10. Jahrestag der Krim-Annexion
Die Krim und der Mut, sich nicht zu beugen
Wenn mich jemand fragt, was ich tun würde, wenn ich die Zeit um 10 Jahre zurückdrehen könnte, dann würde ich mit Zuversicht antworten: „Das Gleiche!“
Mit dem Beginn der Besatzung der Krim am 27. Februar 2014 hat sich mein ganzes Leben vollständig verändert. Es ist, als wäre ich in einem langen Traum und würde gleich aufwachen und zum normalen Leben zurückkehren. Die Tage gleich nach der Besatzung ähnelten einander rasch: Jeden Tag Besuche und Treffen mit Menschen und abends Sitzungen des Medschlis[1] des krimtatarischen Volkes zusammen mit Menschenrechtsverteidigern, Journalisten, Freiwilligen. Die krimtatarischen Aktivisten ermöglichten den Zugang zu ukrainischen Militäreinheiten, da diese vom russischen Militär blockiert wurden, um ihnen Lebensmittel, Medikamente und Kleidung zu übergeben.
Als die russischen Panzer auf die Krim vordrangen, war meine Frau bereits in der Entbindungsklinik. Mein zweiter Sohn wurde am 5. März 2014 geboren. Egal wie anstrengend der Tag war, ich wusste, dass meine Familie mich immer unterstützen würde. Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass ich so tapfer war und mir keine Sorgen machte. Ich kam zu meiner Frau, blieb in ihrem Zimmer und erzählte ihr, was in dieser Zeit passierte. Es war sehr wichtig für mich, neben ihr zu sein....
Besatzer entführten und ermordeten Aktivisten
Natürlich war uns klar, dass es sich um illegale Aktionen handelte. Als die Besatzer planten, ein „Referendum“ abzuhalten, war der Medschlis des krimtatarischen Volkes der erste, der öffentlich die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine unterstützte und die Krimtataren und alle Bewohner der Krim aufrief, das illegale Plebiszit zu ignorieren. Zudem forderten wir das ukrainische Parlament auf, die Krimtataren als indigenes Volk der Ukraine anzuerkennen, da nach internationalem Recht ein indigenes Volk das Recht auf Selbstbestimmung hat. Wir versuchten, die Menschen zu stützen und aufzurichten, sie darüber zu informieren, wie sie sich schützen können, richteten eine Hotline ein und informierten die internationale Gemeinschaft über die tatsächlichen Ereignisse und Menschenrechtsverletzungen auf der besetzten Krim. Zu dieser Zeit begannen die Besatzer, Aktivisten gewaltsam zu entführen und sogar zu ermorden.
Natürlich gefiel den Besatzern auch meine aktive Arbeit nicht und sie suchten nach einem Grund, mich zu verhaften. Bereits im April erhielt ich erste Drohungen von den Besatzungsbehörden. Und das erste Mal, dass mir Gewalt angedroht wurde, war am 23. Juli 2014, als ich aus der Schweiz zurückkehrte, wo ich die internationale Gemeinschaft über die Lage auf der Krim informiert hatte. An der Verwaltungsgrenze zur Krim wurden wir von acht bewaffneten Männern umstellt. Einer von ihnen – ein besonders aggressiver – war während der Durchsuchung unhöflich und schrie uns an, wir sollten nicht Krimtatarisch sprechen. Ich war sehr empört und fragte scharf: „Aus welchem Grund hältst du uns fest und verbietest uns, unsere Muttersprache zu sprechen? Sprichst du etwa mit einem Kriminellen? Steht das in deinem Statut? Wo ist dein Chef? Siehst du, ich bin unbewaffnet, und du hast ein Maschinengewehr, bist du ein Held oder was?" Der Besatzer hatte nicht mit einem solchen Widerstand gerechnet und ließ uns bald durch.
Willkür der Sicherheitskräfte
Am 14. September 2014 setzten die Besatzer illegale Wahlen von Abgeordneten für den „Staatsrat der Republik Krim“[2] an, um die Besatzungsmacht auf der Krim zu legitimieren. Es war wichtig, proaktiv zu handeln. Deshalb riefen wir die Menschen dazu auf, nicht an den illegalen Wahlen teilzunehmen. Unmittelbar nach den „Wahlen“, am Morgen des 16. September, kamen sie mit einer Durchsuchung zu mir nach Hause...
„Halt! Ich leiste Ihnen keinen Widerstand. Zeigen Sie mir das Dokument, auf dessen Grundlage Sie die Durchsuchung durchführen. Ich bin bereit, Ihnen die Möglichkeit zu geben, eine Durchsuchung durchzuführen, aber ich garantiere nicht für mein Handeln, wenn Sie, Gott bewahre, meine Kinder erschrecken." So „empfing“ ich die Sicherheitsbeamten, die um 6 Uhr morgens in meine Wohnung eindrangen. Es war der Geburtstag meiner Frau, der 16. September 2014. Meine Söhne schliefen in der Wohnung – der ältere war vier Jahre alt und der jüngere war sechs Monate alt. Sie wissen, wann sie kommen müssen: Wenn man am verletzlichsten ist. Vier Männer in schmutzigen Schuhen, Sturmhauben, mit Maschinenpistolen, und zwei in „Zivilkleidung“ stürmten in die Wohnung. 16 bewaffnete Soldaten umstellten den Eingang. So verlief eine der ersten Durchsuchungen auf der besetzten Krim. Sie stellten alles im Haus auf den Kopf, nahmen einen Laptop und einen Computer mit und durchsuchten im Anschluss das Gebäude des Medschlis des krimtatarischen Volkes, über dem noch die ukrainische Flagge wehte.
Druck auf die Krimtataren nimmt zu
Gleichzeitig wurden andere Mitglieder des Medschlis einer demütigenden Durchsuchung unterzogen. Der Druck auf die Krimtataren begann zuzunehmen. Die Angst wurde immer größer. Selbst diejenigen, deren Angehörige verschwanden und später ermordet aufgefunden wurden, hatten Angst, sich zu äußern.
Die letzte öffentliche Veranstaltung, die wir auf der besetzten Krim durchführen konnten, war die Gesamtkrim-Konferenz des Komitees für den Schutz der Rechte des krimtatarischen Volkes am 17. Januar 2015. Trotz wiederholter Provokationen konnten wir einen Appell an den UN-Generalsekretär und die Präsidenten der Ukraine und der Türkei bezüglich der Lage der Krimtataren auf der Halbinsel verabschieden. Am 28. Januar, als ich in Kyjiw war, um diese Appelle zu versenden, erfuhr ich, dass die russischen Besatzer gegen mich und meine Kollegen Strafverfahren wegen fünf verschiedenen Tatvorwürfen eingeleitet hatten. Menschenrechtsverteidiger empfahlen mir, nicht auf die Krim zurückzukehren, und seither setze ich meine Menschenrechtsaktivitäten von Kyjiw aus fort.
Am schwierigsten war es für mich, vom Tod meiner Mutter 2018 und meines Vaters 2019 auf der besetzten Krim zu erfahren und nicht zu ihrer Beerdigung gehen zu können. Aber etwa tausend Menschen aus der ganzen Krim kamen zur Beerdigung, um mich zu unterstützen, und ich bin den Menschen für ihre Unterstützung dankbar.
Ein Kampf für Menschenrechte und Freiheit
Im Jahr 2018 ordneten die russischen Besatzungsgerichte meine Festnahme in Abwesenheit an und setzten mich auf die Fahndungsliste von Interpol. Auf unseren Antrag hin hat mich Interpol nicht in die Fahndungsliste aufgenommen, so dass ich mich in demokratischen Ländern weiter frei bewegen kann, um meine Menschenrechtsaktivitäten fortzusetzen.
Die russische Besatzung hat sich negativ auf das Leben vieler Menschen ausgewirkt, auch auf diejenigen, die keine Aktivisten waren, sondern einfach nur auf ihrem Land und in ihren Häusern lebten. 60 Menschen wurden getötet, 23 wurden gewaltsam entführt und ihr Schicksal ist immer noch unbekannt, 185 befinden sich in russischen Gefängnissen, und etwa 90.000 Menschen mussten die Krim verlassen.
Ein Appell zur Einigkeit gegen das Böse
In all diesen Jahren haben wir davor gewarnt, dass Putin nicht aufhören würde, dass er die besetzte Krim als militärische Basis für weitere Angriffe auf die Ukraine nutzen würde, und dies geschah 2022 auch, als er eine groß angelegte bewaffnete Aggression gegen die gesamte Ukraine entfesselte. Und das bedeutet Zehntausende von Toten, Hunderttausende von Verstümmelten und Millionen von Flüchtlingen.
Wird er bei der Ukraine aufhören, wenn er „erfolgreich“ ist? Wird er seine Aggression gegen Europa einstellen? Aus meiner Sicht, mit meiner Erfahrung, sind das rhetorische Fragen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass wir dem Bösen nur dann widerstehen können, wenn wir zusammenstehen.
Eskender Bariev ist Leiter des Krimtatarischen Ressourcenzentrums und Mitglied des Medschlis des krimtatarischen Volkes.
[1] Der Medschlis des krimtatarischen Volkes ist ein repräsentatives gewähltes Gremium des indigenen Volkes.
[2] Der „Staatsrat der Republik Krim“ ist das illegale Parlament der besetzten Krim