Wahlen
Eine Ermüdung der Demokratie? Bulgarien vor den Wahlen
Bulgarien steht vor den dritten Parlamentswahlen dieses Jahres, nachdem die ersten beiden Durchgänge keine klare Mehrheitsbildung ergeben haben. Gleichwohl dürften die Reformer im Aufwind bleiben. Ebenso finden am Wochenende Präsidentschaftswahlen statt – doch hier spricht alles für einen Sieg des Amtsinhabers. Die Deutsche Welle sprach im Vorfeld der Wahlen mit FNF-Projektleiter Martin Kothé in Sofia – die Fragen stellte Christopher Nehring:
DW: Wird es dieses Mal zu einer Regierungsbildung kommen und welche Koalition hat die besten Chancen?
Martin Kothé: Ich bin skeptisch, dass es diesmal klappen wird mit der Mehrheitsbildung. Denn wie schon in den vorangegangenen Wahlen gilt: Es muss nicht nur der Graben zwischen den Altparteien und den Reformkräften überwunden werden, sondern auch die neuen Parteien sind sich untereinander nicht immer grün. Und die Verfassung zwingt die Parteien nicht zu einer Mehrheitsfindung – anders, als wir das von Deutschland kennen.
DW: Den Sozialisten könnte bei dieser Wahl eine entscheidende Rolle zukommen – kann eine Reformregierung mit der BSP funktionieren?
Martin Kothé: Von den Altparteien sind die Sozialisten sicher am ehestens geeignet, sich mit den Reformkräften zusammenzuschließen. Aber sie sollten auf ihre Anschlussfähigkeit achten. Jüngst haben sie ihre Ablehnung der Istanbul-Konvention deutlich gemacht – für mich sieht das nicht nach Reformbereitschaft aus. Wieviel Fortschritt kann man von einer Partei erwarten, die es in Ordnung findet, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt?
DW: Prognosen sehen GERB als Wahlsieger, doch die Partei ist isoliert – sehen Sie ein Szenario für die Rückkehr Boyko Borrisows?
Martin Kothé: Wahrscheinlich wird Borrisows GERB-Partei wieder stärkste Kraft werden – aber eben nicht so stark, dass es für eine Mehrheitsbildung reicht. Ich glaube, der langjährige Ministerpräsident hat politisch die Kraft verloren, eine Gestaltungsmacht im Lande zu sein. Aber er hat womöglich immer noch die Kraft, einen Neuanfang empfindlich zu stören. Aus meiner Sicht wäre das für Bulgarien sehr bedauerlich.
DW: Rumen Radew sieht bei der Präsidentschaftswahl wie der sichere Sieger ist, gibt es überhaupt noch eine Chance für einen anderen Kandidaten?
Martin Kothé: Ich sehe Rumen Radev in der Tat vorn. Und weil das alle hier so sehen, steht zu befürchten, dass die Wahlbeteiligung schwach ausfallen wird. Keine gute Aussichten.
DW: Die Doppel-Wahlen sind die vierten nationalen Wahlen dieses Jahr – machen sich langsam Ermüdungserscheinungen, Glaubwürdigkeitsverluste oder Resignation in der Bevölkerung breit?
Martin Kothé: In der Tat: Ich fürchte, die bulgarische Verfassung macht die Demokratie müde. Es wäre wohl besser, wenn die Verfassung mehr Druck auf die Parteien ausüben würde, sich zu einigen und dafür auch Gegensätze zu überwinden. Denn mathematisch sind die Mehrheiten ja da. Sie lassen sich nur politisch nicht umsetzen.
DW: Besteht die Gefahr, dass Bulgarien zu einer präsidialen Republik und Radew der neue starke Mann wird? Befinden wir uns jetzt in einer politischen Krise oder einer Übergangszeit?
Martin Kothé: Ich sehe diese Gefahr nicht. Bulgarien erlebt eine Krise der Parteien, nicht eine Krise des Staates. Land und Gesellschaft sind stabil, meine ich. Und eine Mehrheit setzt auf Veränderung. Das ist die Grundstimmung, die die Menschen in Bulgarien durch die hartnäckigen Proteste des Sommer 2020 selbst geschaffen haben. Davor sollten die Parteien Respekt haben – Respekt vor dem eigenen Volk.
DW: Die Corona-Pandemie ist eines der bestimmenden Themen momentan, täglich sterben hunderte von Leuten. Welche Bedeutung hat das für die Wahlen?
Martin Kothé: Ich finde, zu viele Leute beschweren sich über die Corona-Politik, aber lassen sich trotzdem nicht impfen. Dieser Widerspruch macht mich ratlos. Denn letztlich hat jeder Bürger in Bulgarien die Möglichkeit, sich durch Impfung wirksam gegen Corona zu schützen. Und diese Eigenverantwortung kann einem niemand abnehmen, das ist nicht allein Sache der Politiker.
DW: Corona-Management, Justizreform, Plan für die EU-Gelder – die Übergangsregierung hat viele große Baustellen – wie gut ist ihre Bilanz?
Martin Kothé: Die Themen liegen auf der Hand, und es geht in der Tat um den Kampf gegen die korrupten Strukturen und eine wirksame Corona-Politik. Die Leute wollen Wandel, aber sie bekommen Stillstand. Ich mache dafür weniger einzelne Minister der Übergangsregierung verantwortlich, sondern wie gesagt eher die Verfassung, die es erlaubt, ständig neue Übergangsregierungen hervorzubringen, statt neue Mehrheiten in Verantwortung zu zwingen. Aber auf diese großen Fragen muss Bulgarien selbst Antworten finden. Und ich weiß, das geht nicht von heute auf morgen.
DW: Wie ist Ihre Einschätzung zu der neuen Partei „Wir setzen den Wandel fort“?
Martin Kothé: Die beiden Protagonisten von „Wir führen den Wandel fort“ – Kiril Petrow und Asen Wasilew - meinen es ernst, ist mein Eindruck. Sie sind kompetent und fühlen sich als Patrioten zuallererst ihrem Land verpflichtet. Ihnen fehlt andererseits Erfahrung und eine Verankerung in der bulgarischen Politik. Auch sehe ich das strategische Risiko, dass „Wir führen den Wandel fort“ nicht zusätzliche Wähler für den Wandel mobilisiert, sondern Stimmen von den anderen Reformparteien abzieht. Damit wäre niemand geholfen, der sich einen Neuanfang für Bulgarien wünscht.