Antisemitismus
Die Protokolle der Weisen von Zion als Rechtfertigung für Judenhass
Fake News sind keine moderne Erfindung: Die sogenannten Die "Protokolle der Weisen von Zion" sind mehr als nur ein historisches Dokument des Antisemitismus – sie sind ein perfides Werkzeug, das vom Zarenreich bis zur Hamas Verwendung fand. Thomas Clausen zeichnet die Ursprünge und die Wirkungsgeschichte dieser gefälschten Protokolle nach, die nicht nur als Rechtfertigung für den Holocaust dienten, sondern auch von der Hamas in ihrer Gründungscharta zitiert werden.
Die Hamas ist nicht die erste Terrororganisation, die ihre Motive erstaunlich offen bekannt gibt. Gerade deshalb lohnt sich ein genauer Blick in die Gründungscharta von 1988, die nach wie vor das ideologische Fundament der Hamas darstellt. In dieser Charta wird nicht nur allen friedlichen Lösungsvorschlägen eine kategorische Absage erteilt, sondern auch ein geschlossenes antisemitisches Weltbild präsentiert. Besonders aufschlussreich ist dabei Artikel 32, in dem Bezug auf die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ genommen wird. Bei diesen vermeintlichen Protokollen handelt es sich um ein Schlüsseldokument des Antisemitismus, welches einst im russischen Zarenreich unter Zuhilfenahme eines obskuren Romans erstellt worden war und später den Nationalsozialisten als „Bevollmächtigung zum Genozid“ (Norman Cohn) diente. Indem die Hamas diese Protokolle zitiert, ordnet sich diese Organisation nicht nur in die Geschichte des eleminatorischen Judenhasses ein, sondern unterbreitet so disparaten Gruppen wie „anti-imperialen“ Linken, exzentrischen Industriekapitänen und überzeugten Neonazis ein Bündnisangebot. Wie sich seit dem 7. Oktober gezeigt hat, gibt es weltweit genügend Akteure, die bereit sind, sich darauf einzulassen.
In ihrer Gründungscharta präsentiert sich die Hamas als eine Organisation, die islamistische und nationalistische Strömungen vereinigt. Immer wieder wird dabei deutlich, dass es nicht allein um die Ablehnung Israels geht, sondern um den grundsätzlichen Kampf gegen die Juden. Begründet wird diese universale Ablehnung mit einer angeblichen zionistischen Weltverschwörung. Im berüchtigten Artikel 32 der Charta heißt es dementsprechend:
Heute ist es Palästina, morgen wird es das eine oder andere Land sein. Der zionistische Plan ist grenzenlos. Nach Palästina streben die Zionisten eine Expansion vom Nil bis zum Euphrates an. Wenn sie die von ihnen eroberte Region verdaut haben, werden sie eine weitere Expansion anstreben und so weiter. Ihr Plan ist in den „Protokollen der Weisen von Zion“ verankert, und ihr gegenwärtiges Verhalten ist der beste Beweis für das, was wir sagen.
Indem den Juden ein Geheimplan zur Eroberung der Welt unterstellt wird, wird nicht nur eine friedliche Kompromisslösung unmöglich gemacht, sondern auch eine Begründung für weltweiten Judenhass geliefert. Indem die Hamas an prominenter Stelle in ihrem Gründungsdokument auf die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ rekurriert, ordnet sich die Organisation selbst in die lange Geschichte des Judenhasses ein. Eine Analyse der „Protokolle“ und ihrer Wirkungsgeschichte hilft daher, Motive und Ziele der Hamas zu verstehen – und macht auch deutlich, warum ein konsequentes Vorgehen gegen diese Organisation nicht nur für die Bundesrepublik eine (sicherheits-)politische Priorität sein sollte.
Apartheidstaat, Unrechtsstaat
In der Serie “Deconstruct Antisemitism” versuchen wir Antisemitismus zu dekodieren, denn dieser wird oft in Form von Codes und Metaphern kommuniziert. In Sozialen Medien, bei Demonstrationen, in Talkshows, an Stammtischen, in Parlamenten. Mal unbewusst, weil einige Codes seit Jahrhunderten im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft weiterleben, mal bewusst, um zum Beispiel eine strafrechtliche Verfolgung zu umgehen.
Die Mutter aller Desinformationen
Die Protokolle stehen für angebliche „Verhandlungs-Berichte der ‚Weisen von Zion‘, auf dem 1. Zionisten-Kongress, der 1897 in Basel abgehalten wurde“. Am Rande des Zionistenkongresses, der unter dem Vorsitz von Theodor Herzl tatsächlich stattgefunden hat, hätten sich angeblich Vertreter der zwölf Stämme Israels getroffen, um einen Plan für eine internationale Geheimregierung auszuarbeiten. Mithilfe der „Herrschaft des Geldes“, des liberalen „Parteihaders“ aber auch eines „allumfassenden Terrors“ sollten die Länder unter die Kontrolle der Juden gebracht werden, am Schluss stünde ein „gleichzeitiger Umsturz in der ganzen Welt.“ Der schwer lesbare Text ist ein Versatzstück aus verschiedensten „Sitzungsberichten“, die sinnbildhaft für das Genre des Verschwörungsmythos stehen. Statt inhaltlicher Stringenz finden sich eine Vielzahl an Schlagworten und Behauptungen. Vorgeblich aus der Sicht der „jüdischen Verschwörer“ geschrieben, wird von den „von uns erweiterten Erfolgen der Lehren von Darwin, Marx und Nietzsche“ fabuliert oder – an anderer Stelle – die Existenz einer „wahre[n] Lehre vom gesellschaftlichen Bau des Lebens“ schwadroniert, den „wir vor den Nichtjuden geheim halten.“ Aber auch ein Verbot des Alkoholismus wird den Juden als Ziel zugeschrieben.
Wie der Literaturwissenschaftler Jeffrey L. Sammons in seiner wissenschaftlich-kritischen Edition der „Protokolle“ deutlich macht, handelt es sich bei ihnen strenggenommen nicht einmal um eine Fälschung, sondern um „eine glatte Erfindung, eine Fiktion“. Sie stellen keine Kopie einer realen Begebenheit dar, sondern sind ein reines Phantasieprodukt. Der Text liest sich wie eine fragwürdige Telegram-Gruppe, auf der in wilder Reihenfolge die unterschiedlichsten Verschwörungsmythen geteilt werden – ohne jede Chance auf Verifikation. Finanzmärkte, Hochschulen und Medien – alles wird in den Protokollen zum Instrument einer weltweiten Verschwörung. Der Mangel an belastbaren Fakten oder auch nur einer inneren Konsistenz fällt nicht ins Gewicht, denn – wie der britische Historiker Richard J. Evans ausführt – die Protokolle sind „self-sealing“. Das heißt: Wer mit kritischen Anmerkungen oder gar Fakten den Wahrheitsgehalt der Protokolle in Zweifel zieht, ist selbst Teil der Verschwörung.
Der Große Austausch, New World Order, Great Reset, Marionettenspieler, Strippenzieher
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Ein Milliardär als Multiplikator und der erste Mord
Die Ursprünge der „Protokolle“ sind auch heutzutage noch nicht vollständig geklärt. Lange Zeit war eine Darstellung des französischen Marineoffiziers und Historikers Henri Rollin aus dem Jahr 1939 maßgeblich, der den Ursprung der Protokolle im Umkreis von Pjotr Ratschkowski, dem Chef des zaristischen Geheimdienstes verortet hatte. Doch diese Darstellung, die zuletzt sogar die Grundlage eines Comics geworden ist, wird durch die Quellenlage nicht gedeckt. Stattdessen muss man mit Michael Hagemeister feststellen, dass die historischen Quellen „spärlich fließen und zumeist trübe“ sind und eine endgültige Zuschreibung nicht mehr möglich ist. Gesichert ist nur, dass die Ausschnitte, die 1903 in der Zeitschrift „Znamja“ (Das Banner) des russischen Antisemiten Pawolatschi Kruschewan erschienen, 1905 vom religiösen Esoteriker Sergej Nilus erstmals in einem Buch veröffentlicht wurden.
Einen Durchbruch erzielt der Text erst nach dem Ersten Weltkrieg, der als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts auch zu einem Katalysator für Verschwörungsmythen wird. In der Nachkriegszeit erscheinen Übersetzungen unter anderem in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten, die Titel geben bereits eine klare Stoßrichtung vor: „The International Jew: The World’s Foremost Problem“ heißt eine Ausgabe, die von einem der reichsten Männer der Welt in seiner Zeitung verbreitet wird. Dass mit Henry Ford ausgerechnet ein Milliardär und Erfinder als Multiplikator von Antisemitismus steht, zeigt möglicherweise, dass auch – und vielleicht gerade – gesellschaftliche Eliten der Vorstellung verfallen können, dass noch viel mächtigere Gruppen die Welt „eigentlich“ kontrollieren.
Doch die wichtigsten Verbreiter der Protokolle sind unter den Vertretern des russischen Zarenreichs zu suchen, die nach der bolschewistischen Revolution ins Exil geflohen sind. Dazu gehören beispielsweise Fjodor Winberg und Pjotr Schabelski-Bork, die die Protokolle nach Deutschland bringen. Sie stellen den Text dem antisemitischen Verleger Ludwig Müller von Hausen zur Verfügung, der ihn bereits 1919 veröffentlicht und gleichzeitig behauptet, dass der liberale Außenminister Walther Rathenau einer der „300 Weisen von Zion sei“. Rathenau wird 1922 ermordet, vor Gericht sagen die Mörder aus, auch von den „Protokollen“ motiviert worden zu sein.
Finanzelite, Hochfinanz, Ostküste, Wall Street, raffen versus schaffen
In der Serie “Deconstruct Antisemitism” versuchen wir Antisemitismus zu dekodieren, denn dieser wird oft in Form von Codes und Metaphern kommuniziert. In Sozialen Medien, bei Demonstrationen, in Talkshows, an Stammtischen, in Parlamenten. Mal unbewusst, weil einige Codes seit Jahrhunderten im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft weiterleben, mal bewusst, um zum Beispiel eine strafrechtliche Verfolgung zu umgehen. Schließlich ist offener Judenhass seit der Schoah, der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus, ein Tabu und als Volksverhetzung strafbar.
Die Lüge fliegt auf – doch der Erfolg der Protokolle hält an
Dem Erfolg der „Protokolle“ tut es keinen Abbruch, dass bereits 1920 Beweise dafür erbracht werden, dass es sich um eine plumpe Fälschung handelt und wesentliche Teile plagiiert worden sind. In seinem Buch „Die Weisen des Zion: Das Buch der Fälschungen“ weist der Lübecker Publizist und Sozialdemokrat Otto Friedrich nach, das wesentliche Teile der Protokolle einem Sensationsroman des deutschen Schriftstellers Hermann Goedsche entnommen worden waren. Der bekennende Antisemit Goedsche hatte bereits 1868 unter dem Pseudonym „Sir John Retcliffe“ den Roman „Biarritz“ veröffentlicht, welcher eine Szene auf dem jüdischen Friedhof in Prag enthielt. Dort wird jene Zusammenkunft von angeblichen Vertretern der zwölf Stämme Israels geschildert, die es dann beinahe wortwörtlich in die „Protokolle“ schafft, wie sie knapp vierzig Jahre später in Russland veröffentlicht werden. Mit Theodor Herzls Kongress 1897 hat dieser Text ebenso wenig zu tun wie mit der Wirklichkeit, denn der literarische Charakter dieser Szene ist unbestritten.
1921 kommt eine weitere Quelle ans Licht. Der Istanbuler Korrespondent der „Times“, Philip Graves, findet ein weiteres Plagiat heraus. Wesentliche Textbausteine entstammten bereits aus einer Publikation von 1864 – und zwar einer französischen Satire von Maurice Joly, die Napoleon III. kritisierte. Dazu wird ein fiktives Totengespräch zwischen Machiavelli und Montesquieu präsentiert. Vor allem die zynischen Aussagen zur Machtpolitik, die Machiavelli in den Mund gelegt worden waren, haben ihren Weg in die Protokolle gefunden.
Auch wenn der Autor der „Protokolle“ weiterhin unbekannt ist, lässt sich anhand dieser Bausteine und mithilfe einer textwissenschaftlichen Herangehensweise eine grobe Chronologie erarbeiten. Am plausibelsten ist hierbei die umfangreiche Aufarbeitung von Cesare G. De Michelis, welcher überzeugend darlegt, dass ein Autor im Russischen Zarenreich – vermutlich ohne Zugriff auf einen vermeintlichen französischen Originaltext – die entsprechende Fälschung erstellt hat. Weniger wichtig als die Frage, ob auch noch ein Geheimdienst seine Finger im Spiel hatte, wie dies in vielen Darstellungen behauptet wird, ist das Genre der Protokolle. Es handelt sich dabei eindeutig um eine Montage aus Versatzstücken aus Groschenromanen, Gerüchten und geopolitischem Geraune, welches auch heute noch die sozialen Medien flutet.
Die Wirkungsmacht der Protokolle
Obwohl bereits fast zeitgleich mit der Veröffentlichung überzeugende „Faktenchecks“ erscheinen, ist der Erfolg der „Protokolle“ nicht zu stoppen. 1933 strengt die jüdische Gemeinde der Schweiz sogar ein Gerichtsverfahren an, um die Verbreitung des Texts zu stoppen. Im Berner Prozess gelingt erneut der Nachweis, dass die „Protokolle“ eine Fälschung sind, doch das Berner Obergericht erlaubt in der Revision die Veröffentlichung, da es sich nicht um zu verbietende „Schundliteratur“, sondern um eine geschützte „politische Publikation“ handele – ein „Hetzartikel gemeinster Sorte“ sei es freilich dennoch.
Die Wirkungsmacht der „Protokolle“ ist ein Lehrstück zu Verschwörungsmythen. Denn immer, wenn die Kämpfer gegen den Antisemitismus neue Nachweise erbringen, dass es sich bei den „Protokollen“ um eine Fabrikation handelt, werden neue Argumente aus dem Hut gezaubert. Dass einige Textbausteine aus Jolys Satire stammen, so die Rechtsextremen, sei überhaupt kein Beweis, denn Joly sei schließlich ein jüdischer Revolutionär gewesen und habe entsprechende Einsichten gehabt. Auch das stimmte natürlich nicht (Joly war katholisch), aber die Argumentation ist ein Beispiel für das Funktionieren des demagogischen Mottos „flood the floor with bullshit“.
Die Judenhasser waren sich dieser Wirkungsweise durchaus bewusst. In einer Edition der Protokolle, die 1936 im nationalsozialistischen Hammer-Verlag erschien, heißt es dann auch: „So lange die Fälschung nicht bewiesen ist, ist die Schrift als echt anzusehen.“ Das Perfide daran: Jeder Versuch, die Fälschung zu entlarven, dient nur als zusätzlicher Beweis für die Echtheit. So formuliert es dann auch Adolf Hitler in „Mein Kampf“:
Wie sehr das ganze Dasein dieses Volkes auf einer fortlaufenden Lüge beruht, wird in unvergleichlicher Art in den von den Juden so unendlich gehassten „Protokollen der Weisen von Zion“ gezeigt. Sie sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die „Frankfurter Zeitung“ in die Welt hinaus: der beste Beweis dafür, dass sie echt sind. Was viele Juden unbewusst tun mögen, ist hier bewusst klargelegt. Darauf aber kommt es an. Es ist ganz gleich, aus wessen Judenkopf diese Enthüllungen stammen, maßgebend aber ist, dass sie mit geradezu grauenerregender Sicherheit das Wesen und die Tätigkeit des Judenvolkes aufdecken und in ihren inneren Zusammenhängen sowie den letzten Schlusszielen darlegen. Die beste Kritik an ihnen jedoch bildet die Wirklichkeit.
Der eingangs zitierte Norman Cohn aber auch die liberale Philosophin Hannah Arendt sehen in den Protokollen einen Ursprung des nationalsozialistischen Vernichtungswahns. So heißt es bei Arendt: „Die Nazis begannen mit der ideologischen Fiktion einer Weltverschwörung und organisierten sich mehr oder weniger bewusst nach dem Modell der fiktiven Geheimgesellschaft der Weisen von Zion.“
Doch diese Aussage verleiht den „Protokollen“ einen Einfluss, den sie nicht hatten. Denn die meisten führenden Nationalsozialisten wussten sehr wohl, dass die „Protokolle“ eine Fälschung waren, auch wenn sie munter Neuauflagen druckten. Ihnen ging es, wie der Historiker Randall L. Bytwerk gezeigt hat, vielmehr um eine „innere Wahrheit“, die in den „Protokollen“ verborgen sei. Der Hass auf die Juden und damit auch der Vernichtungswahn standen an erster Stelle, die Begründungen wurden nachgereicht und – je nach propagandistischer Notwendigkeit – angepasst. Dabei galt – darauf weist Richard Evans hin – das die „Protokolle“ nur das „bewiesen“, was die Nazis sowieso schon glaubten zu wissen.
Die Islamisierung der Protokolle
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es erneut zu einem Verbreitungsschub der „Protokolle“ – diesmal in der arabischen Welt. Wie der Bonner Islamwissenschaftler Stefan Wild in einer verdienstvollen Rezeptionsgeschichte zeigt, existierten zwar bereits in der Zwischenkriegszeit Übersetzungen, die von arabischen Christen vorgenommen waren, doch diese fanden – nicht zuletzt aufgrund des religiösen Hintergrunds der Übersetzer – keine nennenswerte Rezeption. Die Gründung des Staates Israel 1948 ändert alles. „Zu einem Zeitpunkt, da die Echtheit der Protokolle in Europa kaum noch von einem seriösen Historiker behauptet wurde, begann ihre eigentliche Karriere in der arabischen Welt“, so Wild. „Die aus der arabischen Rezeption der Protokolle ablesbare Herausbildung eines zionistisch-jüdischen Feindbildes war rein politisch motiviert“, argumentiert Wild, „Antisemitische Ideen und Feindbilder wurden aus Europa importiert und im Kampf gegen den Zionismus instrumentalisiert.“
Immer neue Übersetzungen der „Protokolle“ kommen nun auf den Markt. Der fehlende Wahrheitsgehalt spielt dabei nach wie vor keine Rolle. Für Ford galt, dass die „Protokolle“ „fit with what is going on”, Hitler verwies ebenso auf eine vermeintliche „Wirklichkeit“ und 1968 kommt mit Shafik Hout auch ein Vertrauter von Yassir Arafat dazu, der in dieselbe Kerbe schlägt. In Wilds Übersetzung heißt es: „Selbst wenn das, was in den Protokollen steht, nicht wahr ist, so bestätigen unsere heutigen Erfahrungen doch ihre Richtigkeit.“
Houts Aussage steht beispielhaft für eine, wie Wild es formuliert, „Popularität [der „Protokolle“] im breiteren gebildeten Diskurs im Feuilleton der arabischen Presse, wie sie selbst im national-sozialistischen Deutschland kaum zu finden war“ – selbst wenn es lobenswerte Ausnahmen in der arabischen Welt gibt, die die Protokolle als „Märchen“ abtun.
Auch wenn die „Protokolle“ in der arabischen und muslimischen Welt mittlerweile breit rezipiert werden, so sind es vor allem die Islamisten, die sie für sich vereinnahmt haben. In ihrer wichtigen Studie der Ideologie der Hamas hat die ehemalige FNF-Mitarbeiterin Andrea Nüsse dargelegt, wie die „Islamisierung des westlichen Antisemitismus“ vorangeschritten ist. Die „Protokolle“ dienen dabei ebenso wie Auszüge aus Hitlers „Mein Kampf“ dazu, ein fundamentales psychologisches Problem zu adressieren: „How could the weak and cowardly Jews inflict humiliation on the Muslims?“ Der christliche und der nationalsozialistische Antisemitismus haben mit der Aufnahme der „Protokolle“ in die Gründungscharta der Hamas also eine weitere Iteration durchlaufen, indem sie als Waffe im Territorialkonflikt zwischen Palästinensern und Israelis verwendet werden.
Die Blutspur der Protokolle
Seit über hundert Jahren sind die „Protokolle“ ein Schlüsseldokument des eleminatorischen Judenhasses. Pawolatschi Kruschewan, in dessen Zeitung die Auszüge das erste Mal veröffentlicht worden waren, spielte eine zentrale Rolle im Pogrom von Kischinjow, bei dem 1903 hunderte Juden verletzt, vergewaltigt und ermordet worden waren. Die „Protokolle“ waren eine wichtige Rechtfertigung der Mörder von Walther Rathenau 1922, sie wurden von den Nationalsozialisten genutzt und auch jetzt, über hundert Jahre später, spielen sie in den ideologischen Rechtfertigungen für den Massenmord an Jüdinnen und Juden wieder eine zentrale Rolle.
Die Wirkungsmacht der „Protokolle“ leitet sich nicht aus ihrem Inhalt und noch viel weniger aus ihrer – ungeklärten – Autorenschaft ab. Vielmehr ist entscheidend, dass die „Protokolle“ dem Leser oder der Leserin das verführerische Angebot machen, die Komplexität der Moderne auf die angeblichen Machenschaften einer kleinen Elite zu reduzieren. Krieg und Rüstung, Finanzmärkte und Staatsschulden, Medien und Wissenschaft: es gibt keinen Bereich der Moderne, der sich nicht durch die jüdische Weltverschwörung erklären ließe. Wenn auf Instagram berichtet wird, dass Israel nur Geiseln austauschen würde, um beim „Black Friday“ Gewinne zu erzielen, dann spielen die entsprechenden Influencer auf einer Klaviatur, die schon viele Judenhasser vor ihnen bedient haben.
Wer auch nur einige Stunden mit den Inhalten von Verschwörungsblogs oder antisemitischen Instagram-Beiträgen verbracht hat, erkennt schnell, warum die Argumentationsstruktur der „Protokolle“ auch hundert Jahre später noch funktioniert. Auf verhältnismäßig wenig Raum bieten die „Protokolle“ ein breites Angebot an Stichworten und vermeintlichem Geheimwissen, welches den Konsumenten in die überlegende Position des „Mitwissers“ führt, der plötzlich Zugang zu den Räumen der globalen Elite erhält. Dies war bereits das Muster in Goedsches Roman, der als diesen Raum buchstäblich den jüdischen Friedhof in Prag wählt, aber es ist eben auch das Muster der Vielzahl an Verschwörungsblogs und Telegramm-Kanälen, die immer wieder welterklärende Arkana versprechen.
Vor allem politische und militärische Niederlagen dienen dabei immer wieder als Katalysator. Ob zaristische Offiziere, deutsche Rechtsextremisten oder auch die Hamas: die „Protokolle“ scheinen die eigene Niederlage – und in letzter Instanz die gesamte moderne Welt – „erklärbar“ zu machen. Wer sich aus diesen Gründen den Protokollen und seinem Judenhass hingibt?, den kann kaum stören, dass die „Protokolle“ schon lange als Fiktion entlarvt sind – denn sie lassen Wirklichkeit an sich zu einem vermeintlich jüdischen Konstrukt werden. Gleichzeitig wird dadurch deutlich, warum es den „Protokollen“ und der dort enthaltenen Lüge von der jüdischen Weltverschwörung gelingt, scheinbar gegensätzliche Strömungen zu verbinden und empfundene Demütigungen „erklärbar“ zu machen.
In der Geschichte der „Protokolle“ zeigt sich, auf welchen Wegen eine antisemitische Romanszene aus dem Jahr 1868 erst in einer Zeitung des russischen Zarenreichs auftauchte, dann von der nationalsozialistischen Propaganda übernommen wurde und es schließlich in das Gründungsdokument der Hamas geschafft hat. Lange vor Instagram und TikTok werden so die transnationalen Vertriebskanäle des Judenhasses sichtbar. Dass Deutschland in dieser Geschichte immer wieder der Dreh- und Angelpunkt war, sollte nicht nur eine Mahnung sein, sondern auch politisches Handeln nach sich ziehen.