Argentinien
Die liberale Welle
Argentiniens Liberale dürfen sich freuen. Obwohl sie nicht überall im Land geschlossen auftraten, haben sie bei den Vorwahlen sehr gut abgeschnitten. Die regierenden Peronisten erlitten hingegen eine schwere Niederlage.
Am Sonntag fanden in Argentinien verbindliche Vorwahlen statt, die sogenannten PASOs (Primarias Abiertas Simultáneas Obligatorias; zu Deutsch: offene, zeitgleiche und obligate Vorwahlen). Sie endeten mit einem Triumph für die Liberalen. Den regierenden Peronisten bescherten sie indes einen veritablen Scherbenhaufen. Zwei Jahre nach der Wahl von Präsident Alberto Fernández erlitt das ihn unterstützende Parteienbündnis Frente de Todos (frei übersetzt: Volksfront), kurz Frente, eine deutliche Niederlage. Sie war die Quittung für die anhaltende schwere wirtschaftliche Misere, für politische Skandale und den weithin als konzeptlos empfundenen Kampf gegen die Covid-Pandemie.
Abgestimmt wurde am Sonntag zunächst darüber, welche Listen mit welchen Kandidaten an den eigentlichen Wahlen in zwei Monaten teilnehmen dürfen. Am 14. November sind die Argentinier erneut zu den Urnen gerufen. Dann werden 127 der 257 Abgeordneten des Parlaments sowie ein Drittel der 72 Senatorinnen und Senatoren neu bestimmt, die Abgeordneten für vier, die Senatsvertreter und -vertreterinnen für sechs Jahre. Jede Provinz schickt - unabhängig von ihrer Größe – drei Senatoren in den Senat nach Buenos Aires. Im Abgeordnetenhaus hingegen, orientiert sich die Anzahl der Parlamentarier an der Einwohnerzahl der jeweiligen Provinz. Im November werden aber auch die Provinzparlamente und -senate, Gouverneure und Bürgermeister gewählt.
Neben Signalwirkung auch bereinigender Effekt
Bei den Wahlen am 12. September sind die Parteien und Parteienbündnisse mit Kandidatenlisten angetreten. Mindestens 1,5 Prozent der Stimmen muss eine Liste bei den Vorwahlen in ihrem Wahlkreis erringen. Dann kann sie auch bei den eigentlichen Wahlen antreten. Das klingt nach wenig. Für die vielen Kleinstparteien stellt allerdings schon diese Schwelle eine Gefahr dar. Die Vorwahlen haben also neben ihrer Signalwirkung auch einen bereinigenden Effekt.
In der Hauptstadt Buenos Aires – wie Berlin eine Art Stadtstaat – hatte es das oppositionelle Parteienbündnis Juntos por el Cambio („Gemeinsam für den Wechsel“), kurz Juntos, nicht geschafft, sich auf eine gemeinsame Liste für die Vorwahlen zu verständigen. Das lag nicht zuletzt an der weltanschaulichen Heterogenität des Bündnisses: Es besteht aus der traditionsreichen UCR (Unión Cívica Radical; Radikale Bürgerunion), der sozialliberalen CC (Coalición Cívica; Bürgerbündnis) und der sozialkonservativen PRO (Propuesta Republicana; Republikanisches Angebot), der selbstbewussten Partei des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri. Am Ende kandidierte Juntos mit drei verschiedenen Listen: die eine angeführt von María Eugenia Vidal, Ex-Gouverneurin der Provinz Buenos Aires, die zweite von Ricardo López Murphy, ehemaliger Wirtschafts- und Verteidigungsminister, die dritte von Ex-Gesundheitsminister Adolfo Luis Rubinstein.
Identifikationsfigur der netzaffinen Millennials und Post-Millennials
López Murphy, langjähriger Stiftungspartner und vormaliger Vorsitzender von RELIAL (Red Liberal de América Latina; Liberales Netzwerk Lateinamerika), ist der Vertreter der liberalen Strömung innerhalb der Juntos-Familie. Zusammengenommen erhielten die drei Juntos-Listen am Sonntag gut 48 Prozent der Stimmen. Rund zwei Drittel davon fielen auf Vidals Liste, rund ein Viertel auf López Murphys, der Rest auf Rubinsteins. Im November tritt Juntos mit einer gemeinsamen Liste an. Angeführt wird sie von Vidal. López Murphy kandidiert auf Platz 4. Erreicht die gemeinsame Liste ein ähnlich gutes Ergebnis wie die drei am Sonntag zusammen, ist ihm der Einzug ins Abgeordnetenhaus sicher.
Mit einer eigenen Liste (La Libertad Avanza; Die Freiheit geht voran) war der libertäre Wirtschaftswissenschaftler, Social-Media-Star und Populist Javier Milei* in der Stadt Buenos Aires angetreten. Er gilt als eine wichtige aber auch umstrittene Identifikationsfigur der netzaffinen Millennials und Post-Millennials. Aus dem Stand erreichte er knapp 14 Prozent – deutlich mehr als ihm in den Vorhersagen zugetraut wurde.
In der Provinz Buenos Aires, die die gleichnamige Stadt umschließt, hat das peronistische Regierungslager eigentlich seine Hochburg. Dort war seine Niederlage besonders empfindlich. Die Provinz ist mit rund 16 Millionen Einwohnern die größte Argentiniens und der industrielle Speckgürtel der Stadt. Trotz der traditionellen Vormachtstellung des Peronismus fiel die Todos-Liste mit knapp 34 Prozent hinter die beiden Juntos-Liste zurück, die zusammen knapp 38 Prozent der gültigen Stimmen erreichten – eine Sensation. José Luis Espert, liberaler Ökonom und Präsidentschaftskandidat von 2019, holte mit seiner Liste Avanza Libertad (Die Freiheit voran; nicht zu verwechseln mit La Libertad Avanza) aus dem Stand knapp fünf Prozent. Auch dieser auf den ersten Blick niedrige Wert würde im November für einen Einzug ins Abgeordnetenhaus reichen und den Debatten dort einen weiteren markanten liberalen Akzent verpassen.
Den Stab auch über seine Präsidentschaft gebrochen
Staatschef Fernández räumte am Wahlabend die Niederlage seines Todos-Bündnisses ein. Zwar steht er selbst in diesem Jahr gar nicht zur Abstimmung. Die Wähler haben aber vor allem den Stab über die Bilanz seiner Präsidentschaft gebrochen. Die ist verheerend: Rund 115.000 Covid-Tote und 5,2 Millionen Infizierte bei rund 45 Millionen Einwohnern, dazu ein Einbruch der Wirtschaftsleistung um zwölf Prozent – im globalen Durchschnitt sind es rund sechs. Inflation und Verschuldung sind hoch. Eine Entspannung der Situation ist nicht in Sicht. Zu diesen strukturellen Problemen gesellte sich ein handfester politischer Skandal: Im Wahlkampf tauchte ein Foto in den sozialen Medien auf, das den Präsidenten bei der Geburtstagfeier seiner Frau rund ein Jahr zuvor inmitten einer ausgelassenen Schar von Gästen zeigt, in einem Raum seiner Residenz und ohne Mund- und Nasenschutz – auf dem zeitlichen Höhepunkt der Pandemie, als Kontakte und Veranstaltungen dieser Art unter Strafandrohung verboten waren. Selbst seine Anhänger schäumten.
Die Börse feierte das Resultat des Wahltags – um zehn Punkte ging sie nach oben. Auch die Liberalen dürften sich beglückwünscht haben. Gleichwohl: Gewonnen ist zunächst nur die erste Etappe. Die eigentliche Entscheidung fällt im November. Bis dahin muss die Hoffnung auf eine überzeugende politische Alternative zum Peronismus und seinem Projekt der Staats- und Gesellschaftsparalyse wachgehalten werden.
Dr. Lars-André Richter leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) in Buenos Aires. In seinen Zuständigkeitsbereich fallen die Länder Argentinien und Paraguay. Marcelo Duclos ist Mitarbeiter im FNF-Büro Buenos Aires.
*Die Stiftung distanziert sich von Inhalt und Politikstil von Javier Milei, da sie nicht dem Liberalismus-Verständnis der Stiftung entsprechen.