China
Chinas Zukunft in der Rentenfalle

Chinas Bevölkerung altert rasant – mit dramatischen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft.
© picture alliance / imageBROKER | Bernd BiederDie Spätfolgen der Ein-Kind-Politik und niedrige Geburtenraten machen China zu einem der am schnellsten alternden Länder der Welt. Maßnahmen der Kommunistischen Partei kommen verspätet. Langfristig riskiert China wirtschaftliche und soziale Destabilisierung, die auch machtpolitische Konsequenzen haben könnte.
Seit dem 1. Januar gilt, erstmalig seit den 1950er Jahren, ein späteres gesetzliches Renteneintrittsalter in der Volksrepublik China: Frauen verlassen nun mit frühestens 55 ihren Job, Männer mit 63. Zukünftig wird es weitere schrittweise Anhebungen geben. Zuvor gingen Frauen mit 50 und Männer mit 60 in Rente. Selbst nach den jüngsten Anpassungen ist in kaum einem anderen Land das offizielle Durchschnittsrenteneintrittsalter niedriger als in China.
Die Anpassung ist eine Reaktion der chinesischen Regierung auf schrumpfende Rentenkassen und den ökonomischen Druck, der daraus entsteht, dass die besonders geburtenstarken Jahrgänge, die aktuell in ihren 50ern sind, bald aus der Erwerbstätigkeit aussteigen. Wie schwerwiegend die Langzeitfolgen eines neuen Rentnerübergewichts für China werden, hängt von einem tragfähigen Rentensystem ab. Zahlreiche neue Maßnahmen zur Rentenabsicherung sollen dem Problem entgegentreten, aber ob diese langfristig Stabilität bringen können, ist fraglich.
China hat das Überalterungsproblem nicht im Griff
Heute stellen Chinas Senioren 21% der Bevölkerung - bis 2050 werden es 38% sein. In absoluten Zahlen: 2030 werden in China mehr alte Menschen leben als im Rest der industrialisierten Welt zusammen, und in knapp eineinhalb Jahrzehnten wird China auch prozentual den Status einer überalterten Gesellschaft erreicht haben. Chinesischen Rentnern geht es nicht unbedingt gut: Auf dem Land reichen Renten oft nicht zum Leben und ein hoher Anteil chinesischer Rentner verbringt das letzte Quartal des Lebens in gesundheitlich schlechtem Zustand. Immerhin haben sich die allgemeinen Lebensbedingungen soweit verbessert, dass Chinas Rentner insgesamt immer älter werden, was wiederum zur Überalterungsproblematik beiträgt.
Die Spätfolgen der Ein-Kind-Politik drehen Chinas Bevölkerungspyramide auf den Kopf. Noch immer liegt die aktuelle Geburtenrate pro chinesischer Frau bei nur 1,1 und sinkt weiter. Zwar ist die Ein-Kind-Politik mittlerweile eine Drei-Kinder-Politik, aber viele Menschen entscheiden sich gegen Kinder, weil die Bedingungen für eine Familiengründung in China schlecht sind: hoher beruflicher Leistungsdruck, steigende Lebenshaltungskosten, kompetitives Bildungssystem und schlechte Betreuungsbedingungen, insbesondere in urbanen Räumen.
Bis 2050 wird die Zahl der chinesischen Erwerbstätigen, die für einen chinesischen Rentner aufkommen sollen, von derzeit 5 auf 1,6 geschrumpft sein. Damit einher geht eine gigantische Belastung des Wirtschaftssystems. Die Alterung der chinesischen Gesellschaft könnte damit ein Hauptgrund für zukünftige Wachstumseinbrüche werden.
Chinas Rentenkassen werden der Geschwindigkeit der Alterung voraussichtlich nicht standhalten. Bereits 2035 könnten sie leer sein, vielleicht auch schon früher. Das aktuelle Rentensystem ist eine zwischen Stadt und Land fragmentierte Kombination aus einer niedrig angesetzten staatlichen Rente mit gesundheitlicher Basisabsicherung. Die Rentenbeiträge für Arbeitnehmer sind niedrig – entsprechend wenig Luft ist in den Kassen. Insbesondere auf dem Land herrscht strukturelle Unterversorgung der Rententöpfe. In der Vergangenheit hatte dies der chinesischen Regierung weniger Kopfzerbrechen bereitet als heute, denn traditionell tragen Kinder die Hauptlast der Fürsorge für ihre alternden Familienmitglieder. Die Beständigkeit dieser informellen Strukturen lenkte lange Zeit von der Notwendigkeit leistungsfähiger, institutionalisierter Systeme der Altersabsicherung ab.
Mittlerweile bröckelt jedoch die familiäre Solidarität. Fortschreitende Individualisierung, hohe Mobilität chinesischer Arbeitnehmer und der steigende wirtschaftliche Druck auf die Haushalte senken die Kapazitäten der arbeitenden Bevölkerung, finanziell, zeitlich und über räumliche Distanz hinweg für die Versorgung von alternden Verwandten aufzukommen. Wer es sich leisten kann, kauft optionale Individualversicherungen aus dem Privatsektor. Doch nur die Mittel- und Oberschicht kann sich durch private Einlagen wirklich absichern. Unterstützende Versicherungsansätze neben der Altersgrundabsicherung, wie etwa eine nationale Pflegeversicherung, sind fragmentiert und liegen bisher nur in Form von Pilotprojekten vor. Im Pflegesektor fehlen flächendeckend Fachkräfte. Vorhandene Pflegeeinrichtungen sind oft materiell unzureichend ausgestattet - auch hier tragen meist die Familien die Hauptverantwortung. Laut einer Analyse der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wäre ein Ausgleich der hohen Privatlast im chinesischen Rentensystem ein zentrales Kriterium für Wachstum während der kommenden Jahrzehnte.
Überalterung könnte destabilisierend wirken
Die chinesische Regierung hat das Problem erkannt und unternimmt mittlerweile einiges, um konstruktiv Ausgleich zu schaffen. Das Ausmaß der beschriebenen Problematiken zeigt den wirtschaftlichen Druck, der aus der Alterung entsteht. Damit verbunden ist auch eine absehbare Zunahme sozialer Probleme. Unklar ist jedoch, ob die Kommunistische Partei den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen kann: Ihre Maßnahmen sind oberflächlich, und sie müssen ihre Effizienz noch unter Beweis stellen.
Der Privatsektor soll fehlende staatliche Ressourcen, Strukturen und Lösungsansätze abfedern. Progressiv ist der Aufruf an chinesische Unternehmen, eine pragmatische, neue Alterungsökonomie zu entwickeln und den Konsumbedarf der Seniorengeneration mit auf sie spezialisierten Angeboten zu bedienen: über Pflegeprodukte, smart care, „Nostalgietourismus“, Essen auf Rädern und private Pflegeangebote, Kulturangebote oder auch neue, kreativere Versicherungspakete. Urbane Rentnergenerationen mögen sich das leisten können, auf dem Land sieht es anders aus.
Außer der Anhebung des Renteneintrittsalters gibt es seit Dezember auch ein neues, staatlich subventioniertes Rentensparpaket, das diverse Steuerentlastungen beim Erwerb von Finanzprodukten anbietet. Doch das Paket wird zunächst nur selektiv getestet. Besonders unkonventionell und in der Bevölkerung nicht unbedingt geschätzt sind darüber hinaus Motivationsanrufe von Kommunalregierungen bei jungen Frauen, um ihnen das Kinderkriegen schmackhaft zu machen. Es fehlt an Systematik - reichen die Ressourcen nicht aus, droht zukünftigen Rentnergenerationen die Mittellosigkeit. Gleichzeitig wird die wirtschaftliche Produktivität im ganzen Land massiv sinken.
Wettbewerb um Partnerschaften
Die Garantie wirtschaftlicher Stabilität und des sozialen Zusammenhalts legitimiert den Machtanspruch der Kommunistischen Partei. Das Alterungsproblem gefährdet diesen Machtanspruch. Instabilität könnte geopolitische Auswirkungen haben. Chinaexpertin Angela Köckritz fragt in ihrem jüngsten Artikel zur Thematik: „Kann ein Land der Alten langfristig Supermacht sein?“ Diese Frage muss sich auch die Regierung in Peking stellen.
Noch ist offen, wie anpassungsfähig China sein wird. Alternde Gesellschaften haben die Tendenz, politisch rigider zu werden. Während die Vermutung einer zukünftigen Machtabnahme Chinas durch Alterung nicht unbegründet ist, haben Europa und seine wichtigsten Partner dieselben Herausforderungen. Auch der Westen kennt schwächelnde Wirtschaften und zunehmende politische Rigidität.
Der Ausbau wirtschaftlicher Partnerschaften mit jüngeren Gesellschaften könnte helfen, insbesondere in Lateinamerika und auf dem Afrikanischen Kontinent. Dort spielt die Alterung aktuell keine so dominante Rolle. In Asien ist das Alterungsproblem dagegen verbreitet. Japan führt die Weltrangliste der ältesten Gesellschaften an. In Südkorea, Taiwan, Indien, Thailand, Indonesien, Vietnam und Laos beschleunigt sich die Alterung ebenfalls.
Der Wettbewerb des Westens mit China könnte zukünftig auch in dieser Hinsicht zum Wettbewerb um Partnerschaften im Globalen Süden werden. Das kommende Jahrzehnt ist in dieser Hinsicht entscheidend.
Dr. Nele Fabian ist Sinologin und Senior European Affairs Managerin Geopolitics & Geoeconomics im Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.