In Memoriam
Dr. Wolfgang Gerhardt: "Ein außergewöhnliches politisches Ausnahmetalent"
Am 13. September verstarb der langjährige Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und ehemalige Bundesvorsitzende der FDP sowie Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt, im Alter von 80 Jahren. Anlässlich der heute in Berlin stattfindenden Trauerfeier veröffentlichen wir hier einen Beitrag, den der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Jürgen Falter für eine Publikation der Stiftung mit Reden Gerhardts zu dessen 80. Geburtstag verfasst hat.
„Der beste Außenminister, den Deutschland nie hatte“
Ein brillantes Bonmot mit mehr als einem wahren Kern. Es stammt, wie ich einer Laudatio zum 75. Geburtstag von Wolfgang Gerhardt entnehme, von einem „ausländischen Staatsmann“. So treffend dieses Bonmot auch ist, so wenig erfasst es doch den ganzen Wolfgang Gerhardt. Außenpolitik und internationale Beziehungen zählen zweifelsohne zu seinen Leidenschaften, und es ist keine Frage, dass er ein guter Außenminister geworden wäre. Aber der Politiker und der Mensch Wolfgang Gerhardt ist weitaus vielschichtiger. Es fehlt in dem Bonmot der Bildungspolitiker, der – wenn auch im Wesenskern konservative – Sozialliberale, der Moderator und historisch fundierte Interpret eines modernen Liberalismus. Ein exzellenter Diplomat hätte aus ihm werden können, dem regional geerdeten Kosmopoliten, daran kann kein Zweifel bestehen. Der Bundesrepublik wäre damit jedoch ein außergewöhnliches politisches Ausnahmetalent entgangen.
Was zunächst wie eine Tautologie klingt, ist gewollt; der Begriff hat durchaus seine Berechtigung. Was unterscheidet das gewöhnliche vom außergewöhnlichen politischen Ausnahmetalent? Das gewöhnliche politische Ausnahmetalent ist getrieben von unbändigem Machtwillen, es weiß seine Ellenbogen im politischen Machtkampf einzusetzen, kennt keine politischen Freunde, sondern innerhalb der eigenen Partei nur Verbündete und potentielle Konkurrenten und außerhalb ausschließlich Gegner; es hat, um Hans-Dietrich Genscher mit einer gegenüber dem Verfasser geäußerten Charakterisierung von Angela Merkel zu zitieren, Rasierklingen, wo bei anderen die Ellenbogen sitzen. Ein außergewöhnliches politisches Ausnahmetalent wie Wolfgang Gerhardt besitzt keine der vorgenannten Eigenschaften im Übermaß. Manche seiner politischen Weggefährten, die ich in Vorbereitung dieses Beitrags konsultiert habe, vermissten sie sogar explizit bei ihm. Stattdessen rühmten sie seine im politischen Betrieb und insbesondere bei Spitzenpolitikern eher selten zum Vorschein kommenden menschlichen Eigenschaften wie Anständigkeit, Bodenständigkeit, unbedingte Verlässlichkeit, Geradlinigkeit, seine Höflichkeit und seine Glaubwürdigkeit, aber auch die zähe Hartnäckigkeit in der Verfolgung seiner Ziele. Wie einer seiner ehemaligen engen Mitarbeiter schrieb, war und ist Wolfgang Gerhardt „der komplette Gegenentwurf zu den Wehners und Strauß‘ in der Politik.“ Viele andere Namen ließen sich hinzufügen, darunter sicherlich auch der seines Nachfolgers in den Ämtern des Partei- und Fraktionsvorsitzenden der FDP, Guido Westerwelle.
Zu fragen ist, wie eine Persönlichkeit wie Wolfgang Gerhardt mit derartigen für einen Spitzenpolitiker doch eher atypischen, eben außergewöhnlichen Eigenschaften den Weg in höchste politische Führungsämter finden konnte. Denn in die Wiege war es dem „Aufsteiger aus der hessischen Provinz“ wahrhaftig nicht gelegt, einige Jahrzehnte die hessische und die bundesdeutsche Politik mit zu gestalten und zu prägen. Es war, nach allem was man liest, die Förderung durch seine Mutter, gepaart mit eigener Zielstrebigkeit und großem Bildungshunger, die ihn von der dörflichen Volksschule zunächst auf die Realschule oder, wie es damals in Hessen noch hieß, die Mittelschule und dann aufs Gymnasium und zum Abitur führten. Bereits früh in seinem Studium an der Philipps-Universität Marburg begann er sich politisch zu engagieren, zunächst im Liberalen Studentenbund und bei den Jungdemokraten, ab 1965 dann auch als Mitglied der FDP.
Fasziniert habe ihn schon damals Ralf Dahrendorf als der große liberale Vordenker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Politisch imponiert habe ihm vor allem die Position des FDP-Mitbegründer Hans Wolfgang Rubin, einem der sogenannten Jungtürken in der nordrhein-westfälischen FDP und Befürworter einer neuen Ostpolitik. In den Liberalen Studentenbund sei er geraten, als er auf dem Weg zur Mensa an einem Stand des Liberalen Studentenbunds mit einigen LSD-Mitgliedern ins Gespräch gekommen sei. Deren Ansichten seien ihm recht vernünftig erschienen, worauf er beschlossen habe, sich dort zu engagieren. Inhaltlich motiviert war sein politisches Engagement nach eigenem Bekunden durch die Einsicht, dass die Bundesrepublik Deutschland eine neue Ostpolitik brauche, dass sie sich längerfristig durch das Beharren auf der Hallstein-Doktrin international isolieren werde und dass die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze Voraussetzung für den Erfolg einer neuen Ostpolitik sei. Diese Einsicht lag anscheinend im nicht-konservativen studentischen Milieu der damaligen Zeit in der Luft. Denn wenig früher verfasste der Autor dieser Zeilen, Generationskollege Wolfgang Gerhardts, als Student ein kleines handschriftlich überliefertes Manifest, in dem ebenfalls die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als unausweichlich beschrieben wurde.
Es waren für einen im Wesenskern liberalen Hochschulpolitiker keine einfachen Zeiten, schon gar nicht in Marburg. Der Liberale Studentenbund verstand sich als „radikaldemokratischer Verband“, pflegte im Gegensatz zu Mutterpartei intensive Kontakte in den Ostblock, näherte sich parteipolitisch der SPD an und vertrat zunehmend stärker sozialistische Programmpositionen. Noch zu Studienzeiten von Wolfgang Gerhardt deklarierte sich der LSD als Teil der APO, was schließlich zum Bruch mit der FDP führte. Ähnlich sah es bei den Jungdemokraten aus, bei denen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre zeitweise kapitalismuskritische Tendenzen die Oberhand gewannen. In Marburg scheint der Linkskurs dieser beiden Verbände nach Aussagen von Wolfgang Gerhardt allerdings weniger ausgeprägt gewesen zu sein als an anderen Universitäten.
Gerhardt hat das in seinen damals bereits ausgeprägten liberalen Grundüberzeugungen jedenfalls nicht angefochten. Obwohl er im Nebenfach Politikwissenschaft bei Wolfgang Abendroth studierte, einem in der Wolle gefärbten Marxisten, den Gerhardt als mitreißenden Hochschullehrer schildert, war er zu keinem Zeitpunkt von der akademischen Modeerscheinung des reichlich orthodoxen Marburger Marxismus infiziert. Als ein Rätsel oder vielleicht besser als ein politisches Wunder erscheint im Rückblick, wie in der damaligen Zeit Wolfgang Gerhardt als dezidierter Liberaler, wenn auch damals wohl eher Linksliberaler, es zum hessischen Landesvorsitzenden des LSD und zum stellvertretenden Landesvorsitzen der Jungdemokraten bringen konnte. 1970 wurde er, ebenfalls an der Universität Marburg, bei Leonhard Froese, einem der FDP zumindest nahestehenden Erziehungswissenschaftler, mit einer Dissertation über die Bildungspolitik der FDP nach 1945 zum Dr. phil. promoviert.
Nach einem zweijährigen Zwischenspiel als Leiter des Regionalbüros Hannover und als Referent in der Inlandsabteilung der Friedrich-Naumann-Stiftung zog es ihn stärker in die Politik. Zunächst wurde er persönlicher Referent des hessischen Innenministers Hanns-Heinz Bielefeld, einige Jahre später dann Büroleiter von dessen Amtsnachfolger Ekkehard Gries. Zwischen 1978 und 1994 war er, wenn auch mit einer kleinen Unterbrechung, Abgeordneter des hessischen Landtags. Danach gefragt, was seine wichtigste politische Entscheidung für ihn persönlich gewesen sei, nannte er gegenüber dem Verfasser die Übernahme des Vorsitzes der hessischen FDP nach der verlorenen Landtagswahl von 1982. Im Sog der Verratskampagne nach dem Koalitionswechsel der Bundes-FDP von der SPD zur CDU/CSU schied die FDP aus dem hessischen Landtag aus. Da jedoch in Wiesbaden keine Koalition zustande kam, gab es 1983 bereits wieder Neuwahlen, bei denen es der FDP unter Führung von Wolfgang Gerhardt gelang, erneut in den hessischen Landtag einzuziehen. Den Landesvorsitz der darniederliegenden, gerade aus dem Landtag ausgeschiedenen Partei zu übernehmen war ein mutiger Schritt, der zeigt, dass Wolfgang Gerhardt seine Chance zu nutzen wusste und mit dem Risiko des Scheiterns vor Augen den Hut in den Ring warf, obwohl die Zukunft der Partei damals ungewiss erschien. Das Feld dafür hatte er als anerkannt bester Debattenredner seiner Partei im Landtag bereitet.
Durchaus machtbewusst übernahm Gerhardt 1983 auch den Fraktionsvorsitz der FDP im Wiesbadener Landtag. Er war nun eine politische Größe, nicht nur in der Landespartei, sondern zunehmend auch in der Bundespartei, zu deren stellvertretendem Vorsitzenden er 1985 gewählt wurde. Noch jedoch war er in erster Linie Landespolitiker. So wurde er 1987 hessischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst und zugleich Stellvertreter des CDU-Ministerpräsidenten Walter Wallmann. Den Schritt auf die Bundesebene bereitete er dadurch vor, dass er als Vertreter Hessens im Bundesrat fungierte, der zweiten Parlamentskammer, in der es um ungleich wichtigere Probleme ging als auf Landesebene. Nachdem jedoch schon vier Jahre später die christlich-liberale Koalition in den hessischen Landtagswahlen von 1991 die Mehrheit verlor, endete die kurze exekutive Periode in der politischen Laufbahn Wolfgang Gerhardts. Ihn zog es nun vollends in die Bundespolitik. 1994 wurde er über die Landesliste der hessischen FDP in den Bundestag gewählt, was den Beginn einer fast 20-jährigen Abgeordnetentätigkeit auf Bundesebene bedeutete.
Bereits ein Jahr später wurde er Bundesvorsitzender seiner Partei, ein Amt, das er bis 2001 innerhatte, als er, nicht ganz freiwillig, in dieser Position von Guido Westerwelle abgelöst wurde. Dass er trotz seiner, wie die WELT ihm bescheinigte, sanften und unaggressiven Art durchaus auch ein machtbewusster Politiker war, belegt die Tatsache, dass er 1998 auch den Vorsitz der FDP-Bundestagsfraktion beanspruchte, was dem bisherigen Vorsitzenden, Hermann Otto Solms, ganz und gar nicht behagte. Es spricht für die Größe beider, Gerhardts und Solms, dass ihr persönliches Verhältnis dadurch nicht auf Dauer belastet wurde. Wenn er wollte, konnte Gerhardt durchaus kämpfen, allerdings hat er das viel zu selten gewollt, wie einige seiner durchaus wohlgesonnen Weggefährten ihm im Nachhinein bescheinigen.
Naturgemäß war der Fraktionsvorsitz der kleineren Oppositionspartei mit weniger politischer Gestaltungsmacht verbunden, als das bei einer Regierungsbeteiligung der FDP der Fall gewesen wäre. Gerhardts Motto als Fraktionsvorsitzender war das einer „kämpferischen Opposition“, die klar abgegrenzt vom bisherigen Koalitionspartner zugleich auch eine konstruktive Opposition sein wollte, indem man beispielsweise in der Frage des Staatsbürgerschaftsrechts zu Kompromissen mit der rot-grünen Koalition bereit war. Nach außen konnte Gerhardt in den acht Jahren seiner Tätigkeit als Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion deswegen hauptsächlich als kluger Debattenredner mit – im Vergleich zu vielen seiner Kollegen – politischem Tiefgang wirken.
Als Parteivorsitzender legte Gerhardt Wert darauf, die FDP als eigenständigen Koalitionspartner der CDU/CSU zu profilieren. So plädierte sie für eine Lockerung das damals noch sehr strengen Ladenschlussgesetzes, ferner für die allerdings erst unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel in Form einer Aussetzung beschlossene Abschaffung der Wehrpflicht und eine umfassende Modernisierung des Sozialversicherungssystems. In seine Zeit als Parteivorsitzender gehört die (allerdings nur vorübergehend erfolgreiche) Verhinderung eines von Jürgen Möllemann vehement geforderten eigenen FDP-Kanzlerkandidaten und des damit verbundenen sogenannten Projekts 18. Beides wurde später dann unter seinem Nachfolger bekanntlich doch noch realisiert.
Zu den Belastungen seiner Zeit als Bundesvorsitzender zählten ohne Zweifel die Auseinandersetzungen über den sogenannten Großen Lauschangriff, den die FDP nach einem Mitgliederentscheid und dem Rücktritt der Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger schließlich mit erheblichen Bauchschmerzen zustimmte. Dies führt zu Spannungen mit dem linksliberalen, von Burkhard Hirsch, Gerhart Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger repräsentierten Flügel der Partei. Es spricht für die integrierende Kraft Wolfgang Gerhardts, dass er damals die Partei zusammenhielt und seine Kritiker in Partei und Fraktion einband.
Die Hauptkritik an seiner Amtsführung kam allerdings von ganz anderer Seite, nämlich vom nordrhein-westfälischen Landeschef Jürgen Möllemann und vom schleswig-holsteinischen FDP-Vorsitzenden Wolfgang Kubicki. Beide warfen ihm vor, stärker Verwalter als Gestalter zu sein. Kritisiert wurde beispielsweise die Festlegung Gerhardts auf eine Koalition mit den Unionsparteien, von der man sich freimachen müsse, um offen zu sein für andere Koalitionskonstellationen. Hierbei fielen Worte wie „der schnarchende Löwe von Wiesbaden“ (Möllemann) oder „lahme Ente“ (Kubicki), Verunglimpfungen, die Wolfgang Gerhardt verletzt haben müssen. Es spricht gleichermaßen für seine Nehmerqualitäten und seine vornehme Zurückhaltung, dass er es beiden nicht in der Öffentlichkeit mit gleicher Münze heimzahlte.
Den Bundesvorsitz seiner Partei verlor er bereits im Januar 2001 nach einer intrigenreichen Auseinandersetzung mit seinem nach vorne drängenden aktivistischen Generalsekretär Guido Westerwelle, zu dessen Gunsten er auf den Vorsitz verzichtete, wohl auch, um einem die Partei potenziell spaltenden Machtkampf aus dem Wege zu gehen. Dass Gerhardt mit seinem Nachfolger im Parteivorsitz nicht immer zufrieden war und sich vor allem an der Art und Weise von dessen politischer Kommunikation stieß, belegen manche kritischen Äußerungen über den Kurs der Partei und die Forderung, wieder stärke liberale Inhalte in den Vordergrund zu stellen. Der Spaßwahlkampf, den Guido Westerwelle unter dem Einfluss von Möllemann und anderen Beratern 2002 veranstaltete, war Gerhardt sichtlich zuwider. Forderungen nach grundlegenden Reformen, die vom Bürger forderten, an manchen Stellen den Gürtel enger zu schnallen, und ein Wahlkampf in Form von Guidomobil, gelben Schuhsohlen Westerwelles mit der Zahl 18 in der Talkshow von Sabine Christiansen und dem Busenwunder Dolly Buster passten nach Auffassung Gerhardts einfach nicht zusammen.
Um ein Haar wäre Wolfgang Gerhardt wohl Außenminister geworden. Es fehlten nur wenige Tausend Stimmen bei der Bundestagswahl 2002 für eine Neuauflage der schwarz-gelben Koalition, diesmal unter einem Kanzler Edmund Stoiber. Wolfgang Gerhardt wäre ohne Zweifel ein guter, erfolgreicher Außenminister geworden. Er besaß sowohl die nötigen Kenntnisse und das Interesse an internationalen Fragen als auch das in diesem Amt besonders wichtige Fingerspitzengefühl, um auf dem internationalen Parkett nicht permanent in die dort aufgestellten Fettnäpfchen zu treten. Auch 2005, nach der vorzeitigen Auflösung des Bundestags, wurde Wolfgang Gerhardt als möglicher Außenminister gehandelt. Doch wieder reichte es nicht für eine schwarz-gelbe Koalition, weil die Unionsparteien bei dieser Wahl überraschend schwach abschnitten. Stattdessen kam es zur zweiten großen Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik.
Ein großer bürgerlicher Liberaler
Unser Freund Wolfgang Gerhardt ist tot. Er hat in der Führung der FDP und der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Wegweisendes geleistet. Wir werden ihn vermissen.
2006 übergab Gerhardt schließlich auch den Fraktionsvorsitz an Westerwelle. Zwar wurde er im September 2005 nochmals als Vorsitzender der Fraktion bestätigt, aber gleichzeitig fiel der Beschluss, ihn im Mai 2006 durch Westerwelle zu ersetzen. Dieser hatte darauf gedrungen, ähnlich wie vor ihm Wolfgang Gerhardt, Partei- und Fraktionsvorsitz in einer Hand zu vereinigen. Gewissermaßen als Kompensation wurde Gerhardt nun Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung, was er zwölf Jahre bis zum September 2018 blieb. Dieses Amt war ihm wie auf den Leib geschnitten. Hier konnte er viel freier gestalten, unermüdlich die Idee des Liberalismus als Redner verbreiten und einer alten Leidenschaft folgend verstärkt auf dem internationalen Parkett tätig sein. In der Rückschau sieht Gerhardt dies als eine der glücklicheren Perioden seiner beruflichen Tätigkeit an. Am meisten Spaß gemacht habe jedoch die Arbeit als Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, von der er sich auch nur widerwillig verabschiedete.
Wolfgang Gerhardt hat nicht die Politik der Bundesrepublik geprägt wie ein Bundeskanzler oder auch mancher Minister. Sein Einfluss war eher indirekter Natur, konzentrierte sich nach der kurzen Periode als Landesminister auf Partei und Fraktion. Ein Basta-Politiker war er dabei zu keiner Zeit. Vielmehr moderierte und integrierte er, wobei sowohl nach eigenem Bekunden als auch dem seiner politischen Weggefährten und Mitarbeiter er sich durchaus durchzusetzen wusste, wenn er etwas für richtig hielt. Seine Außenwirkung erreichte er vor allem als ausgezeichneter Debattenredner im Bundestag und als unverdrossen durchs Land reisender Verkünder eines zeitgemäßen Liberalismus.
Was versteht er darunter? Am besten lässt sich das als Quintessenz seiner programmatischen Reden im Bundestag und in der Öffentlichkeit und aus dem einen oder anderen von ihm gegebenen Interview rekonstruieren. Es finden sich bei ihm Bezüge auf die vier Wurzeln des Liberalismus, den kulturellen, bürgerrechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Liberalismus. Liberal bedeute, im Zweifel sich für die Freiheit zu entscheiden, aber gleichzeitig zu erkennen, dass Freiheitsoptionen nur von denen wahrgenommen werden können, für die ein wirtschaftliches, soziales und kulturelles Existenzminimum gesichert sei. Darin schlägt sich seine Grundhaltung als – wenn auch im Kern konservativer – Sozialliberaler nieder. Hierzu passt seine Überzeugung, der Gedanke der Sozialen Marktwirtschaft sei ein genuin liberaler Gedanke, was bedeute, sich von der Vorstellung der auf allen möglichen Gebieten quasi automatisch wirkenden Selbstheilungskräfte des Marktes zu verabschieden und sich klarzumachen, dass der Wirtschafts- und Finanzsektor eines strikten Ordnungsrahmens bedürfe, um das größtmögliche Wohlergehen aller zu gewährleisten. Das impliziert eine Abkehr vom Gedanken einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche, von der Bildung über die Kultur und den Städtebau bis hin zum sozialen Zusammenleben. Selbstbestimmung und Wahlfreiheit als Leitmotive einer liberalen Grundhaltung setzten folglich nicht den möglichst schwachen, sondern einen adäquat vorsorgenden Staat voraus, einen Staat, der möglichst vielen erlaube, ihre Wahlfreiheit wahrzunehmen. Das aber koste Geld; insofern müsse der Staat die Möglichkeit haben, sich zu finanzieren, nicht als Unternehmer, aber als Steuern erhebender Staat, als ein Staat, der sich nicht zulasten kommender Generationen weiter verschulden dürfe, sondern seine existierenden Schulden – und eben nicht nur die Netto-Neuverschuldung – abbaue. In einem solchen Staat ist für Steuersenkungen nur dann Platz, wenn die genannten vorrangigen Ziele erfüllt sind. Vorrangig seien die Einlösung des zentralen liberalen Programmsatzes der Gewährung von durch Bildung zu erreichenden Startchancengleichheit und eine Verhinderung einer weiteren, hochriskanten Ausdifferenzierung der Gesellschaft in viele Arme und wenige Reiche. Konsequent zu Ende gedacht darf man als Sozialliberaler ohne ideologische Scheuklappen auch über Transaktions- und Vermögenssteuern zumindest nachdenken dürfen.
Nicht vereinbar mit dem urliberalen Gedanken der Selbstbestimmung und der Wahlfreiheit des Einzelnen ist für Wolfgang Gerhardt die von vielen Sozialdemokraten gehegte Vorstellung der Erfolgsgleichheit. Denn diese widerspricht der nicht hinweg zu diskutierenden anthropologischen Grunderkenntnis von der naturgegebenen Ungleichheit der Menschen. Manche sind intelligenter, manche weniger intelligent; manche motivierter und zielstrebiger, andere sind es weniger; manche sind fleißiger, andere bequemer. Zwar spielt das Milieu, in dem man aufwächst, eine große Rolle bei der Ausprägung solcher Eigenschaften, aber selbst bei ansonsten gleichen Umweltbedingungen gibt es Unterschiede zwischen den Menschen, die sich selbst durch kompensatorische Erziehung nicht vollständig beseitigen lassen. Jeder, der mehrere Kinder hat oder beruflich mit Kindern zu tun hat, weiß ein Lied davon zu singen. Das Streben nach Erfolgsgleichheit führt zwangsläufig zu einer Einschränkung der Entfaltungsfreiheit. Ungleichheit der Veranlagung und der Fähigkeiten bedeutet selbstverständlich für Wolfgang Gerhardt nicht ungleiche Rechte. Gleichheit vor dem Gesetz, eine der liberalen Grundforderungen, besagt umgekehrt nicht Gleichheit der Natur des Menschen. Gleichberechtigung impliziert nicht Gleichstellung. Das eine ist für ihn, der von einem konsequent liberalen Standpunkt ausgeht, des anderen Feind. Diese liberale Grundhaltung entspricht der an Platon und Aristoteles angelehnten Maxime „Jedem nach seinem Verdienst und seiner Leistung“. Insofern ist das Gesellschaftsideal des Liberalismus für ihn das einer sozial abgefederten Meritokratie, d. h. einer Gesellschaft, in der jeder nach seiner individuellen Leistung entlohnt wird, ohne Rücksicht auf Herkunft und Beziehungen, eine Gesellschaft, in der die Tüchtigen herrschen.
Die verschiedenen politischen Grundströmungen basieren auf unterschiedlichen Menschenbildern. Den linken Strömungen liegt ein optimistisches Menschenbild zugrunde. Ist der Mensch erst von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zwängen befreit, die ihn in seiner Entfaltung einschränken, kann er solidarisch mit anderen ein freies, selbstbestimmtes Leben führen. Aus rechtlicher Gleichheit entsteht, so lautet das linke Credo weiter, unter den richtigen Umständen faktische Gleichheit. Der Konservativismus geht im Gegensatz dazu von einem pessimistischen Menschenbild aus. Der Mensch an sich ist nicht gut, sondern des anderen Wolf, um mit Hobbes zu sprechen, der das allerdings auf das Verhältnis der Staaten untereinander bezog. Deswegen müsse das Individuum durch klare, von einem starken Staat durchgesetzte Ordnungsprinzipien und ein striktes, an traditionellen Werten ausgerichtetes Regelwerk von Aufgaben und Pflichten eingehegt werden, damit es nicht sich selbst und anderen schadet.
Das von Wolfgang Gerhardt vertretene liberale Menschenbild ist im Prinzip weder optimistisch noch pessimistisch, sondern beansprucht für sich, realistisch zu sein. Der Mensch an sich ist demzufolge weder gut noch schlecht. Seine primäre Handlungsmotivation ist das Eigeninteresse und das Streben danach, seinen Nutzen zu maximieren und Schaden von sich und seiner Familie abzuwenden. Damit dies nicht in Anarchie und Sozialdarwinismus endet, muss der liberale Staat für das Leben miteinander und insbesondere für den wirtschaftlichen und finanzpolitischen Bereich einen klaren Ordnungsrahmen setzen und auch durchsetzen, ohne dabei über das absolut Notwendige hinaus Vorschriften zu machen. Gerhardt erkennt, dass es sich hierbei um eine Idealvorstellung handelt, die unterschiedliche Auslegungen erfährt und gegen die in der politischen Praxis vielfach verstoßen wird. Dessen ungeachtet fehlt der von ihm vertretenen liberalen Staats- und Gesellschaftsvorstellung das bevormundende Element, d. h. die Anmaßung zu wissen, was für einen selbst oder den Nächsten gut und schlecht sei, welches die Menschenbilder der Linken und Rechten wie auch der Grünen in sich tragen. Hier begegnen sich die Idee der Wertfreiheit der Wissenschaft und das Ideal der Werteneutralität des liberalen Staats.
Wolfgang Gerhardt ist Realist. Er weiß, dass das liberale Gesellschaftsprogramm, um nicht den unbescheideneren Titel einer Gesellschaftsphilosophie zu benutzen, anspruchsvoll ist, ja für viele eine Zumutung darstellt, weil es gerade keine inhaltlichen Verhaltensnormen liefert wie der Sozialismus oder der Konservativismus und damit auch keine Gewissheiten verspricht, die viele Menschen, wohl eine Mehrheit im Lande, erwarten. Das erklärt auch, dass liberale Parteien in Deutschland es schwer haben, vor allem in Krisenzeiten. Frei und selbst verantwortlich zu sein, autonom handeln zu können, was den Kern des „liberalen Subsidiaritätsprinzips“ (Wolfgang Gerhardt) darstellt, bedeutet eben auch für manche, in einem Zustand der Ungewissheit zu leben, immer wieder neu entscheiden zu müssen, was für einen selbst das Richtige ist. Hierzu sind nicht alle Menschen von Natur aus befähigt. Ziel eines wohlverstandenen Liberalismus muss es sein, so lese ich Wolfgang Gerhardts Philosophie, die Menschen zur Selbstständigkeit zu befähigen. Das Schlüsselwort Gerhardts ist Bildung, die Schaffung von Bildungschancen, die Förderung von nicht von Haus aus Privilegierten. Daher sein Insistieren auf Bildung als Grundvoraussetzung einer liberalen Lebensführung.
Er selbst hat das in geradezu exemplarischer Weise vorgelebt. Sein Lebensweg ist ein Beispiel dafür, wie ein Bub aus einfachen Verhältnissen, aus der tiefsten dörflichen Provinz, dies verwirklichen kann. Erleichtert wurde ihm das durch bestimmte charakterliche Eigenschaften, seine Zähigkeit, seine Zielgerichtetheit, sein Streben nach Autonomie und seine schon früh im Lebensweg gewonnene Erkenntnis, dass Freiheit eine Grundvoraussetzung eines erfüllten und erfolgreichen Lebens ist. In dieser Hinsicht, nicht nur in dieser, kann er geradezu als Vorzeigeliberaler gelten, als Mensch, dem es gelungen ist, sein Gesellschaftsideal an sich selbst zu verwirklichen.
Jürgen W. Falter, Politikwissenschaftler. Ordentlicher Professor an der Hochschule der Bundeswehr München (1973–1983), der Freien Universität Berlin (1983–1992) und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (1993–2012); seit 2012 Senior-Forschungsprofessor in Mainz; von 2000 bis 2003 Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft.