisch kaum zu verkraften.
Auch wenn die Türkei nicht im Zentrum des derzeitigen russischen Angriffskrieges steht, könnte sie von seinen Folgen erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden. Die nächsten Wochen werden nicht nur zeigen, welchen Platz das Land in einer veränderten europäischen Sicherheitsordnung findet, sondern auch, ob die bisherige Position des Ausbalancierens Chancen für Konfliktmanagement bietet oder der Türkei zum Verhängnis wird.