Chatkontrolle
Das neue EU-Gesetzespaket stellt alle Europäer unter Generalverdacht
„Wir schützen euch“, das ist eigentlich die Kernbotschaft der schwedischen EU-Kommissarin Ylva Johansson für ihr neues Gesetzespaket aus Brüssel gegen Kinderpornographie im Netz. Seit der Vorstellung im Mai fegt allerdings ein Sturm der Entrüstung von Experten, Politik und Zivilgesellschaft Richtung Brüssel. Die Gründe liegen auf der Hand.
Die EU-Kommission will ein europäisches Überwachungssystem auf den Weg bringen. So sollen sämtliche Nachrichten in sozialen Medien, Chats und Webseiten, aber auch bisher Ende-zu-Ende-verschlüsselte Nachrichten, durchsucht werden können. Das Scannen solcher Kommunikation soll sichtbar machen, ob Dateien zu sexueller Gewalt an Kindern online geteilt werden. Auch sollen Plattformbetreiber dazu verpflichtet werden, Chats nach auffälligen Mustern zu durchsuchen. Ohne Anlass würde so massen- weise Kommunikation von allen EU-Bürgerinnen und Bürgern durchforstet. Damit würde das Recht auf Verschlüsselung ausgehebelt und das digitale Briefgeheimnis so gut wie abgeschafft.
Kurzum: Es geht um einen Angriff auf die Bürgerrechte aller 440 Millionen europäischen Bürgerinnen und Bürger. Eine massenhafte Kontrolle der gesamten digitalen Kommunikation stellt uns alle unter Generalverdacht. Viele Befürworter des Entwurfs, der mittlerweile unter dem Stichwort Chatkontrolle bekannt geworden ist, argumentieren nach dem altbekannten Motto: „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.“ Diese Argumentation ist hinlänglich bekannt und wenig überzeugend. Ein Beispiel: Die New York Times berichtete kürzlich von zwei Vätern, die auf Wunsch eines Arztes Bilder ihrer kranken Kinder an ihn verschickten. Kurz darauf ermittelte die Polizei wegen Verbreitung illegaler Nacktaufnahmen von Kindern.
Besserer Schutz von Kindern notwendig
Ja, ein besserer Schutz der Kinder tut Not – allein im Jahr 2021 gab es 85 Millionen Meldungen von Bildern und Videos, die sexuelle Gewalt an Kindern darstellen. Und Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt. Eine ernsthafte Debatte muss zielgerichtete Maßnahmen diskutieren. Gut ausgestattete Strafverfolgungsbehörden, eine bessere Zusammenarbeit der europäischen Strafverfolgungsbehörden und vor allem: geschulte Ermittlerinnen und Ermittler sowie Behörden mit technischer Kompetenz. Immer wieder wurden beschlagnahmte Festplatten nicht in der rechtlich notwendigen Zeit durchsucht, so dass Verfahren gegen Beschuldigte zusammenbrachen.
Schlimmstenfalls schadet die Chatkontrolle sogar bei der Verfolgung von Kindesmissbrauch, denn Ermittelnde sind mit Meldungen überlastet, die oft strafrechtlich irrelevant sind. Die Datensammelwut, die die europäischen Sicherheitsbehörden seit nunmehr 21 Jahren praktizieren, führt eben zu jenem Problem. Die Datenberge werden immer größer, gleichzeitig fehlt es an allen Ecken und Enden bei den Strafverfolgungsbehörden an digitaler Ausstattung und Kompetenz.
Wenn die Strafverfolgungsbehörden den Kampf gegen Cyberkriminalität gewinnen wollen, führt kein Weg an milliardenschweren Investitionen in ganz Europa vorbei. Deutschland ist in dieser Hinsicht kein Vorbild. Jahrelang gelang die Einführung des Digitalfunks hierzulande nicht. Während Kriminelle agil und innovativ immer neue digitale Wege beschreiten, regiert in Europa oft genug der Amtsschimmel. Lange und komplizierte Beschaffungsverfahren sind dabei nur ein kleiner Teil des Problems. Last but not least: Wo ist die Debatte über bessere präventive Instrumente gegen Kindesmissbrauch? Was sind die Lehren aus den Missbrauchsfällen in der Kirche und im Sport?
Simulierte Lösung von Problemen
All diesen Fragen verweigert sich die zuständige EU-Kommissarin, soll doch jetzt ein Rundumschlag weiterhelfen, der mehr kostet, als dass er was bringt. Besonders traurig in dieser Debatte stimmt mich, dass der gesamte Bereich des sogenannten Darknets ausgeblendet wird. Kriminelle können bereits heute mit zahlreichen Werkzeugen in virtuelle Räume verschwinden, in denen Ermittler nur mit größter Mühe Zugang finden. Auch dafür braucht es mehr digitale Kompetenz, mehr Ermittler und mehr Zusammenarbeit in Europa.
Seit Jahren tut sich in diesem Bereich viel zu wenig. Und seit Jahren, siehe die Vorratsdatenspeicherung, kommt es immer wieder zu Vorschlägen, die ohne Anlass alle EU-Bürgerinnen und Bürger unter Generalverdacht stellen. Wenn man zynisch auf diese Art von Politik blicken wollte, dann würde man von der simulierten Lösung von Problemen reden. Statt zielgerichtet und realistisch Antworten zu suchen, werden Scheinlösungen mit viel rhetorischem Schaum vor dem Mund produziert. Frei nach dem Motto: „Wer gegen diese Politik ist, der lehnt sexuelle Gewalt nicht ab.“ EU-Kommissarin Johansson reagiert nach außen hin gelassen auf die Kritik. So schreibt sie etwa, es würde ja nicht anlasslos alle Kommunikation gescannt, sondern nur die, bei der ein „signifikantes Risiko“ für Missbrauch bestehe – was auch immer das heißen mag. Der Druck aus den europäischen Hauptstädten wird so groß werden, dass Johanssons EU- Initiative scheitert. Ich kann mir gut vorstellen, dass Johansson ihren Vor- schlag bald zurückziehen muss.
Dieser Beitrag erschien erstmalig in BADISCHE NEUESTE NACHRICHTEN vom 17.09.2022