Türkei
Vom Staat unterstützt: Anti-LGBTI+-Demonstration in Istanbul
Es ist ein trauriger Tag für die LGBTI+-Gemeinde in der Türkei. Wurden bereits seit 2015 alle LGBTI+-Demonstrationen in der Türkei untersagt, riefen nun erstmalig dutzende konservative Vereinigungen zu einer groß angelegten Demonstration gegen sexuelle Minderheiten in Istanbuls konservativem Stadtviertel Fatih auf. Erschienen sind tausende Menschen, um ein Verbot von LGBTI+-Organisationen zu unterstützen. Unter den Teilnehmenden befanden sich Familien, Nationalisten, Islamisten und Verschwörungstheoretiker sowie viele Gruppierungen, die dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nahestehen. Sie trugen Schilder mit Aufschriften wie „Schützt eure Familie und eure Generation“ oder „Sagt Nein zur geschlechtslosen Gesellschaft“. Während der Kundgebung sprach sich neben Organisationen wie der Republikanischen Frauenvereinigung und dem Jugendverband der Türkei auch die bekannte Schauspielerin und Ex-Model Tuğçe Kazaz gegen die LGBTI+-Gemeinschaft aus: „Es ist nicht mehr nur eine Zeit für Muslime, um zu beten, es ist jetzt eine Zeit, um aufzuwachen, aktiv zu werden, zu beten, zu verurteilen und (...) gegen LGBTI-Lobbys zu kämpfen“. Kürşat Mican – Sprecher der Veranstaltung – erklärte, die Organisatoren hätten 150.000 Unterschriften für eine Petition gesammelt, in der ein Verbot der so genannten LGBTI+-Propaganda in sozialen Medien, Sport, Kunst und Netflix gefordert wird.
Beunruhigend ist vor allem, dass die Regierung die Demonstration offen unterstützt hat. Im Vorfeld lief ein vom Obersten Rundfunk- und Fernsehrat RTÜK freigegebener Promofilm im staatlichen Fernsehen, der mit dem Label „Öffentliche Bekanntmachung“ für die Kundgebung warb. Wenngleich Erdoğan vor der Wahl 2002, als seine Partei AKP an die Macht kam, den Schutz von Schwulen und Lesben noch als Muss bezeichnet hatte, benutzt er die LGBTI+-Gemeinde in den letzten 20 Jahren immer öfter, um Ressentiments zu schüren und die Gesellschaft zu polarisieren. So verteidigte Erdoğan den Leiter der Religionsbehörde für dessen Äußerungen, Homosexualität bringe Krankheit und führe die Generation ins Verderben. Sein Parteikollege und Innenminister Süleyman Soylu bezeichnete Angehörige sexueller Minderheiten als „Perverse“. Außerdem zog sich die Türkei 2021 aus der Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, mit der Begründung zurück, die Konvention fördere Homosexualität.
Die Demonstration rief scharfe Kritik in den sozialen Medien hervor, unter dem Hashtag #NefretYürüyüşüneHayır (dt.: Nein zum Hassmarsch) teilten viele ihre Entrüstung. Auch bekannte Personen des öffentlichen Lebens wie der Sänger Mabel Matiz bezogen Stellung: „Ich rufe alle auf, sich mit den LGBTI+ zu solidarisieren, denn so etwas hat in einer zivilisierten Gesellschaft keinen Platz und Diskriminierung ist ein Verbrechen.“
Laut LGBTI+-Akivist Umut Rojda Yildirim, der als Anwalt für die lokale LGBTI+-Organisation SPoD tätig ist, kann die Feindseligkeit der Demonstrierenden gegen sexuelle Minderheiten zwar in der türkischen Gesellschaft nicht als vorherrschend gesehen werden. Problematisch sei jedoch, dass deren Vertreterinnen und Vertreter umso lauter würden, je mehr Rückhalt sie von der Regierung bekämen. „Man kann ein Büro leicht schließen, aber ich werde nicht verschwinden“, erklärt der Partner der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. „Meine anderen Kolleginnen und Kollegen werden nicht verschwinden. Wir werden hier sein, egal was kommt.“
Wieder einmal setzt die Regierung eine klares Zeichen für Diskriminierung und Hassrede und gegen Toleranz. Sollte Erdogan bei den bevorstehenden Wahlen im Juni 2023 als Sieger hervorgehen, stehen der türkischen LGBTI+-Gemeinde und allen, die sich für sie einsetzen, düstere Tage bevor.