Peru
100 Tage Regierung Castillo:
In der letzten Woche hat Präsident Pedro Castillo die ersten 100 Tage seiner Regierung überstanden. Wie sieht seine Bilanz aus? Welche Entwicklungen, welche zukünftigen Tendenzen lassen sich in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erkennen?
Innen- und Außenpolitik
Schon die Übergangsphase nach den Wahlen vom 06. Juni zeichnete sich durch Turbulenzen und politische Unsicherheit aus.. Für den angehenden Präsidenten war es in dieser Zeit schwer, sich in die Regierungsgeschäfte einzuarbeiten. Insofern trat Pedro Castillo am 28. Juli, am Tag der 200-jährigen Unabhängigkeit Perus, sein Amt unter erschwerten Bedingungen an.
Allerdings trug „El Sombrero“, wie Castillo im Volksmund nach seiner Vorliebe für überdimensionierte Hüte genannt wird, unmittelbar nach Amtsantritt mit seinem Verhalten mit dazu bei, dass sich eine Normalisierung und Beruhigung in Peru nicht einstellen konnte. So sorgte schon die Vorstellung seines ersten Kabinetts für heftige Gegenreaktionen. Mit Guido Bellido als Premierminister stellte er nicht nur einen bekennenden Marxisten und engen Vertrauten des in mehrere Korruptionsaffären verwickelten Parteivorsitzenden Wladimir Cerrón an die Spitze seines Kabinetts, auch die übrige Ministerriege rief in der Presse und Öffentlichkeit starke Kritik hervor. Mit Héctor Bejar bestellte er einen 85-jährigen Ex-Guerillakämpfer als Außenminister, der sich öffentlich zu seiner engen Freundschaft mit Che Guevara bekannte und das Maduro Regime als demokratisch bezeichnete. Arbeitsminister Iber Maravi sah und sieht sich juristischen Schritten hinsichtlich einer Verwicklung und Verbindung zu Terrorakten in den 80ziger Jahren und der Verteidigung der Terrororganisation „Leuchtender Pfad“ ausgesetzt. Insgesamt laufen gegen 11 von 18 Ministern seines Kabinetts Anklagen oder Verfahren, die zwischen Bestechung, Raub, organisiertem Verbrechen bis hin zu häuslicher Gewalt reichen.
Ein weiterer Kritikpunkt der Opposition und weiter Teile der Medien waren die mangelnde fachliche und teilweise auch formale Qualifikation der neu ernannten Ministerriege. Trotzdem gelang es Präsident Castillo, für seine umstrittene Personalpolitik im Kongress das obligatorische Vertrauensvotum zu gewinnen, wenngleich es zu heftigen Diskussionen unter den Abgeordneten bei der öffentlichen Anhörung im Kongress kam.
Nachdem Castillo seinen äußerst umstrittenen Außenminister schon nach wenigen Tagen zugunsten des anerkannten Karrierediplomaten Oscar Maurtua auswechseln musste, sah er sich gezwungen, am 06. Oktober eine größere Kabinettsumbildung vorzunehmen, die neben 7 Fachministern auch Guido Bellido als Premierminister betraf. Vorausgegangen waren wochenlange Diskussionen über die Zusammenarbeit und das Verhältnis von Regierung und Kongress. Bellido drohte mehrfach, dass Präsident Castillo den Kongress auflösen könnte und wolle, wenn dieser nicht den Regierungsvorlagen, insbesondere der Einrichtung einer Verfassungsgebenden Versammlung zustimme, wohingegen Präsident Castillo stets erklärte, diesen Streitpunkt nicht zum Anlass nehmen zu wollen, um die Vertrauensfrage zu stellen und nach deren Ablehnung den Kongress aufzulösen.
Ausschlaggebend war dann jedoch die Kontroverse um den mit Terrorismus in Verbindung gebrachten Arbeitsminister Maravi. Nachdem Premierminister Bellido verkündete, dass er den Rücktritt von Maravi angenommen habe, dieser aber Stunden später selber öffentlich erklärte, seinen Rücktritt weder Bellido noch dem Präsidenten angeboten zu haben, war das Maß voll. Castillo stellte klar, dass er als Präsident das alleinige Recht habe, Minister zu ernennen und zu entlassen und nutzte diesen Anlass zu der erwähnten Kabinettsumbildung. Dabei tauschte er einige umstrittene Minister, unter ihnen auch Maravi, aus, doch sorgte er mit der Ernennung des neuen Innenministers für den nächsten Skandal. Luis Baranzuela ist langjähriger Anwalt des Parteivorsitzenden der Präsidenten-Partei „Peru Libre“, Wladimir Cerrón, der sich wie schon erwähnt, mehreren Anklagen und Haftbefehlen ausgesetzt sieht. Baranzuela folgte einer formalen Vorladung des Kongresses zu diesen Vorwürfen nicht, so dass es nur verständlich war, dass der Kongress sich weigerte, dem neuen Kabinett sein Vertrauen auszusprechen. Die ursprünglich für den 25. Oktober geplante Abstimmung im Kongress wurde vertagt und auf den 04. November verschoben, mit der Begründung, dem Präsidenten noch einmal Bedenkzeit einzuräumen.
Am 01. und 02. November kulminierte der Skandal um Baranzuela. Obwohl er als zuständiger Innenminister Partys und größere Feiern zu dem auch in Peru populären Halloweenfest verboten hatte, konnte man tags darauf aus der Presse entnehmen, dass er in seinem eigenen Haus mit zahlreichen Gästen eine Party gefeiert hatte. Letztlich blieb ihm nach heftiger öffentlicher Kritik nur der Rücktritt. Nach einer hitzigen Diskussion am 04.11. konnte Premierministerin Vasquez die Vertrauensabstimmung im Kongress erhalten. Interessant ist jedoch, dass selbst Teile seiner eigenen Partei Peru Libre gegen das neue Kabinett des Präsidenten stimmten. Insbesondere die Anhänger Wladimir Cerróns, verkündeten öffentlich, gegen den Präsidenten zu stimmen, weil sie in dem Kabinettswechsel eine politische Verschiebung nach rechts sehen, die ihrer angekündigten Linken Politik und dem Willen der Wähler widerspräche. Somit ist Castillos Kabinett noch mehr auf das Entgegenkommen der Oppositionsparteien angewiesen.
Aus liberaler Sicht hat das chaotische Personal- bzw. Ministerkarussell nur zwei positive Aspekte: neben der Bildung einer im Vergleich zum Ursprungskabinett nun doch deutlich gemäßigteren und kompetenteren Regierungsmannschaft hat diese Entwicklung maßgeblich dazu beigetragen, dass die Oppositionsparteien mittlerweile eine etwas besser koordinierte Zusammenarbeit an den Tag legen. Der Kongress stellt sich zumindest in der aktuellen Situation als ein ernstzunehmendes Legislativorgan und nicht wie bisher als völlig heterogene Masse vieler Einzelakteure dar.
Außenpolitisch verfolgt die neue Administration einen klaren Linkskurs. So berät der ehemalige bolivianische Präsident Evo Morales weiterhin Pedro Castillo. Im Rahmen des lateinamerikanischen Gipfels in Mexiko kam es auch zu einem zunächst geheim gehaltenen Treffen zwischen Castillo und seinem venezolanischen Amtskollegen Maduro.
Wirtschaft
Selbst wenn man die Beschleunigung der Impfkampagne und die Beibehaltung von Julio Velarde als Chef der bisher unabhängigen peruanischen Zentralbank als positive Aktionen des neuen Präsidenten beurteilen muss, so fällt die 100 Tagebilanz im Wirtschaftssektor insgesamt negativ aus. Die seit Amtsantritt weiterhin pessimistischen Einschätzungen zum Wirtschaftswachstum und die starken Kursschwankungen des peruanischen Sol im Vergleich zum US-Dollar sind deutliche Zeichen einer zunehmend negativen Stimmung und Verunsicherung der Wirtschaft. Die Gründe für diese Entwicklung ist der wirtschaftspolitische Schlingerkurs Castillos.
In seiner Regierungserklärung bei Amtsantritt kündigte der Präsident eine Reihe von Maßnahmen für die ersten 100 Tage an. Wichtige Eckpfeiler waren die Reaktivierung der Beschäftigung und der Volkswirtschaft, die Einleitung einer zweiten Agrarreform und die Einführung einer neuen Steuer auf Bergbauprofite. Die Umsetzung hält sich bisher allerdings in Grenzen. Obwohl einige Palliativmaßnahmen wie Kraftstoffsubventionen eingeleitet wurden, ist die Reaktivierung der Wirtschaft noch immer kaum in Gang gekommen, unter anderem weil Förderung stabiler Arbeitsplätze vernachlässigt oder konterkariert wurde. Mit der eingeleiteten Arbeitsmarktreform, die das Arbeitsrecht noch unflexibler macht, wird die Schaffung formeller Beschäftigung weiterhin verhindert. Die Vorarbeiten für die zweite Agrarreform fehlen nahezu völlig. Auch die widersprüchlichen Ankündigungen der Regierung, Verstaatlichungen bestimmter Wirtschaftszweige einzuleiten, während der Präsident zugesagt hatte, Privateigentum unangetastet zu lassen, sorgen für Verunsicherung.
Gesellschaftspolitisch
Laut der monatlichen IPSOS-Studie sind die Zustimmungswerte für Präsident Castillo trotz aller Turbulenzen zwar innerhalb der letzten drei Monate von 38 auf 42 gestiegen, aber ebenso stieg die Ablehnung von 45 auf 48%. Für sein „Lieblingsprojekt“, einer Verfassungsänderung unter Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung findet Castillo mit 15% wenig Zuspruch. Auch andere Studien zeigen, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Ausarbeitung einer neuen Verfassung nicht als wichtigste Aufgabe der Regierung ansieht.
Positive Zustimmungswerte hat Castillo nur in ländlichen Gebieten in den urbanen Gebieten schneidet er dagegen schlecht ab. Hauptfaktor ist sein Eintreten für die Bevölkerung außerhalb Limas, die sich aufgrund der zentralistischen Struktur Perus in vielen Politikbereichen vergessen und nicht repräsentiert fühlt.
Armut und Kriminalität haben in den letzten drei Monaten stark zugenommen, im Zeitraum von Februar bis September sind alleine in Lima über 70.000 Raubüberfälle oder Einbrüche gemeldet worden, die Dunkelziffer, d.h. die nicht gemeldeten Fälle werden auf die gleiche Dimension geschätzt. Als Reaktion darauf hat das Regierung Castillos das zu Beginn der COVID Krise verabschiedete Dekret reaktiviert und dem Militär polizeiliche Kontrollaufgaben übertragen.
Fazit
Insgesamt gesehen fällt die 100 Tage Bilanz Castillos deutlich negativ aus. Die Verunsicherung in der Bevölkerung und der Wirtschaft ist stark angestiegen. Für die wichtigsten und dringlichsten Probleme, die Reaktivierung der Wirtschaft, Armutsbekämpfung und Ausbau der Infrastruktur wie Beseitigung der Defizite im Bildungsbereich (die Schulen sind größtenteils immer noch komplett geschlossen) hat die Regierung bisher außer Ankündigungen keine schlüssigen Konzepte vorgelegt. Auch der Kongress hat seine Verantwortung und Aufgaben bisher nicht wahrgenommen und beschränkt sich darauf, die Regierung zu kritisieren. Alternative Lösungsvorschläge sind auch hier Mangelware. Zugestehen muss man dem Präsidenten allerdings, dass er augenscheinlich von seinem ursprünglichen, sehr dogmatischen und radikalen Programm mehr in Richtung Mitte gerückt ist. Durch die in der Vertrauensfrage deutlich gewordene interne Zerrissenheit seiner eigenen Partei Peru Libre ist er nun noch mehr auf eine Zusammenarbeit mit den Oppositionsparteien angewiesen. Angesichts deren Heterogenität ist das allerdings keine unmögliche Aufgabe. Außerdem könnte das zu einem gemäßigteren Kurs beitragen, der die politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten verringert. Zu wünschen wäre es dem geplagten Land.