EN

#JetztMutMachen
Corona und das Ringen um Deutungshoheit

Die Pandemie wird auch darüber entschieden, nach welchen Regeln künftig in der internationalen Politik gespielt wird
Mann mit Maske
© picture alliance

In einem Statement vom 24. März 2020 formulierte Josep Borell, der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, eine grundlegende Erkenntnis. Ihm zufolge erleben wir derzeit einen globalen Kampf um die Deutungshoheit, was im Rahmen der Pandemie eigentlich passiert. In diesem Kampf dürfen wir die geopolitische Dimension nicht übersehen. Laut Borell ist die zentrale Frage dabei, wer in die Rolle des „Retters“ schlüpfen wird. Letztlich geht es also um nicht weniger als die Neujustierung von politischem Einfluss auf der Weltbühne. Dabei darf nicht vergessen werden: diese Auseinandersetzung wird auch mit denjenigen geführt, die die Europäische Union zerschlagen wollen.

Fragen wir also zunächst, welche externen Akteure die Europäische Union schwächen wollen. Laut einer aktuellen Analyse des Instituts Semantic Visions, die sich auf die Analyse von Informations- und Desinformationsströmen im Internet spezialisiert, setzt sich inmitten der Pandemie eine Flut von gezielt falschen Informationen fort, deren Verursacher hauptsächlich die Akteure in der Russischen Föderation seien. Es entstehe ein "Molotow-Cocktail" aus Desinformationen, der eine Reihe widersprüchlicher Botschaften enthält, um Verwirrung zu stiften, Misstrauen in die öffentlichen Institutionen zu produzieren und Chaos in die westlichen Demokratien zu tragen.

Aber die Desinformationsflut entspringt auch aus anderen Quellen: Berichten aus London zufolge ist die Volksrepublik China ein neuer Akteur auf diesem Gebiet. In erster Linie deswegen, weil Chinas Führung die Statistiken von Patienten und Opfern der Coronavirus-Infektion signifikant verfälscht hätte. In der Tat ist es wichtig zu hinterfragen, wie wir die von der Volksrepublik China veröffentlichten Informationen interpretieren müssen und wen sie ggfs. beeinflussen sollen.

Chinas "Mundschutz-Diplomatie"

In diesem Zusammenhang ist Chinas Außenhandelsbilanz in den ersten Monaten des Jahres 2020 einen genaueren Blick wert. Nach Angaben der chinesischen Zollverwaltung bestand ihre Hauptaufgabe vor allem darin, die Waren zur Bekämpfung der Infektion, die sich aus Wuhan ausbreitete, beschleunigt abzufertigen. In nur fünf Wochen zwischen Januar und Februar erreichte das Volumen der geprüften Schutzausrüstung 2,46 Milliarden Einheiten. Auf der Grundlage dieser Zahlen muss man den Schluss ziehen, dass China in den letzten Monaten eine gigantische Menge an Schutzausrüstung aus der Welt importierte. Es kaufte überall dort, wo es möglich war. So nahm der tschechische Sicherheitsinformationsdienst schon vor einiger Zeit mit Besorgnis die chinesischen Bemühungen zur Kenntnis, in großen Mengen Schutzausrüstung aus der Tschechischen Republik aufzukaufen.

Ende Januar 2020 lieferten die EU-Länder Dutzende Tonnen humanitärer Hilfsgüter nach China. Über diese Lieferungen sollte jedoch auf Wunsch der chinesischen Seite nicht öffentlich gesprochen werden. Die entgegengesetzte Anweisung trat jedoch in Kraft, als die Schutzausrüstung aus China zurück nach Europa importiert wurde. Diese Materiallieferungen wurden von chinesischen Vertretern medial genutzt, um die Beziehungen zu Staaten zu stärken, die mit China ein "geteiltes Schicksal" verbinden würde. Dabei muss erwähnt werden, dass es bei den meisten Lieferungen aus China nicht etwa um humanitäre Hilfe, sondern um klassischen Handel ging. So sprach die chinesische Seite systematisch von humanitärer Hilfe, die in Wirklichkeit aber nur ein normales Geschäft "Geld gegen Ware" war, wie die Lieferungen für Italien oder später für die Tschechische Republik zeigten.

Laut der Website eines chinesischen Think Tanks, der die Zusammenarbeit der mittel- und osteuropäischer Länder mit China im Rahmen des 17 + 1-Formats fördert, eröffnete die Epidemie in diesen 17 Ländern eine einmalige Gelegenheit, die Zusammenarbeit mit China zu stärken. Die kommunistische Partei Chinas bekam die Möglichkeit zu zeigen, wie die gemeinsame Zukunft nach den Vorstellungen Pekings aussehen sollte. Die chinesische Propagandamaschinerie behauptet, dass China seine Fähigkeit bewiesen hätte, auf die Gesundheitskrise zu reagieren, und dass auch die europäischen Länder von der Erfahrung Chinas profitieren könnten. Nun würde eine neue Phase der 17 + 1-Beziehungen beginnen, vor allem, weil die mittel- und osteuropäischen Länder von der EU keine Hilfe erwarten könnten. In der Region seien laut der chinesischen Quelle die Gesundheitssysteme seit langem unterfinanziert, Krankenhäuser verfügten lediglich über veraltete Ausstattung und es gäbe Orte ohne Zugang zu fließendem Wasser. So jedenfalls die Zitate aus den chinesischen Quellen.

Chinesische Einflussnahme in Tschechien

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Beispiel der Tschechischen Republik. Bei der ersten Lieferung von Atemmasken aus China bestimmte die chinesische Seite, dass das Flugzeug mit der Schutzausrüstung am 20. März von hochrangigen Vertretern der Verfassungsorgane direkt auf dem Flughafen feierlich in Empfang genommen werden sollte. Und so standen der tschechische Ministerpräsident, der stellvertretende Ministerpräsident, der Innenminister sowie die Finanzministerin bei der Pressekonferenz am Václav-Havel-Flughafen neben dem Flugzeug, das nicht das Wappen der Tschechischen Republik trug, sondern das der Gesellschaft China Eastern. Sie bedankten sich allesamt beim anwesenden Botschafter der Volksrepublik China. All das, obwohl es sich nicht um humanitäre Hilfe, sondern um Handelsgüter handelte.

All dies geschieht vor dem Hintergrund einer Situation, in der das tschechische Parlament seit mehreren Wochen über einen skandalösen Brief der chinesischen Botschaft diskutiert. Mit diesem Dokument versuchte China im Januar 2020, die Pläne des damaligen tschechischen Senatspräsidenten zu ändern, der seine Absicht erklärte, Taiwan zu besuchen. Während beide parlamentarischen Kammern den Brief als unangemessene Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Landes kritisierten und einige sogar die Ersetzung des chinesischen Botschafters in Prag forderten, schafft die Pandemie nun einen ganz neuen Kontext für den chinesischen Einfluss.

So zwang der Kampf gegen die Pandemie die Organisatoren des bevorstehenden Gipfels mit China (17 + 1) zwar, diesen zu verschieben, jedoch zeigte Peking eindrücklich, dass es die gegenwärtige Situation für sich zu nutzen weiß. Die Art und Weise, wie China den Verkauf von Schutzausrüstung vermarktet, hätte sogar die Berater des Kremls, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Tschechoslowakei arbeiteten, um den Kommunisten den Weg zur Macht zu ebnen, vor Neid erblassen lassen. Im Jahr 2020 nennt man das in Prag chinesische "Mundschutz-Diplomatie".

Lackmustest für europäische Demokratie

Die Situation ist ernst. Die Menschen machen sich Sorgen um ihre Familie und Freunde. Das Vertrauen in staatliche Institutionen, deren Aufgabe es ist, Sorge für die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung zu tragen, wird auf die Probe gestellt. Jetzt kommt es darauf an, die parlamentarische Demokratie und persönliche Freiheiten zu verteidigen und notwendige Schritte zu unternehmen, um die Produktion medizinischer Schutzausrüstung nach Europa zurückzuverlagern.

Die EU-Länder werden dabei einem sehr harten Test unterzogen. Im Umgang mit der Krise müssen sie koordiniert handeln. Dabei geht es nicht nur darum, die Wirtschafts- und Sozialpolitik besser zu koordinieren, sondern zu verstehen, dass wir uns in einem Kampf um die Deutungshoheit der Krise befinden und damit im Kampf um Einfluss in der Welt. Das Spiel der "Mundschutz-Diplomatie", das die Kommunisten Chinas begonnen haben, muss uns eine Warnung sein, dass die Zusammenarbeit mit dem totalitären Regime nie ohne Risiko ist. Umso wichtiger ist es, dass jede zukünftige Zusammenarbeit mit Peking klaren Regeln folgen muss. Andernfalls könnten wir uns am Ende noch fragen, welche weiteren Prinzipien des "gemeinsamen Schicksals der Menschheit", von dem Peking spricht, Einzug in Europa finden könnten.

Einer Sache bin ich mir sicher: Václav Havel wäre über dieses Mundschutz-Theater verwundert gewesen. Vielleicht hätte er sofort Ideen für ein weiteres seiner in der Tradition des absurden Theaters stehenden Stücke gefunden. Unsere Aufgabe muss es jedoch sein, keine tragikomische Rolle in diesem Theater zu spielen.

 

Pavel Fischer ist seit Oktober 2018 Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, Sicherheit und Verteidigung im Tschechischen Senat. Er war leitender politischer Berater des verstorbenen Präsidenten Vaclav Havel und Direktor der politischen Abteilung des Präsidentenbüros von Präsident Havel für zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten (bis 2003). Anschließend wurde er zum Botschafter der Tschechischen Republik in Frankreich und Monaco ernannt. Nach seiner siebenjährigen Botschaftermission war er als politischer Generaldirektor für Verteidigungs-, Sicherheits- und strategische Fragen im Außenministerium zuständig. 2013 trat er aus familiären Gründen zurück und arbeitet seither mit staatlichen und nichtstaatlichen Partnern zusammen. Er arbeitete als Direktor des Instituts für Empirische Studien STEM in Prag. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 ist er als Kandidat angetreten und wurde mit 10% der Stimmen Dritter. 

Pavel Fischer