Argentinien
Der Pate und das Opferlamm
Der Versuch eines Attentats auf Argentiniens Vizepräsident Cristina Fernández de Kirchner Anfang September: Er sah undramatisch aus, hätte die seit Wochen äußerst angespannte Stimmung im Erfolgsfall aber wahrscheinlich endgültig explodieren lassen. Vor allem ein Video verbreitete sich schnell über die neuen und die klassischen Medienkanäle in alle Welt: Kirchner erreicht ihr Haus im noblen Upper-class-Viertel Recoleta im Zentrum von Buenos Aires, es ist Abend, eine Menschenmenge erwartet sie, jemand, den die Kamera nicht erfasst, berührt sie für den Bruchteil einer Sekunde mit einem schwarzen Revolver im Gesicht. Sie geht in Deckung, der Schütze scheint die Flucht zu ergreifen. Geschossen wird nicht, getötet wird niemand. Was zurückbleibt, sind vor allem Fragen.
Einige wenige können in den folgenden Stunden geklärt werden. Beim Täter handelt es sich um einen 35-jährigen Straßenverkäufer aus Brasilien, der schon seit über zwanzig in Argentinien lebt. Er versuchte, nach der Attacke zu entkommen, konnte aber gefasst werden. Viele indes blieb zunächst unklar, was Anlass zu Spekulationen und Mythenbildung bot. Ein Teil von Kirchners politischen Gegnern war sich sicher, dass es sich um eine Inszenierung handle, um den Versuch, eine Märtyrerin ohne Todesfall zu erschaffen. Ihre Anhänger hingegen stellten die politische Opposition und die regierungskritischen Medien an den Pranger, die die Stimmung aufgeheizt und aus einem Kritiker einen Attentäter gemacht hätten. Die Spitzen anderer linker Regierungen in Lateinamerika zeigten sich umgehend solidarisch. Mittlerweile hat sich der Verdacht erhärtet, dass der Täter zwar ein politisches Motiv hatte, aber wohl ein Einzeltäter war, ohne organisierte Unterstützer oder Netzwerke im Hintergrund.
Besonders absurder Teil einer Farce
Das Attentat hätte, wenn es nicht gescheitert wäre, den Höhepunkt einer Tragödie dargestellt. So aber glich es eher der besonders absurde Teil einer Farce. Selbst die aber kann noch in einer großen Katastrophe enden. Schon die Vorgeschichte enthält Sprengstoff zur Genüge.
Gegen Cristina Kirchner läuft ein Korruptionsverfahren. Im August hatte die Staatsanwaltschaft zwölf Jahre Haft für die Vizepräsidentin gefordert, ein lebenslanges Verbot, bei Wahlen zu kandidieren, und eine Strafzahlung. Der Vorwurf: Kirchner soll in den Jahren der Präsidentschaft ihres Ehemannes Nestor (2003-2007) und in ihrer eigenen Zeit an der Staatsspritze (2007-2015) umgerechnet eine Milliarde Dollar veruntreut haben. Das Geld soll in zum Teil fiktive staatliche Bauprojekte in Santa Cruz, der Heimatprovinz von Nestor Kirchner im Süden Argentiniens, geflossen sein.
Nicht gleich an die nächstbeste Haftanstalt überstellen
Umfang und Härte dieses Plädoyers waren bemerkenswert, weil man die Justiz in Argentinien bislang für eher handzahm gegenüber dem regierenden peronistischen Parteienbündnis „Frente de Todos“ (sinngemäß „Volksfront“) und ihrem Führungspersonal halten musste. Würden die Richter der Staatsanwaltschaft folgen, könnte man Kirchner zwar nicht gleich an die nächstbeste Haftanstalt überstellen – aufgrund ihres politischen Amtes genießt sie derzeit Immunität. Es stimmt allerdings hoffnungsfroh, dass die stellvertretende Staatschefin sich nicht mehr so einfach hinter ihrer politischen Position und ihrem mythenumwobenen Namen verstecken kann.
Die Fakten sind derart unzweideutig, dass Beobachter fest damit rechnen, dass die Richter gar nicht anders können, als ein hartes Urteil zu fällen. Mit einem erstinstanzlichen Richterspruch wird bis Ende dieses Jahres gerechnet. Er kann vor dem Kassationsgericht angefochten werden. Das letzte Wort hat der Oberste Gerichtshof. Bis der sich äußerst, dürfte auch das kommende Jahr verstrichen sein. Im Oktober 2023 sollen in Argentinien Präsidentschafts- und Kongresswahlen stattfinden. Auch wenn das endgültige Urteil erst danach gefällt wird, dürfte schon eine Verurteilung durch die erste Instanz Kirchners Image einen Schlag versetzen, der weitere politische Ambitionen zunichtemacht.
Grellfarbene Bugfigur der populistischen Linken
Was genau wird Kirchner, der lateinamerikaweit bekannten grellfarbenen Bugfigur der populistischen Linken, konkret vorgeworfen? Ein Name, der in diesen Wochen häufig fällt, ist der Lázaro Báez‘. Bis zum Einzug von Néstor Kirchner in die Casa Rosada, den Amtssitz des argentinischen Präsidenten im Herzen von Buenos Aires, führte Báez das wenig glamouröse Leben eines Bankangestellten in der Provinz Santa Cruz. Kaum war Kirchner im Amt, wechselte Báez in die Bauwirtschaft und gründete ein eigenes Unternehmen: Austral Construcciones (AC).
In den Folgejahren erhielt AC knapp achtzig Prozent aller öffentlichen Aufträge in Santa Cruz. Damit nicht genug: Rund die Hälfte der Projekte blieb unvollendet oder wurde gar nicht erst in Angriff genommen. 2015, als der konservativ-liberale Mauricio Macri die Präsidentschaftswahlen gewann und sich die Peronisten auf den Oppositionsbänken wiederfanden, wurde AC aufgelöst, quasi über Nacht. Im Raum steht nun der Verdacht, dass AC-Chef Báez lediglich ein Statthalter des Ehepaars Kirchner war, der ihnen dabei half, über Jahre hohe Summen staatlicher Gelder in die eigenen Taschen zu leiten.
Leicht durchschaubarer rhetorischer Kniff
Nestor Kirchner verstarb 2010. Seine Frau, sonst eher eine Kombination aus Primadonna und nicht eben von Selbstzweifel verfolgter Volkstribun, ist mittlerweile in die Defensive geraten. Sie oszilliert zwischen Nervosität und blanker Panik. In einer Fernsehansprache am Tag nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft Mitte August greift sie zu einem probaten und deshalb leicht durchschaubaren rhetorischen Kniff: Justiz und Medien hätten sich gegen sie verschworen, sie selbst sei nicht Täter, sondern Opfer. Ihre Verurteilung stehe bereits fest. Angriffe gegen sie seien Angriffen gegen das Erbe des Peronismus und damit letztlich gegen das ganze argentinische Volk.
Ihre Anhänger rief Kirchner zu öffentlichen Sympathiebekundungen auf. Zumindest die Hoheit über die Straßen will sie behalten. Schnell wurde Recoleta, das Wohnviertel der Vize, zum Epizentrum von Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen Kirchner-Unterstützern und -Gegnern. Immer wieder musste die Stadtpolizei eingreifen. Sie untersteht Horacio Larreta, dem Bürgermeister der Hauptstadt, der selbst im kommenden Jahr Präsident werden will, auf dem Ticket der antiperonistischen Opposition. Die Dynamik der Proteste könnte seine Karriere-Ambitionen ausbremsen.
Indirekte Aufforderung zum Mord
Den eigentlichen Tiefpunkt der politischen Kultur in diesen Wochen hat allerdings Präsident Alberto Fernández zu verantworten. Im Abendprogramm eines Fernsehsenders hat er den Fall des 2015 aller Wahrscheinlichkeit nach ermordeten Staatsanwalts Alberto Nisman mit den gegenwärtigen Ermittlungen gegen Cristina Kirchner in Verbindung gebracht. Nisman habe Suizid begangen. Er hoffe, so das demokratisch gewählte Staatsoberhaupt im Tonfall eines Mafiapaten weiter, dass den ermittelnden Staatsanwalt nicht dasselbe Schicksal ereile. Eine indirekte Aufforderung zum Mord an einem ranghohen Funktionär der Justiz: ein Skandal der Sondergüte.
Lässt man den Zivilisationsbruch, den das Fernández-Statement bedeutet, für einen Moment außer Acht, so ist die Tatsache, dass sich der Präsident vor seine Stellvertreterin stellt, bemerkenswert. Das Verhältnis zwischen den beiden gilt seit Monaten als zerrüttet. Sie sollen nicht mal mehr miteinander sprechen. Gründe dafür gibt es zahlreiche. Einer davon: Kirchner moniert, der Präsident mache keinerlei Anstalten, sie zu begnadigen. Begnadigungen kämen, so der Staatschef, für ihn grundsätzlich nicht in Frage, da sie ein Erbe der Monarchie sei.
Der Heilige Vater war not amused
Anfang September dann das gescheiterte Attentat. Kirchners Getreue zeigten einmal mehr ihr wahres Gesicht und machten sich sogleich für die Beendigung des Korruptionsprozesses stark. Die Vizepräsidentin hätte den Hauch des Todes gespürt; ein Gang vor den Richter sei ihr emotional nun schlichtweg nicht mehr zuzumuten. Wer so spricht, dem fehlt der letzte Funke von Respekt vor den Prinzipien des Rechtsstaats. Gleichzeitig sieht sich die Opposition durch immer neue Vorhaltungen in der Defensive. In den Tagen nach der Attacke lud der Peronismus zu einer großen Kundgebung in der Hauptstadt ein. Statt auch die Opposition einzubinden und damit ein klares Zeichen für eine landesweite politische Einheit abzulegen, blieb man lieber unter sich.
Eingeladen war die Opposition aber zu einer feierlichen Friedensmesse, die die Spitze des Kirchnerismus eine gute Woche nach dem Attentat in der Basilika von Luján zelebrieren ließen, dem wichtigsten Wallfahrtsort des Landes eine Autostunde westlich von Buenos Aires. Die Opposition schlug die Einladung aus. Wie sie erwartet hatte, wurde die Feier zu einer religiös verbrämten Mitleidsveranstaltung für die eigentlich nicht eben für ihre Katholizität bekannte Vizepräsidentin. Gepalten war nunmehr das argentinische Episkopat. Nach heftiger Kritik einiger Amtsbrüder leistete der verantwortliche Erzbischof Abbitte. Der Vorfall ging trotzdem bis nach Rom, wo derzeit ein Argentinier auf dem Stuhl Petri das Sagen hat. Dem Vernehmen nach war auch der Heilige Vater not amused.