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Türkei
„Segen Allahs“

Ausnahmezustand in der Türkei ausgelaufen und umbenannt
„Segen Allahs“

Endlich eine gute Nachricht aus der Türkei, zumindest auf den ersten Blick: Präsident Erdoğan hat den landesweiten Ausnahmezustand nach zwei Jahren und sieben Verlängerungen letzte Woche auslaufen lassen.

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Endlich eine gute Nachricht aus der Türkei, zumindest auf den ersten Blick: Präsident Erdoğan hat den landesweiten Ausnahmezustand nach zwei Jahren und sieben Verlängerungen letzte Woche auslaufen lassen. Der OHAL, wie der Ausnahmezustand auf Türkisch abgekürzt wird, war wenige Tage nach dem vereitelten Coup d‘etat im Sommer 2016 eingeführt worden. Zum ersten Mal seit 1987 hatten die westtürkischen Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir Bekanntschaft mit dem Ausnahmezustand gemacht.

Der Notstand war anfangs eine legitime Maßnahme gewesen, schließlich musste die Regierung in der Putschnacht einen existentiellen Angriff abwehren. Der OHAL war offiziell dazu eingeführt worden, die Gülenisten, die für den Staatsstreich verantwortlich gemacht wurden, in der Staatsbürokratie zu entlarven und zu inhaftieren, mit dem Ziel, ‘‘die Gefahren für die türkische Demokratie und den „Rechtsstaat“, so Erdoğan bei der Verkündung des Ausnahmezustands am 21. Juli 2016, zu beseitigen. Doch kurz nach Einführung wurde allen klar, dass die Regierung und der autoritär regierende Erdoğan dieses Instrument ausnutzen würde, oppositionelle Stimmen aller Couleur mundtot zu machen. Wie eine bleierne Decke hat er auf dem Land gelegen, hat jede unerwünschte Regung der Zivilgesellschaft erstickt. Der blutige Putschversuch in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 war noch nicht ganz niedergeschlagen, da nannte ihn Präsident Erdoğan einen „Segen Allahs“. Im Nachhinein betrachtet wird deutlich, was Erdoğan damit gemeint hat.

Erdoğan hat die Zeit des Ausnahmezustands für einen tiefgreifenden Umbau von Staat und Gesellschaft genutzt. Das Land ist jetzt offiziell eine Präsidialdemokratie mit einem exekutiven Präsidenten an der Spitze, dessen Vollmachten nahezu unbegrenzt sind.

Nun ist es Zeit für eine kurze Bilanz der zwei Jahre unter dem OHAL.

Regieren per Dekret

Das Kabinett, unter der Leitung des Präsidenten, veröffentlichte in den vergangenen zwei Jahren insgesamt 36 Dekrete, genauer: „Erlasse mit Gesetzeskraft“ (türk.Kanun Hükmünde Kararname, kurz KHK) mit denen das Land quasi am Parlament vorbei regiert wurde. Diese Dekrete betrafen verschiedenste Bereiche des Lebens: Mal wurden zehntausende Staatsbeamte entlassen, ein anderes Mal wurden Kuppelshows im Fernsehen verboten oder Regulierungen zum Gebrauch von Winterreifen festgelegt.

Für reichlich Diskussionsstoff sorgte die Frage, ob das türkische Verfassungsgericht für die Kontrolle der Dekrete auf Verfassungskonformität zuständig sei oder nicht. Während die AKP-Regierung argumentierte, wonach Dekrete im Ausnahmezustand vor dem Verfassungsgerichts nicht angefochten werden können, argumentierte die Opposition mit einem anderen Artikel des Grundgesetzes, wonach Dekrete nur mit den direkten  Gründen des OHAL, also in diesem Falle die Bekämpfung der Gülen-Bewegung, in Zusammenhang stehen dürfen. Während das Verfassungsgericht im Jahre 1992 noch Dekrete für nichtig erklärt hatte, da sie nicht im kausalen Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand standen, erklärte es sich 2016 für nicht zuständig.

Um Einsprüche des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg zu verhindern, wurde nach einigen Monaten eine parlamentarische Kommission eingerichtet, bei der entlassene Beamte Beschwerde einreichen können. Die Kommission ist völlig überlastet – von den insgesamt 130.000 Entlassungen aus dem Staatsdienst hat sie nur wenige tausend rückgängig gemacht -  und ihre Neutralität ist fraglich. Aber weil es diese Kommission gibt, ist nach Ansicht der Straßburger Richter der Rechtsweg innerhalb der Türkei nicht ausgeschlossen.

Entlassungen, Festnahmen, Inhaftierungen

Knapp 130.000 Staatsbedienstete sind nach offiziellen Angaben wegen Verbindungen zum Putschversuch oder zur Gülen-Bewegung entlassen worden, unter ihnen Lehrer (60.532), Polizisten (24.455), Soldaten (7.267), Staatsanwälte und Richter (4.560) sowie Akademiker (5.705). Selbst nach dem blutigen Militärputsch vom 12. September 1980 lag die Zahl der entlassenen Staatsbeamten weit niedriger (4.891). Die Zahl der Suspendierungen liegt bei über 118.000.

Die parlamentarische Kommission, die die unrechtmäßigen Entlassungen untersuchen soll, hat bis zum 22. Juni 2018 von den knapp 110.000 Fällen, die sie erreichten, weniger als 22.000 bearbeitet. Von diesen wiederum konnten nach der Untersuchung durch die Kommission etwa 1.300 Personen an ihren ursprünglichen Arbeitsplatz zurückkehren.

Die Zahl der Inhaftierten lag im April 2018 laut Angaben des Innenministeriums bei über 50.000. Nach Medienberichten und anderen Quellen waren darunter auch zahlreiche Menschenrechtler, Journalisten und Oppositionspolitiker. So befinden sich immer noch zahlreiche Abgeordnete und Bürgermeister, vor allem der pro-kurdischen HDP – u.a. die ehemaligen Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ – ,weiterhin in Haft. Knapp 100 gewählte Bürgermeister und deren Ortsverwaltungen, vor allem im kurdischen Südosten des Landes, wurden durch staatliche Treuhänder ersetzt. Mehrere Quellen belegen, dass die Türkei weiterhin das Land mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit ist, die Zahl liegt bei mindestens 150.

Umgerechnet wurden in den zwei Jahren Ausnahmezustand also jeden Tag 70 Personen festgenommen, 163 suspendiert und 180 aus dem Staatsdienst entlassen.

Verfolgung der Medien

Unter dem Ausnahmezustand wurden bislang 70 Zeitungen, 20 Zeitschriften, sechs Nachrichtenagenturen, 18 Fernsehkanäle sowie 22 Radiostationen verboten. Neben den über 150 inhaftierten Journalisten verloren weitere 2.500 ihren Job. Zudem wurden 1.748 Stiftungen und Vereine geschlossen.

Schließung von vorgeblich gülenistischen Einrichtungen

Vor allem den Bildungs- und Gesundheitssektor traf der Ausnahmezustand hart. 15 Universitäten, 934 private Schulen, 109 Schüler- und Studentenwohnheime sowie  49 Gesundheitseinrichtungen wurden per Dekret geschlossen.

Die größte Oppositionspartei des Landes, CHP, hält in ihrer eigenen Bilanz fest, dass mindestens 25 Menschen, die zuvor aus dem Staatsdienst entlassen worden war, sich das Leben genommen haben. Darunter seien Imame, Polizisten, Ärzte und Soldaten gewesen. Acht der Selbstmorde seien in den Gefängnissen passiert.

Nach dem OHAL ist vor dem OHAL

Mit dem Auslaufen des Notstands scheint sich die Lage nun zu bessern, jedoch nur auf dem Papier. Erdoğan und seine neue Regierung agieren nach dem Motto: Nach dem OHAL ist vor dem OHAL. Dass mit dem Ende des OHAL auch die Verhaftungen und Entlassungen aufhören, zeichnet sich nicht ab, vor wenigen Tagen verloren nochmal ganze 18.000 Lehrer, Polizisten, Soldaten ihre Arbeit. Die Regierung hat für die Zeit danach bereits Anti-Terror-Gesetze vorbereitet. Demnach können Verdächtige festgehalten werden, ohne einem Richter vorgeführt zu werden, gewöhnlich für 48 Stunden. Die Polizeihaft kann unter bestimmten Umständen aber auf zwölf Tage verlängert werden. Neue Macht bekommen die vom Staat eingesetzten Provinzgouverneure. Die „Supergouverneure“ können „aus Sicherheitsgründen“ für jeweils 15 Tage die Bürger daran hindern, bestimmte Orte zu betreten oder zu verlassen. Das Innenministerium darf weiterhin die Pässe der Verdächtigen einziehen. Das gilt auch für deren Ehepartner. Regierungskritische Medien warnen schon, dass die Regierung mit neuen Regelungen den Ausnahmezustand unter einem anderen Namen permanent machen wolle.

Aret Demirci ist Projektkoordinator im Stiftungsbüro in Istanbul.