Policy Paper
Was der Afghanistan-Moment für Deutschland, die EU und die NATO bedeutet
Die westliche Staatengemeinschaft ist konfrontiert mit der Bilanzierung von zwanzig Jahren Global War on Terror. Der Terrorismus wurde nicht besiegt, die Verteidigung liberaler demokratischer Werte am Hindukusch konnte nicht verstetigt werden. Die westliche Allianz hat es nicht geschafft, einen dauerhaften Frieden in Afghanistan zu schaffen und eine freie und sichere Zukunft für die Afghanen zu unterstützen.
Angesichts des immer schnelleren Szenarienwechsels in der Politik und des sich rapide ändernden Weltgeschehens besteht die reale Gefahr, dass der Krieg in Afghanistan stillschweigend abgeschrieben wird und von der internationalen Tagesordnung verschwindet. Zum Zeitpunkt der Edition dieses Analysepapiers richtet sich die Aufmerksamkeit bereits auf den indopazifischen Raum, wo die neue trilaterale Sicherheitspartnerschaft AUKUS einen Riss zwischen den NATOMitgliedern verursacht hat, wie es ihn selten zuvor gegeben hat. Den Fokus auf Afghanistan gänzlich zu verlieren würde das strategische Versagen, das das Land wieder ins Chaos gestürzt hat, noch verschlimmern. Und könnte darüber hinaus dazu führen, dass die daraus resultierenden Sicherheitsbedrohungen für die gesamte Region, wenn nicht weltweit, unterschätzt wird. Und schließlich eine tiefgreifende Gelegenheit zu strategischem Lernen verpasst würde.
Der Abzug der letzten westlichen Truppen aus Afghanistan markiert das Ende des längsten Krieges, den die USA und ihre Verbündeten je geführt haben, und einer der längsten NATO-Missionen in der Geschichte. Schätzungen zufolge wurden zwischen 1 und 2,6 Billionen Dollar für den Krieg und die Wiederaufbauprojekte ausgegeben. Noch erschreckender sind die menschlichen Kosten. Die NATO hat 3.592 Soldaten verloren, das afghanische Militär und die Polizei haben 66.000 Opfer zu beklagen, und mehr als 47.000 afghanische Zivilisten verloren ihr Leben in diesem Konflikt. Trotz enormer Investitionen und noch größerer Verluste stehen wir nun vor der sehr realen Frage: Was wurde dennoch erreicht und was können wir lernen?
Das westliche Bündnis steht in der Verantwortung, sein Engagement in Afghanistan gründlich zu überprüfen. Die verschiedenen Phasen des Krieges müssen kritisch analysiert werden, ebenso wie die Faktoren, die zum sofortigen Zusammenbruch des fragilen Staates geführt haben. Wie der Titel dieser Publikation, Weltpolitikfähigkeit, andeutet, muss sich der Westen mit der Frage nach seiner Fähigkeit, als globaler Akteur Weltpolitik mitzugestalten, auseinandersetzen. Für Deutschland, die EU und die NATO bedeutet dies, dass strategische Perspektiven und Ziele sowie die Mittel zur Erreichung dieser Ziele klar definiert werden müssen. Nur durch eine ehrliche und offene Bewertung kann sichergestellt werden, dass die aus Afghanistan gezogenen Lehren zur künftigen Handlungsfähigkeit Europas auf der Weltbühne beitragen können.
In diesem Impulspapier werden bewusst unterschiedliche Perspektiven auf Afghanistan, das westliche Engagement und zukünftige Szenarien dargestellt. Alle Beiträge sind unabhängig voneinander zu betrachten; die Autorinnen vertreten jeweils ihre eigene Meinung. Unser Ziel ist es, zum Nachdenken anzuregen, Denkanstöße zu geben und konkrete Handlungsempfehlungen aufzuzeigen. Der Dialog zum Thema Weltpolitikfähigkeit wird uns noch weiter beschäftigen.
Das westliche Bündnis muss sich seiner Verantwortung stellen, sich ehrlich mit Fehlern auseinandersetzen und neue strategische Ziele und Mittel entwickeln, um sicherzustellen, dass sich das Afghanistan-Szenario nicht wiederholt. Die Ergebnisse des zwanzigjährigen Einsatzes zeichnen derzeit ein düsteres Bild. Es liegt an der westlichen Staatengemeinschaft, die sich jetzt abzeichnende humanitäre Katastrophe einzudämmen und dafür zu sorgen, die vorhandenen Teile des Fortschritts zu stärken und zu verbinden, damit sie zu einer besseren Zukunft beitragen können.