„Ein gewisser Stimmungswandel ist spürbar“
Der im April ins armenische Parlament gewählte Block YELK hat Anfang September überraschend den Vorschlag gemacht, dass das Land die Eurasische Wirtschaftsunion (EEU), verlassen solle. Damit greift das oppositionelle Parteienbündnis eine heikle Frage auf, die auch ein verändertes Stimmungsbild in der Bevölkerung widerspiegelt. Dies korrespondiert mit einer landesweiten Umfrage, deren Ergebnisse der FNF-Partner Analytical Centre on Globalisation and Regional Cooperation (ACGRC) am 12. September 2017 veröffentlich hat: knapp 51 Prozent der Befragten sehen die Auswirkungen der EEU-Mitgliedschaft Armeniens eher negativ.
freiheit.org sprach über diese neue Entwicklung, die aktuelle Stimmungslage im Land und Armeniens Spagat zwischen Moskau und Brüssel mit dem Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Südkaukasus, Peter-Andreas Bochmann.
Wie beurteilen Sie diese aktuelle Entwicklung in Armenien?
Die damalige Entscheidung Armeniens der EEU beitreten zu wollen, kam sehr überraschend. Eigentlich war das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union 2013 unterschriftsreif. Präsident Sersch Sargsjan hat jedoch offensichtlich dem Druck aus Moskau nachgegeben. Das löste nicht nur in Armenien allgemeine Verwunderung aus. Aber schon damals gab es auch Stimmen für einen deutlicheren EU-Kurs. Das offizielle Armenien argumentierte jedoch, dass man Russland als Schutzmacht in der Auseinandersetzung mit Aserbaidschan brauche. Mittlerweile ist eine gewisse Unzufriedenheit - zumindest in der Bevölkerung - zu spüren, da der Konflikt nach wie vor schwelt, und Russland mitnichten nur Armenien, sondern eben auch Aserbaidschan, insbesondere mit Waffenlieferungen unterstützt. Auch wirtschaftlich brachte die EEU-Mitgliedschaft – wenn man von verbilligten russischen Energielieferungen einmal absieht – kaum nennenswerte Vorteile. Der YELK-Vorschlag ist eher symbolisch zu sehen, der Stimmungen in der öffentlichen Diskussion aufgreift und auch dem politischen Selbstverständnis des Parteienbündnisses entspricht, mit dem es zur Wahl angetreten ist: eine deutlichere Hinwendung des Landes zur Europäischen Union.
Ist denn ein EEU-Austritt Armeniens zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt denkbar?
Ich denke nein, und auch der oppositionelle YELK-Block wird sich darüber im Klaren sein, dass diese Initiative derzeit keine parlamentarische Mehrheit erreichen kann. Möglicherweise kommt diese Diskussion aber auch der Regierung momentan nicht ungelegen. Das Land befindet sich seit langem in einem Spagat zwischen Moskau und Brüssel: der sicherheitstechnische Aspekt mit Russland als Schutzmacht sowie der wirtschaftlichen Abhängigkeit einerseits, der Wunsch nach einer weiteren Annäherung an die Europäische Union anderseits. Seit über 20 Jahren gibt es eine Zusammenarbeit mit der NATO und der Gesprächsfaden mit der Europäischen Union ist auch nach der überraschenden Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens nie abgerissen. Im Gegenteil, die Verhandlungen wurden weitergeführt und ein neues Partnerschaftsabkommen mit der EU – sozusagen eine abgespeckte Variante des Assoziierungsabkommens – soll noch in diesem Jahr unterzeichnet werden: Armenien als EU-Partner und EEU-Mitglied.
In diesem Kontext darf auch die internationale Gemengelage in der Region nicht unbetrachtet bleiben: die Achse Moskau-Ankara-Baku mit den drei Alpha-Tieren Putin, Erdogan und Alijew, dazwischen das kleine Armenien mit geschlossenen Grenzen zur Türkei und Aserbaidschan. Eine verstärkte innenpolitische Diskussion zu einer weiteren Hinwendung in Richtung EU und das Infragestellen der EEU-Mitgliedschaft wird auch Moskau nicht verborgen bleiben und könnte die Position von Präsident Sargsjan bei zukünftigen Verhandlungen stärken, beispielsweise bei wirtschaftlichen Zugeständnissen.
Was konkret sagt die aktuelle Umfrage von ACGRC aus?
Dass Armenien gute Beziehungen zu Russland unterhalten sollte, trifft auf einen breiten Konsens in der Bevölkerung und auch über lange Zeit in vielen Teilen nahezu aller politischen Strömungen – auch bei unseren liberalen Freunden. Zu groß erscheinen – wie bereits erwähnt – die wirtschaftliche und vor allem die militärische Abhängigkeit gegenüber Russland. Dementsprechend betrachtet auch eine Mehrheit der Befragten in der aktuellen ACGRC-Umfrage Russland als einen Verbündeten. Aber es ist ein gewisser Stimmungswandel spürbar. Die engen Beziehungen werden immer mehr hinterfragt. 40 Prozent der Befragten sehen Armeniens enge Bindungen an Russland als ein Hindernis für die Beziehungen zwischen dem Land und der EU, gegenüber 30 Prozent, die es nicht so sehen. Auf die Frage, ob Russland die Sicherheit Armeniens gewährleiste, antwortete eine überraschende Minderheit von 25.67 Prozent der Befragten mit Ja und 30.56 Prozent mit Nein.
Die Auswirkungen der Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion betrachten 50,67 Prozent als negativ, 45,33 Prozent als positiv. Allerdings werden die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes von 38,44 Prozent nur teilweise der EEU-Mitgliedschaft zugeschrieben – gegenüber 23,33 Prozent, die der EEU daran die Schuld geben (37,67 Prozent der Befragten sehen keinen Einfluss).
Ein ganz eindeutiges Ergebnis gab es allerdings auf die Frage, wie die Befragten die Nichtunterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommen beurteilen. 78,67 Prozent bewerten diese Entscheidung als negativ, 20,56 Prozent als positiv. In einer weiteren Frage positionieren sich 88,67 Prozent der Befragten für bessere Beziehungen zur EU, gegenüber 10,67 Prozent, die dies negativ werten.
Welche Schlussfolgerungen sind daraus für die Arbeit der Stiftung zu ziehen?
Ein gewisses, sich veränderndes Stimmungsbild spüren wir auch in unserer Arbeit. Natürlich sind die pro-europäischen Kräfte zu unterstützen. Wir arbeiten weiterhin mit den traditionellen Partnern unserer Stiftung aus dem NGO-Bereich und den liberalen Parteien zusammen. Daneben haben sich junge NGOs mit frischen Ideen und engagierten, unkonventionellen Aktivisten entwickelt, mit denen wir Gespräche führen und eine Zusammenarbeit sondieren. Diese jungen Leute sehen ihre Zukunft in Europa und wollen ihr Land verändern und vor allem in ihrem Land bleiben. Einem Land mit demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen. Sie müssen unterstützt werden, damit Stagnation und Resignation der letzten Jahre überwunden werden und die damit verbundene massive Auswanderung der letzten Jahre ein Ende hat.
Peter-Andreas Bochmann ist Projektleiter der Stiftung für die Freiheit für den Südkaukasus.