Türkei
Oppositionsblatt Cumhuriyet per Gerichtsbeschluss ‘auf Linie‘ gebracht
Das Traditionsblatt Cumhuriyet, das im Jahre 1924 – kurz nach der Republik – gegründet wurde und somit die älteste Zeitung des Landes von überregionaler Bedeutung ist, galt bisher als eine der letzten regierungskritischen Tageszeitungen. Das sozial-liberale Blatt musste in den letzten Jahren viele Repressionen und Schikanen durchmachen; so wurden zahlreiche Journalisten, Redakteure und Kolumnisten der Zeitung auf Basis fragwürdiger Terrorvorwürfe mundtot gemacht. Präsident Erdoğan hatte sich sogar persönlich eingeschaltet: Er machte den ehemaligen Chefredakteur der Zeitung, Can Dündar, zu seinem (zwischenzeitlichen) „Erzfeind“, nachdem dieser mutmaßliche geheime Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an Islamisten in Syrien aufgedeckt hatte. Erdoğan nannte Dündar vor laufenden Kameras einen „Terroristen“ und schwor, ihn ins Gefängnis zu bringen. Selbst die rückläufigen Verkaufszahlen konnten das Blatt bis dato jedoch nicht in die Knie zwingen.
Die Zeitung befindet sich im Besitz einer Stiftung, deren elfköpfiger Vorstand nach einem jahrelangen internen Machtkampf nun ausgetauscht worden ist. Eben diese Stiftungsstruktur hatte der Zeitung in diesen schwierigen Zeiten das Überleben gesichert. Aufgrund der in der türkischen Medienlandschaft untypischen Eigentumsstruktur konnte Erdoğan die Zeitung nicht einfach – wie ansonsten immer wieder mit anderen, kritischen Zeitungen praktiziert – durch befreundete Unternehmen aufkaufen und über Nacht „auf Linie“ bringen lassen – so wie zuletzt durch den Kauf der Doğan-Gruppe (u.a. „Hürriyet“) durch die AKP-nahe Demirören-Holding. Wer Cumhuriyet kontrollieren wollte, musste die Stiftung kontrollieren. So konnte die Zeitung auch in schweren Zeiten ihre oppositionell-kritische Ausrichtung wahren.
Doch nun könnte damit Schluss sein. Denn die türkische Justiz hat die Neuwahl des Stiftungsvorstandes angeordnet, der die politische Linie der Zeitung maßgeblich bestimmt. Im Vorstand stehen sich seit Jahren zwei Lager verbissen gegenüber: Reformer gegen nationalistische Kemalisten. Letzteren Kräften in der Stiftung passte der links-liberale Kurs des Blattes schon lange nicht mehr, den der einstige Chefredakteur Dündar ganz wesentlich angeschoben hatte. Dündar hatte die Berichterstattung des einstigen Parteiblatts der Kemalisten hin zu einer modernen Mitte-links-Zeitung geändert, die sich den Kurden und anderen Minderheiten gegenüber öffnete und sich den historischen Konflikten der Republik stellte. Die nostalgischen Nationalisten, die sich offenbar eine Türkei zurückwünschen, in der nicht über die Rechte von Kurden, Armeniern und Aleviten debattiert wird, erzwangen jedoch jetzt vor Gericht die Neuwahl des Vorstandes – bei der sie überraschenderweise obsiegten.
Nur eine halbe Stunde nach der Neuwahl entließ der neue Vorstand, der nun aus Ultranationalisten und Kemalisten besteht, den bisherigen Chefredakteur – und Dündar-Nachfolger – Murat Sabuncu und dessen drei wichtigste Mitarbeiter. Daraufhin reichten mehr als 20 Journalisten ihre Kündigung ein. In nur wenigen Tagen verließen etwa die Hälfte der rund 60 Redakteure und Kolumnisten das oppositionelle Blatt, darunter einige der wichtigsten Journalisten des Landes. Die Zeitung ließ verlauten, ihr Kurs sei nun „zur Aufklärung und den Reformen Atatürks zurückgekehrt“. Der Abschiedsartikel von Chefredakteur Sabuncu wurde von der Webseite der Zeitung entfernt, andere Kolumnen gar nicht gedruckt. In seinem Abschiedswort schrieb Sabuncu, der 17 Monate für seine Arbeit im Gefängnis gesessen hat, das Engagement für das Blatt habe ihn immer „mit Stolz“ erfüllt. Deshalb werde niemand von ihm „ein böses Wort“ über Cumhuriyet hören.
Alev Coşkun (82), Fahnenträger des kemalistischen Flügels und ehemaliger CHP-Parlamentarier, wurde zum Vorstandsvorsitzenden der Stiftung gewählt, Aykut Küçükkaya (45) löst Murat Sabuncu als Chefredakteur ab. Coşkun war bereits nach 2004 Vorstandschef der Stiftung. Coşkun und Küçükkaya gehören zu denjenigen der nationalistischen Führungsriege, die vor zwei Jahren im Cumhuriyet-Prozess gegen ihre eigene Zeitung ausgesagt hatten. Im Oktober 2016 war die damalige Chefetage um Chefredakteur Sabuncu sowie mehrere Journalisten der Zeitung festgenommen und über Monate in Untersuchungshaft gehalten worden. Die inhaftierten Journa-listen mussten sich vor Gericht für ihre Berichterstattung verantworten; der Zeitung wurde damals vorgeworfen, durch ihre Artikel zugleich für die „marxistisch-leninistische“ PKK und die (islamische) Gülen-Bewegung – zwei Organisationen, die sich konträr gegenüberstehen – Propagandaarbeit geleistet zu haben. Im Gerichtsverfahren hatte die Gruppe um Coşkun behauptet, dass sich der Kurs der Zeitung geändert habe, nachdem Dündar Chefredakteur geworden sei. Der Prozess gegen die Cumhuriyet–Redakteure endete im April 2018 mit der Verurteilung von mehr als einem Dutzend Mitarbeitern zu mehr als 70 Jahren Haft; Berufungsverfahren sind anhängig. Die ehemaligen Mitarbeiter um Coşkun und Küçükkaya erzwangen vor Gericht auch, dass die Vorstandswahl der Stiftung im Jahre 2014 für ungültig erklärt wurde – was nun Neuwahlen zur Folge hatte.
Der Führungswechsel bei der Cumhuriyet wird von vielen kritischen Stimmen als weiterer Tiefschlag gegen die Pressefreiheit im Lande betrachtet. „Ist das der Todesstoß für das, was von der freien Presse in der Türkei noch übrig war?“, fragt Kati Piri, die niederländische Türkei-Berichterstatterin des EU-Parlaments, die in Ankara inoffiziell als ‘Persona non grata‘ betrachtet wird.
Der bekannte Investigativjournalist und Raif-Badawi-Preisträger 2017, Ahmet Şık, der Cumhuriyet bereits vor einigen Monaten verlassen hatte, nachdem er als HDP-Abgeordneter ins Parlament gewählt worden war, protestierte in den sozialen Medien: „Zwischen denen, die uns ins Gefängnis brachten und falsche Zeugenaussagen machten […] und jenen, die den Staat ausplündern und das Land ausrauben, besteht kein Unterschied.“ Wie sich der Wechsel an der Stiftungsspitze und in der Cumhuriyet-Redaktion in der Berichterstattung des Blattes niederschlagen wird, bleibt abzuwarten.
Der Text ist ein Abschnitt aus unserem Türkei Bulletin 17/18, dieser ist auch hier zu finden.