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Frankreich
Wählen in Zeiten des Coronavirus

Im Gespräch mit Freiheit.org erklärt unsere Frankreich-Expertin Carmen Descamps, wie es zu der niedrigen Wahlbeteiligung und Verluste für La République en Marche kommen konnte
Regionalwahlen in Frankreich
© picture alliance / abaca

Vergangenen Sonntag fand in Frankreich der erste Wahlgang der Kommunalwahlen statt. Die Wahlen sollten ein Meilenstein für Frankreichs Präsidenten Macron und die zweite Hälfte seiner Amtszeit werden. Die Ergebnisse am 15. und 22. März galten auch als entscheidend für die Zukunft seiner Partei La République en Marche. Bis sich das Blatt durch die schlagartige Verbreitung des Coronavirus in Frankreich wendete. Unsere Frankreich-Expertin Carmen Descamps analysiert die Situation.
 

Warum sind die Kommunalwahlen für La République en Marche (LaREM) und damit auch für den Präsidenten Emmanuel Macron so wichtig?

Hierzu muss man wissen, dass Frankreich insgesamt mehr als 35.000 Gemeinden zählt – in Deutschland haben wir weniger als ein Drittel davon. In allen diesen Gemeinden wurden nun die Stadt- und Gemeinderäte sowie die Bürgermeister gewählt, darunter auch das prestigeträchtige Bürgermeisteramt von Paris.

Die Kommunalwahlen waren in vielerlei Hinsicht ein Meilenstein und Stimmungstest für Macron und seine Partei. Letztere stellt zwar die Mehrheit im französischen Parlament, ist die größte Delegation innerhalb der Renew Europe Fraktion im Europaparlament und dort gleichzeitig auch die zweitgrößte französische Partei, jedoch fehlt es ihr derzeit noch an lokaler Verwurzelung. Seit den Wahlen 2017 und dem folgenden Erdrutschsieg Macrons und seiner Partei, dem eine Neuordnung der politischen Landschaft folgte, gab es keine weitere landesweite Wahl. La République en Marche besitzt damit noch keine lokalen Vertreter. Während Konservative und Sozialisten insgeheim auf ein Comeback hofften, versuchten sich die Rechtsextremen um Marine Le Pen (Rassemblement National) einmal mehr als (Protest-)Gegenpol zu Macron zu positionieren.

Es galt zu beweisen, dass der Präsident und die sein ambitioniertes Reformprogramm umsetzende Regierung weiterhin den Rückhalt der Bevölkerung haben, um ihren Kurs fortzuführen oder gegebenenfalls - mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2022 - anzupassen. Gerade die Gelbwestenbewegung und die anhaltenden Streiks gegen die Rentenreform hatten die französische Reformpolitik zuletzt massiv infrage gestellt. Trotz verbesserter Arbeitsmarktzahlen geht für zwei Drittel der Franzosen Macrons Politik an den Bedürfnissen und Sorgen des Volkes vorbei. LaREM-Bürgermeister sowie Vertreter im Gemeinde- und Stadtrat bieten die Chance, die Demokratie wieder „von unten“ zu stärken und vor Ort Vertrauen aufzubauen, da Franzosen ihren lokalen Vertretern und insbesondere den Bürgermeistern am meisten vertrauen. Kurzum: es geht nicht weniger als um einen Vertrauensgewinn sowie eine dauerhafte politische Verankerung der Partei durch die Etablierung auf lokaler Ebene. 


Ist das Kalkül aufgegangen und wie geht es nun nach dem ersten Wahlgang weiter?

Die Antwort ist schlichtweg nein. Unter normalen Bedingungen hätte die Rechnung Macrons funktionieren können. Jedoch hat die rapide Ausbreitung des Coronavirus das Blatt in der Woche vor dem ersten Wahlgang gewendet. Frankreich verzeichnet derzeit 9.134 Fälle, davon 264 Todesfälle (Stand 19.03.2020) und rangiert europaweit hinter Deutschland an vierter Stelle. Schaut man sich die um einige Tage vorausgegangene Entwicklung in Spanien an, war die Entscheidung, die Wahl unter diesen Vorzeichen weiterhin abzuhalten, äußerst fragwürdig. Während das öffentliche Leben in ganz Frankreich bereits stillstand, das heißt vor allem Bars, Restaurants und Theater bis Mitte April geschlossen sind, sollten Franzosen vergangenen Sonntag zur Wahl erscheinen und aus Hygienegründen zum Ausfüllen des Stimmzettels einen eigenen Kugelschreiber mitbringen. Dieser schwierige Spagat zwischen demokratischer Verantwortung und öffentlicher Hygienedisziplin trug dazu bei, dass viele Franzosen der Wahlurne fernblieben. Wenig überraschend zeichnete sich bereits gegen Mittag eine niedrige Wahlbeteiligung ab. Sie pendelte sich am Ende des Tages bei einem Rekordtief von knapp 45% ein, 20 Prozentpunkte unter dem letzten Vergleichswert von 2014. Teils aus Vorsicht, teils aus Protest, waren viele Wahlberechtigte den Urnen ferngeblieben.

Bei den Ergebnissen des ersten Wahlgangs zeichnete sich die Tendenz ab, dass die amtierenden Bürgermeister bestätigt wurden. Dies gilt vor allem für die Pariser Bürgermeisterin Anne Hildago (Parti Socialiste), die klar vor der konservativen Kandidatin und der drittplatzierten LaREM-Kandidatin und ehemaligen Gesundheitsministerin Agnès Buzyn landete. Dies liegt nicht nur an der Affäre um den ehemaligen LaREM-Kandidaten Benjamin Griveaux, der nach dem Bekanntwerden intimer Videos zurücktrat, und die darauffolgende ad hoc Aufstellung einer neuen Kandidatin, sondern ist auch als Quittung für Macron und die Regierung von Premierminister Edouard Philippe zu sehen. Diese Ergebnisse sind jedoch nur ein erster Indikator, valide Aussagen kann man erst nach dem zweiten Wahlgang treffen.

Direkt gewählt wurde unter anderem François Decoster, Bürgermeister der nordfranzösischen Stadt Saint-Omer und Präsident der Renew Europe Fraktion im Ausschuss der Regionen, mit einem sehr guten Ergebnis von 66%. Große Zugewinne erzielten bisher die Grünen, vor allem in Bordeaux, Lyon, Strasbourg, Rouen oder Lille. Das Rassemblement National verzeichnet kaum nennenswerten Veränderungen im Vergleich zu 2014 und gewinnt vor allem in seinen traditionellen Hochburgen Fréjus im Süden und Hénin-Beaumont im Norden. Zur Wahl waren auch einige Minister angetreten, darunter Premier Philippe in der Hafenstadt Le Havre. Ist wie in diesem Fall mit 43% keine Mehrheit im ersten Wahlgang erreicht, hätte er normalerweise kommenden Sonntag noch einmal antreten müssen. Während die Durchführung des ersten Wahlgangs vielfach kritisiert, aber letztlich vom Premier unter Verweis auf wissenschaftliche Berater beibehalten wurde, ist der zweite Wahlgang vom 22. März im Kontext der französischen Corona-Schutzmaßnahmen nun erst einmal verschoben wurden.

 

Welche Vorsichtsmaßnahmen plant Frankreich gegen die weitere Ausbreitung des Coronavirus ?

Präsident Macron äußerte sich hierzu am Montagabend in einer knapp zwanzigminütigen Rede im Staatsfernsehen. „Wir befinden uns im Krieg“, unterstrich er insgesamt sechsmal und hob den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind hervor. Das mag von außen pathetisch klingen, dient aber der Einigung des französischen Volks für die nun folgende, schwere Zeit „für jeden Einzelnen von uns“. Reden wie solche zeigen die Qualitäten des Krisenkommunikators Macron. Für seine erste Rede zur Coronakrise in der vorangegangenen Woche fanden ihn 66% der Franzosen überzeugend – Zustimmungswerte, die es lange nicht mehr für einen Präsidenten gab. Am Montagabend kündigte Macron, ohne es allerdings beim Wort zu nennen, eine zweiwöchige Ausgangssperre nach dem italienisch-spanischen Modell an; hierin reihen sich nun auch Österreich, Luxemburg und Belgien ein. Bürgerinnen und Bürger müssen Passierscheine mit dem Grund ihrer Fortbewegung mitführen, so sind nur noch unbedingt notwendige Ausgänge zur Versorgung erlaubt und der Sicherheitsabstand von 1,5m ist einzuhalten. Die Maßnahmen sind seit Dienstagmittag in Kraft, am Vortag wurden bereits Kindergärten, Schulen und Universitäten geschlossen. Gleichzeitig kündigte Macron ein umfassendes wirtschaftliches Notprogramm an, unter anderem den Erlass von Steuern und Sozialabgaben für Arbeitnehmer und Unternehmer in prekären Situationen. Auch die Fortführung der Rentenreform pausiert bis auf Weiteres. Macron stellte weiterhin die Verschiebung des zweiten Wahlgangs der Kommunalwahlen in Aussicht, das voraussichtliche Datum am 21. Juni muss allerdings noch vom Parlament bestätigt werden. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es schwer abzusehen und vorstellbar, wann Frankreich – ebenso wie andere EU-Länder – wieder zur Normalität zurückkehrt und inwiefern Macron die ambitionierten und für das Land wichtigen Reformen wiederaufnehmen kann.

 

Carmen Descamps ist Frankreich-Expertin und European Affairs Managerin im Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.