Türkei
Wie sicher sind die Wahlen in der Türkei?
In den letzten Tagen vor den alles entscheidenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ist die Stimmung in der Türkei angespannt, und der Ton wird schärfer. Erstmals seit 20 Jahren muss Präsident Erdoğan trotz seiner gewaltigen Machtfülle, seines weitreichenden Zugriffs auf Medien, Justiz und politische Institutionen um seine Wiederwahl fürchten. Denn so sehr der autokratische Umbau des Landes in den vergangenen Jahren auch vorangeschritten ist, der Urnengang hat weiterhin Bedeutung in der Türkei. Und so wird nicht nur ein Kopf- an Kopf-Rennen der beiden wichtigsten Präsidentschaftskandidaten Recep Tayyip Erdoğan und Kemal Kiliçdaroğlu sowie eine sehr hohe Wahlbeteiligung erwartet, sondern auch ein überwiegend korrekter Verlauf des Wahlprozesses. Grobe Wahlfälschungen, wie man sie etwa aus Russland kennt oder wie ganz offensichtlich bei der Präsidentschaftswahl 2020 in Belarus geschehen, sind in der hundertjährigen Geschichte der Republik Türkei ausgeblieben. OSZE-Wahlbeobachter haben etwa nach den vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2018 trotz deutlicher Kritik am sehr unfairen Wahlkampf den Wahlen selbst eine weitgehend korrekte Abwicklung bescheinigt.
Dass die Zählprotokolle am Ende des Tages tatsächlich den Willen der Wählerinnen und Wähler abbilden, ist allerdings bei Weitem kein Selbstläufer. Und aufgrund des erwarteten knappen Ergebnisses insbesondere bei der Präsidentschaftswahl könnten auch kleine Unregelmäßigkeiten in der Summe fatale Auswirkungen haben. Das Thema Wahlsicherheit steht daher für die Parteien und viele Unterstützer in dieser Woche ganz oben auf der Agenda.
Wahlbeobachter kommen auf offizielle Einladung der Türkei
Auch 2023 wird es wieder internationale Wahlbeobachter geben, allen voran die des Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR), einer Institution unter dem Dach der OSZE. Die Beobachter kommen auf offizielle Einladung der Türkei – knapp 30 Langzeitbeobachter sind bereits seit dem 7. April im Land, 350 Kurzzeitbeobachter werden zudem am Wahltag zu zweit im ganzen Land unterwegs sein. Sie werden überprüfen, inwieweit die Wahlen in Übereinstimmung mit den internationalen Verpflichtungen und Standards sowie der türkischen Gesetzgebung abgehalten werden. Konkret werden die Wähler- und Kandidatenregistrierung, die Wahlkampagnen und ihre Finanzierung, die Medienberichterstattung sowie die Abläufe in den Wahllokalen beobachtet. Am Folgetag wird es dazu eine Pressekonferenz mit ersten Bewertungen sowie zwei bis drei Monate später einen ausführlichen Abschlussbericht geben. Neben den ODIHR-Beobachtern werden auch Missionen der Parlamentarischen Versammlungen der OSZE und des Europarates sowie verschiedener Nichtregierungsorganisationen wie der European Platform for Democratic Elections (EPDE) im Land sein.
Der Effekt auf die flächendeckende Sicherung der Wahlstimmen ist bei den internationalen Beobachtern naturgemäß begrenzt, da sie die Wahllokale nur stichprobenartig prüfen können. Hierfür spielen vielmehr die gemischt zusammengesetzten lokalen Wahlräte sowie die freiwilligen türkischen Wahlbeobachter die entscheidende Rolle. Ein Wahlrat wird aus fünf Personen gebildet, nominiert von den fünf antretenden Parteien, die in der letzten Wahl am besten abgeschnitten haben. Bei den Personen, die im Wahllokal sitzen, die Personalien der Wähler prüfen, die Listen abhaken und die Wahlzettel aushändigen, sind also zwingend Vertreter der regierenden Volksallianz wie auch der oppositionellen Nationsallianz vertreten. Pech hat in diesem Fall die prokurdische HDP, da ihre Kandidaten wegen des drohenden Parteiverbots sämtlich auf der Liste der zuvor unbedeutenden Grün-linken Partei (YSP) ins Rennen gehen. In manchen Wahlkreisen, wo sich keine fünf Parteien finden lassen, die die Kriterien erfüllen, wurden die Wahlräte teils per Losverfahren zwischen den teilnehmenden und noch nicht vertretenen Parteien besetzt. Den Vorsitz der Wahlräte übernimmt jeweils ein Beamter, oft Lehrerin oder Lehrer einer staatlichen Schule.
Während die Wahlräte nach Schließung der Lokale die Stimmen auszählen, schauen ihnen freiwillige Wahlbeobachter über die Schulter. Organisiert werden sie von zwei Organisationen, Oy ve Ötesi (Vote and Beyond) und Türkiye Gönüllüleri (Turkey Volunteers), letztere ist eine Initiative der Städte Istanbul und Ankara. Freiwillige, die sich für die Wahlbeobachtung registrieren, werden konkreten Wahllokalen an ihrem Heimatort zugeteilt. Die Organisationen wie zum Teil auch die Parteien bieten im Vorfeld Trainings an und stellen Informationsbroschüren zur Verfügung. So erfahren die Freiwilligen, wie die Stimmabgabe und die Auszählung zu verlaufen hat, auf welche Details sie achten müssen, und was zu tun ist, falls sie Unregelmäßigkeiten feststellen. Sie werden auch erinnert, sich mit genügend Essen und Trinkwasser auszustatten, damit sie gegebenenfalls eine lange Nacht durchstehen und nicht vor Erschöpfung aufgeben, bevor die Ergebnisse endgültig übermittelt sind. Neben der Beobachtung des Wahlprozesses zwischen 8:00 und 17:00 Uhr ist ihre Hauptaufgabe, die Zählprotokolle zu fotografieren und mithilfe einer App auf die Plattformen von Oy ve Ötesi bzw. Türkiye Gönüllüleri hochzuladen. Die Daten lassen sich dann mit den offiziell veröffentlichten Ergebnissen vergleichen und Abweichungen feststellen.
Bedenken zur Wahlsicherheit
In der Tat sind bereits verschiedene Bedenken zur Wahlsicherheit geäußert worden – so haben sich etwa die beiden aussichtslosen Präsidentschaftskandidaten Sinan Oğan und Muharrem Ince besorgt geäußert, es könnten mehr als eine Million Wähler zu viel registriert sein. Auch gab es Bedenken wegen unversiegelter Wahlunterlagen und unregistrierter Wähler. Die Ausstattung der Wahllokale mit ausreichend Beobachtern dürfte in Städten wie Ankara oder Izmir weit einfacher zu erreichen sein als in den ländlichen kurdischen Regionen im Osten des Landes. Am wenigsten sicher dürfte die Wahl wohl in den stark betroffenen Erdbebengebieten verlaufen, wo zum Teil noch wenige Tage vor dem Wahlgang wichtige praktische Fragen ungeklärt sind. Viele der üblicherweise genutzten Schulen sind zerstört oder beschädigt, Wahlcontainer noch nicht aufgebaut. Eine erhebliche Anzahl Verstorbener, deren Überreste nicht gefunden wurden, stehen offiziell immer noch in den Wählerverzeichnissen, was eine Quelle für Unregelmäßigkeiten sein könnte. Schließlich ist die Versorgung mit Internet und Strom etwa in Hatay nicht durchgehend stabil – eine Voraussetzung, um die Kontrollergebnisse auf die Plattformen hochzuladen.
Doch all dies ist für die Menschen in der Türkei kein Grund zur Resignation. Vielmehr führt die Sorge um eine ordnungsgemäße Wahl zu einem erheblichen landesweiten Engagement in der Wahlbeobachtung. Denn, wie Can Selcuki, Leiter des Umfrageinstituts Türkiye Raporu, sagt: Unregelmäßigkeiten oder Eingriffe in den Wahlprozess sind für die türkische Öffentlichkeit inakzeptabel. Ob ihr Engagement ausreicht, wird die Nacht zum 15. Mai zeigen.