Rede zur Freiheit
"Es geht um einen Freiheitskampf, da darf es kein Zögern und Zaudern geben"
Am Abend des 25. April 2022 fand in Berlin im Allianz-Forum am Brandenburger Tor die diesjährige Rede zur Freiheit statt, im Veranstaltungskalender der Friedrich-Naumann-Stiftung stets ein Höhepunkt des Jahres. Diesmal war er mit besonderer Spannung erwartet worden. Es sprach die liberale Premierministerin von Estland, Kaja Kallas, und dies zwei Monate nach dem Überfall von Putins Russland auf die Ukraine.
Die Rede von Kaja Kallas bewegte alle, die sie vor Ort und über Livestream verfolgten. Sie sprach über ihre erste Begegnung mit dem Luftzug der Freiheit, der durch das Brandenburger Tor wehte, wie ihr Vater dies formulierte - bei ihrem Besuch in Ostberlin noch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs. Jetzt stand sie wieder da - am Pariser Platz mit der Freiheit längst in der Hand, aber gefährdet - durch den Ukraine-Krieg, der einen neuen Eisernen Vorhang durch Europa zu ziehen droht: zwischen Rechtsstaaten, Demokratien und Marktwirtschaften einschließlich ihrem Estland und autoritären Regimen von Russland über Weißrussland bis zur Ukraine, die militärisch angegriffen wurde.
Kaja Kallas‘ Botschaft war klar: Bis 1989 war ihr Estland in der Sowjetunion durch Zwang auf der falschen Seite, heute steht es - gegen Putins Russland - auf der richtigen, um der angegriffenen Ukraine zu helfen, denn die hat dieses Privileg nicht. Es geht um einen Freiheitskampf, da darf es kein Zögern und Zaudern geben. Putin muss diesen Angriffskrieg verlieren.
Sie hat recht. Ende der Vierzigerjahre war es Berlin, das zum Symbol der Freiheit wurde - unvergessen der Appell Ernst Reuters: „Bürger der Welt, schaut auf diese Stadt!“ 1989 waren es die Einwohner Mittel- und Osteuropas - einschließlich der DDR, die nach Freiheit riefen. Heute ist es die Ukraine, deren Bevölkerung - fast 50 Millionen Menschen - einen Rechtsstaat und die Demokratie wollen, nicht aber eine aufgezwungene autoritäre Macht.
Dies zu unterstützen, sind wir Deutsche verpflichtet. Kaja Kallas hat uns dies mit vielem deutlich gemacht: mit einer wunderbaren Rede, mit überzeugenden Argumenten und mit der Geschichte ihrer Familie, die belegt, was der Kampf für Freiheit und nationale Souveränität im 20. Jahrhundert bedeutete. Und dieser Kampf ist nicht vorbei, wie der Krieg in der Ukraine zeigt.
Es war ein besonderer Termin.
Begrüßungsworte Professor Dr. Karl-Heinz Paqué
Sehr geehrte Premierministerin Kallas, sehr geehrter Herr Dr. Förterer, sehr geehrte Mitglieder der nationalen Parlamente, verehrte Gäste, liebe Freunde,
ich freue mich, Sie im Namen der Friedrich-Naumann-Stiftung zur diesjährigen Rede zur Freiheit begrüßen zu dürfen. Die Rede zur Freiheit stellt jedes Jahr einen Höhepunkt in der Arbeit unserer Stiftung dar. Heute, vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, ist die Rede zur Freiheit notwendiger und wichtiger denn je. Denn unsere Freiheit, meine Damen und Herren, wird derzeit keine 1000 Kilometer von unserer eigenen Landesgrenze verteidigt.
Es sind die mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer, die für unsere freiheitlich-demokratischen Werte kämpfen - auf den Straßen und auf den Schlachtfeldern. Jeder ist daran beteiligt. Die politische Führung, angefangen von Präsident Selensky über Parlamentsabgeordnete bis hin zu lokalen Bürgermeistern, die darauf bestehen, trotz der unerbittlichen Bombardierung vor Ort zu bleiben. Furchtlose Bürgerinnen und Bürger, die versuchen, sich russischen Panzern in den Weg zu stellen. Soldatinnen und Soldaten, die für die Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung bereit sind, ihr Leben zu geben.
Wir Deutsche dürfen die Ukrainerinnen und Ukrainer in diesem wichtigen Kampf nicht alleine lassen. Denn es ist auch unser Kampf. Putin will ein anderes Europa – und das ist ganz bestimmt keines, das uns gefallen kann. Die Ukrainer kämpfen daher auch für unsere Freiheit und es ist unsere Pflicht, sie dabei zu unterstützen.
Gleichzeitig müssen wir auch in unsere eigene Resilienz investieren und das gleich in zweierlei Hinsicht: Erstens in unsere eigene Verteidigungsfähigkeit, um den Bedrohungen von heute und morgen entschieden begegnen zu können. Und zweitens durch die Stärkung unserer eigenen Demokratien und Institutionen, die immer wieder von den Feinden der Freiheit inner- und außerhalb unserer Grenzen angegriffen werden.
Die deutsche Bundesregierung hat dafür erste Weichen gestellt. In seiner historischen Rede vor dem Bundestag Ende Februar hat Bundeskanzler Olaf Scholz unsere Unterstützung für die Ukraine zugesagt und Investitionen in die eigene Sicherheit und Verteidigung angekündigt. Die „Zeitenwende“ mache diese Schritte notwendig. So dankbar ich dem Bundeskanzler für seine klaren Worte bin, so möchte ich dennoch betonen, dass der Begriff „Zeitenwende“ die politische Situation der letzten zwei Jahrzehnte verkennt – und möglicherweise zu falschen Schlussfolgerungen angesichts künftiger Herausforderungen und Antagonisten führt.
Zeitenwende hat etwas Plötzliches, ein überraschendes Moment. Sind wir wirklich von einem auf den anderen Tag in einer völlig anderen Welt aufgewacht? Kam dieser Krieg tatsächlich überraschend? Oder haben wir die Anzeichen nur nicht gesehen – oder gar sehen wollen? Mit dem Georgienkrieg 2008 und der Annektierung der Krim im Jahr 2014 hat Putin bereits seine ganze Skrupellosigkeit offenbart. Die Reaktion des Westens fiel damals eher mäßig aus. Zwar verurteilte man die Einverleibung ukrainischen Territoriums scharf, doch handfeste Konsequenzen gab es kaum.
Hielt man Putins Angriff auf die Krim für eine einmalige Ausnahme, die keiner so harten Bestrafung bedarf? Konnte uns der Kreml wirklich so heimtückisch hinters Licht führen, dass wir sein wahres Gesicht nicht sehen konnten?
Wer das skrupellose Vorgehen der russischen Führung gegen demokratische Kräfte im In- und Ausland in den vergangenen Jahren genauer studiert hat, muss zu dem Schluss kommen: Der Angriffskrieg auf die Ukraine kam nicht überraschend, er kam mit Ankündigung. Die Missachtung des Völkerrechts ist eine der wesentlichen Konstanten russischer Politik. Russlands Großmachtstreben wurde geflissentlich übersehen oder schlimmer noch, implizit akzeptiert.
Mahnende Stimmen, insbesondere die unserer Nachbarn im östlichen Mitteleuropa und den baltischen Staaten, wurden ignoriert. Die berechtigte Kritik an Nordstream 2 wurde mit dem Verweis auf die wirtschaftliche Notwendigkeit in den Wind geschlagen, während die geopolitische Brisanz des Projekts fahrlässig ausgeklammert wurde. Dieser Fehler, meine Damen und Herren, holt uns jetzt wieder ein und wird uns teuer zu stehen kommen.
Wir haben in den vergangenen Tagen und Wochen viele Schuldbekundungen und Selbstbezichtigungen von Politikern vernommen, die diese fehlgeleitete Russland-Politik mitgetragen haben. Diese Einsicht ist richtig und wichtig. Noch wichtiger ist es aber, vergangene Fehler durch entschiedenes Handeln heute und in Zukunft wettzumachen. Diese, wenn auch späte, Einsicht sollte Anlass geben, heute unverbrüchlich an der Seite der Ukraine zu stehen. Und sie sollte uns eine Lehre sein, auf die mahnenden Stimmen unserer Partner im östlichen Mitteleuropa zu hören und ihre Sicherheitsinteressen und berechtigten Sorgen endlich wahr- und ernstzunehmen.
Eine dieser mahnenden Stimmen ist heute unter uns. Es ist mir eine außerordentliche Ehre, Ihre Exzellenz, Premierministerin Kaja Kallas, als unsere Freiheitsrednerin vorzustellen.
Kaja Kallas ist die Premierministerin Estlands, einer kleinen Nation mit einer äußerst tragischen Geschichte im Zusammenleben mit Russland. Nicht nur aufgrund der Erfahrungen ihres Landes weiß Frau Kallas, den russischen Nachbarn einzuschätzen. Auch ihre eigene Familiengeschichte ist von einschneidenden Ereignissen geprägt, die zeigen, was es heißt, unter totalitärer Herrschaft zu leben.
Ihre Großmutter und Mutter – letztere war damals ein gerade einmal sechs Monate alter Säugling – wurden von Stalin nach Sibirien deportiert und für ein Jahrzehnt ins Exil verbannt. Ihr Großvater wurde in ein sibirisches Lager geschickt. Ihre Familiengeschichte prägt die Premierministerin bis heute und leitet ihr politisches Handeln.
Als Premierministerin und erste Frau in diesem Amt hat sie sich bereits heute einen Namen in den europäischen Geschichtsbüchern gemacht. Das überrascht nicht, denn die Geschichte des modernen Estlands, mit all ihren tragischen und glücklichen Wendungen, spiegelt sich in der Familiengeschichte Kallas wider: Ihr Ur-Großvater war einer der Gründer des modernen Estlands im Jahr 1918, am Ende des Ersten Weltkriegs, als die Landkarte Europas neu gezeichnet wurde. Ihr Vater, Siim Kallas, ebenfalls mit der Friedrich-Naumann-Stiftung eng verbunden, war von 2002 bis 2003 estnischer Premierminister und erster Vorsitzender der 1994 gegründeten Reformpartei in Estland. Dass Estland weltweiter Vorreiter in Sachen Digitalisierung und Vorzeigeland unter den Transformationsländern ist, verdankt es letztlich auch der Reformpartei, die so etwas wie eine stabile politische Konstante des Landes ist. Als Mitglied der europäischen und internationalen liberalen Parteifamilie, setzt sich die Partei für eine offene Gesellschaft, eine klare Westorientierung und technischer Fortschritt ihres Landes ein.
Wie ihr Vater und Urgroßvater vor ihr gestaltet Kaja Kallas heute, als Vorsitzende der liberalen Reformpartei und Premierministerin, die Zukunft Estlands mit. Mehr noch: Ihr Handeln wirkt nach ganz Europa rein. In den vergangenen Wochen und Monaten ist Premierministerin Kallas zu einer der führenden Stimme Europas gegen den Krieg in der Ukraine geworden. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, härtere Maßnahmen gegen Russland zu ergreifen und eine europäische Antwort auf Putins barbarischen Angriffskrieg zu finden.
Es war auch Premierministerin Kallas, die Bundeskanzler Olaf Scholz aufforderte, mit unserer historischen Praxis zu brechen und Estland zu gestatten, in seinem Besitz befindliche Waffen aus deutscher Produktion an die Ukraine zu liefern. Auch wird sie nicht müde, vor Putins Großmachtbestrebungen zu warnen und immer wieder zu betonen, dass Putin keine Atempause oder gar zweite Chancen eingeräumt werden dürfe. Sie fordert von uns allen, unseren Teil beizutragen, um unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand in Europa zu schützen.
Gleichzeitig zeichnet sich Premierministerin Kallas als ehemalige Europaabgeordnete durch ihren festen Glauben an die Fähigkeiten der westlichen Wertegemeinschaft und ihren unerschütterlichen europäischen Kompass aus. Ihre Zuversicht in die Stärke der freiheitlichen Welt gegenüber illiberalen und autoritären Regimen ist ansteckend und lässt auch in dunkelsten Stunden hoffen. Damit dient sie uns deutschen Liberalen als Beispiel. Wir müssen mit Vertrauen in die Strahlkraft unserer Werte in die Zukunft schauen. Nur so kann sich das freiheitlich-liberale Gesellschaftsmodell gegen die autoritären Regime dieser Welt durchsetzen. Wir haben das geistige Rüstzeug, um den Herausforderungen von heute und morgen zu begegnen. Und wir haben gleichzeitig die Verpflichtung, dies zu tun.
Ich möchte Sie jetzt herzlich einladen, mit mir Ihre Exzellenz Premierministerin Kaja Kallas zu begrüßen. Frau Kallas, wir freuen uns auf Ihre Rede zur Freiheit.
Herzlichen Dank!