Pisa-Studie
Auf der schiefen Bahn
In der PISA-Studie 2018, die am 3. Dezember veröffentlicht worden ist, hat Deutschland mal wieder eine Teilnehmerurkunde erhalten. Die Siegerurkunden gingen dagegen an die chinesischen Städte und Regionen Peking, Shanghai, Jiangsu und Zhejian, deren Einkommensniveau – aber nicht deren Einwohnerzahl – deutlich niedriger ist als im Durchschnitt der OECD-Länder. Bereits im ersten Absatz bemerkt Angel Gurría, der Generalsekretär der OECD, dazu trocken: „Die Qualität ihres heutigen Bildungsangebots wird sich morgen in der wirtschaftlichen Stärke dieser Regionen niederschlagen.“ Deutschland spielt dagegen weiterhin das beliebte Schülerspiel „4 gewinnt“ – man kommt gerade so mit der Mindestpunktzahl durch die Klausur und freut sich dann, im Mittelfeld gelandet zu sein. Doch auch die Qualität des deutschen Bildungsangebots wird sich auf den wirtschaftlichen Erfolg niederschlagen. Da die deutsche Wirtschaft zu einem ganz erheblichen Teil auf weltweit führenden Hochtechnologien beruht, kann aus einem „ausreichend“ ganz schnell eine gefährdete Versetzung werden. Deshalb braucht es dringend liberaler Nachhilfestunden.
In der PISA-Studie der OECD wird versucht, die schulischen Leistungen in den Bereichen Leserverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften abzubilden. Im Vergleich zur ersten PISA-Studie 2000, die damals noch den gleichnamigen Schock und nicht etwa bräsige Mittelfeld-Genügsamkeit ausgelöst hatte, haben sich die Aufgaben teilweise gewandelt. So wurde die Lesekompetenz nun auch auf den Umgang mit Webseiten ausgeweitet, um beispielsweise zu prüfen, wie gut die Schülerinnen und Schüler aus einer unübersichtlichen Datenflut die relevanten Informationen herausfischen können. Außerdem wurde erneut die Bedeutung des sozioökonomischen Hintergrunds eruiert, um Aussagen zur Chancengleichheit zu treffen. Erstmals wurde allerdings auch das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler abgefragt. Insgesamt nahmen ca. 600 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer um die 15 Jahre an der bisher größten Studie teil, 5.451 Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 Jahren kamen aus Deutschland.
Ergebnisse
Das wichtigste Ergebnis: Was die durchschnittlichen Resultate betrifft, hat sich Deutschland im Vergleich zur PISA-Studie 2015 in allen Bereichen verschlechtert. Dass sich dies im Ländervergleich nicht direkt niederschlägt, liegt auch daran, dass ehemalige Musterschüler wie Finnland ins Straucheln geraten sind, wenngleich sie immer noch deutlich vor Deutschland liegen.
Der verzeichnete Rückgang im Bereich des Leseverständnisses, dem Schwerpunkt der Studie 2018, so die Autoren der Studie, sei zwar statistisch nicht belastbar. Doch die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften hätten sich nach 2015 nun zum zweiten Mal „signifikant“ verschlechtert. Zum Vergleich: der europäische Spitzenreiter Estland erreichte im Bereich der Lesekompetenz einen Durchschnittswert von 523 Punkten, im Bereich der Mathematik kam man ebenfalls auf 523 Punkte und in den Naturwissenschaften auf 530 Punkte. Besonders katastrophal fallen die deutschen Ergebnisse aus, wenn man auf die Lernschwachen blickt: 20,7% der deutschen Schüler landen im Bereich der Lesekompetenzstufe 1a-1c. Faktisch handelt es sich dabei, wie Heike Schmoll richtig anmerkt, um funktionale Analphabeten. 11,3% erreichen allerdings auch die höchsten Kompetenzstufen 5-6 – ein im internationalen Vergleich durchaus guter Wert, wenngleich die üblichen Verdächtigen auch hier wieder vor Deutschland liegen.
Doch es sind nicht allein die schulischen Leistungen, die Grund zur Sorge geben. Der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler liegt in Deutschland nach wie vor deutlich über dem OECD-Schnitt. Im Bereich des Leseverständnisses spielt die Herkunft 2018 sogar eine größere Rolle als noch 2009. Satte 113 Punkte betrug der Unterschied in Deutschland – nur in Israel und in Luxemburg wirkt sich die soziale Herkunft noch nachteiliger auf diese Schlüsselkompetenz aus. Zwar sind 10% der benachteiligten Schüler „academically resilient“ – d.h. sie zeigen trotzdem Spitzenleistungen – doch auch damit liegt Deutschland hinter Ländern wie Estland (16%), Kanada (14%) oder Finnland (13%). Immerhin: was das Wohlbefinden betrifft, liegt Deutschland in einer Spitzengruppe mit dem flämischen Teil Belgiens. Doch bevor nun wieder Karzer und Rohrstock eingeführt werden: in Deutschland gibt es glücklicherweise keinen Zusammenhang zwischen kindlichen Versagensängsten und Lesekompetenz. Wie die Autoren der Studie betonen: „Hohes Leistungsniveau und hohes Wohlbefinden schließen einander also nicht aus.“ Dass nun auch das jugendliche Wohlbefinden, Mobbing und das Schulklima mit einbezogen wurde, ist zu begrüßen. Die Frage, was die Schule eigentlich für das Leben und die Persönlichkeitsbildung bedeutet, ist letztendlich wichtiger, als die reine Jagd nach der besten Kennziffer. Dennoch bleibt die Frage: was ist zu tun, um den Negativtrend im Bildungsbereich zu stoppen?
Zeit für eine liberale Kurskorrektur!
Der erste Schritt in eine bessere Bildungszukunft ist ganz einfach: Man muss denjenigen zuhören, die jeden Tag vor die Klasse treten. Gerade im OECD-Vergleich bemängeln die Schulleiterinnen und Schulleiter in Deutschland deutlich häufiger, dass ihre Schulen nur mangelhaft mit Personal und Sachmitteln ausgestattet sind. Der Digitalpakt war ein wichtiger ein Schritt in die richtige Richtung, für Digitalisierung und modernes Lernen an den Schulen. Deutschland braucht aber auch renovierte Schulgebäude, ausreichend Lehrmittel und vor allem viel mehr gut ausgebildete und hoch motivierte Lehrkräfte. Um das pädagogische Personal zu entlasten, wäre es außerdem wichtig, in Bereichen wie der digitalen Infrastruktur nachhaltige Investitionen zu tätigen. Dazu gehört auch der „digitale Hausmeister“, damit ein entnervter Lehrer nicht die Hälfte der Unterrichtszeit mit dem Hochfahren des Rechners verbringen muss.
Gerade Schulen in sozial schwachen Gebieten müssen zusätzlich unterstützt werden. Die schwächsten Schüler brauchen die stärksten Lehrer – hier müssen nicht zuletzt finanzielle Anreize geschaffen werden, um eine Ghettoisierung im Kopf und auf der Straße zu verhindern. Da jede Schule mit anderen Herausforderungen konfrontiert ist, müssen außerdem Freiräume geschaffen werden, in denen innovative Konzepte entwickelt und umgesetzt werden können, die genau auf die jeweils spezifische Situation passen. Bildungsgutscheine können dafür sorgen, dass die besten Ideen sich im Wettbewerb durchsetzen können – und schlechte Ideen abgestraft werden.
Es gilt außerdem: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Deutschland braucht nachhaltige Leseförderungsprogramme, gerade für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die zu Hause kein Bücherregal vorfinden. Denn nach wie vor sind die Anzahl der Bücher im elterlichen Haushalt der beste Prädiktor für schulischen Erfolg.
Bildung ist nicht nur eine Frage des Klassenraums, sie betrifft die gesamte Gesellschaft. So lassen sich beispielsweise Leistungsunterschiede anhand von Geschlechterlinien feststellen: die Lesekompetenz der Mädchen liegt etwas über der der Jungen, dafür schneiden diese – bei breiterer Streuung – etwas besser in der Mathematik ab. Hier müssen positive Vorbilder geschaffen und gestärkt werden. Noch wichtiger sind gesamtgesellschaftliche Herangehensweisen im Bereich der Einwanderung und der Integration. „So ist der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit eigener Migrationserfahrung seit der letzten PISA-Erhebung deutlich gestiegen“, formulieren es die Autoren der PISA-Studie, „und deren Integration in das Bildungssystem ist eine große Herausforderung.“
Die größte Gefahr liegt im Trend der „Dualisation“, d.h. der zunehmenden Trennung in Insider und Outsider. Im Bereich der Lesekompetenz besteht ein durchschnittlicher Leistungsabstand von satten 63 Punkten zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund, auch wenn sich immerhin 16% im obersten Quartil platzieren konnten. Gerade mit Blick auf die, vornehmlich an Gymnasien erzielten, Spitzenleistungen zeichnet sich also eine gesellschaftliche Spaltung ab. Während ein wesentlicher Teil der Schülerinnen und Schüler durchaus in der Lage ist, die Wissenslandschaften des 21. Jahrhunderts erfolgreich zu durchwandern, steckt ein anderer Teil im Treibsand der Kenntnislosigkeit fest. Mit einem freiheitlichen Verständnis von Bildung, welches den Anspruch hat, jedem Menschen die größtmögliche Entfaltung der Talente zu ermöglichen, lässt sich dies nicht vereinbaren.
Fazit
Das liberale Bildungsideal lässt sich nicht einfach in Zahlen messen. Dass die PISA-Studie deshalb auch „softe“ Faktoren miteinbezieht, ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn es sich bestenfalls um eine Erinnerung daran handelt, dass ein Testergebnis für die Bildung bestenfalls das ist, was die Kalorienzahl beim Essen ist: notwendig zur Orientierung, aber ohne Aussage für den wirklichen Geschmack. Doch nicht alles ist eine Frage der individuellen Präferenzen. Eine nationale Einrichtung für Bildungsinnovationen und Qualitätssicherung kann beispielsweise dazu beitragen, die besten Bildungsrezepte zu erarbeiten, die dann mit regionalen Zutaten nachgekocht werden können. Eine Teilnehmerurkunde in den Bundesjugendspielen ist keine Schande – im internationalen Bildungswettbewerb sollten die Ansprüche aber deutlich höher liegen.