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Enteignungsdebatte
Verstaatlichung – ein Gespenst kehrt zurück

Karl-Heinz Paqué

Karl-Heinz Paqué

© Photothek / Thomas Imo

Wer ein längeres Gedächtnis hat, wird sich erinnern: In den frühen 70er-Jahren forderten junge Sozialisten und Kommunisten an westdeutschen Universitäten umfassende Verstaatlichungen der Produktionsmittel. Ziel war es, die Ausbeutung der abhängig Erwerbstätigen durch Arbeitgeber in privaten Unternehmen des Kapitalismus zu beenden. Die Marktwirtschaft sollte durch eine Staatswirtschaft ersetzt werden, ganz im Sinne des marxistischen Zeitgeistes, der damals in Mode war.

Seit den frühen 80er-Jahren verschwand diese Forderung aus dem Repertoire der westdeutschen wirtschaftspolitischen Kontroversen. Die Ziele der politischen Linken verschoben sich – hin zu einer Agenda der antikapitalistischen Weltrettung: für Frieden und gegen Kernkraft und atomare Aufrüstung. 

Dafür gab es viele Gründe, einer davon negativ, aber zentral: Jenseits des Eisernen Vorhangs ließ sich besichtigen, was nach drei Jahrzehnten – gerade mal einer (!) Generation – dabei herauskommt, wenn man die Staatswirtschaft umsetzt. Der Staat als Unternehmer erwies sich dort als völlig außerstande, ohne die Signale des lokalen, nationalen und globalen Marktes wettbewerbsfähige Produkte zu erschwinglichen Preisen herzustellen und ordentliche Löhne in konvertibler Währung zu zahlen. Es herrschte triste graue Mangelwirtschaft, wo man nur hinschaute.

Schmerzhafter Strukturwandel im Zeitraffer

In Polen führte dies zum heroischen Aufstieg der Solidarnosc-Opposition und schließlich zum Kriegsrecht. In der DDR verrottete die Bausubstanz, es fehlte überall an Investitionen. Es herrschte bittere Wohnungsnot, und die einst grandiosen Gründerzeitvillen der mitteldeutschen Städte zerfielen Schritt für Schritt – für jeden Besucher mit dem bloßen Auge erkennbar. Der Autor dieses Beitrags war einer von ihnen.

Als dann schließlich vor 30 Jahren der Eiserne Vorhang fiel, gab es einen radikalen und schmerzhaften Strukturwandel im Zeitraffer, der selbst in der DDR und der damaligen Tschechoslowakei, den führenden sozialistischen Industrieländern, zu einer gewaltigen Krise führte und bis heute tiefe Spuren und bittere Erinnerungen hinterlässt.

Aber immerhin: Die Marktwirtschaft war wiederhergestellt und wurde nicht mehr infrage gestellt. In der Folge avancierten sogar sozialdemokratische Politiker wie der britische Premier Tony Blair und der deutsche Kanzler Gerhard Schröder zu Stars einer neuen Marktwirtschaft, die sich übrigens vom rauen Kapitalismus Amerikas weiterhin deutlich unterschied.

Die Vorschläge von Kevin Kühnert sind völlig ungeeignet, um der Problemlage gerecht zu werden.

Karl-Heinz Paqué
Karl-Heinz Paqué

Eigentlich sollte man meinen, dies sei historische Lektion genug, um die Politik endgültig von der Vision umfassender Verstaatlichungen zu kurieren. Und dies umso mehr, als es längst zum guten politischen Ton gehört, die private unternehmerische Innovationskultur als wünschenswertes Merkmal des gewerblichen Mittelstands anzusehen. Weit gefehlt! 

Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert hat als erster prominenter Sozialdemokrat die Forderung der breit angelegten Verstaatlichung wieder aufgegriffen – im Schlepptau des Vorsitzenden der Grünen, Robert Habeck, der das Mittel „zur Not“ für die Wohnungswirtschaft empfahl, um die Mietpreise zu kontrollieren und den Wohnungsbau staatlich zu lenken.

Auch Nahrungsmittel sind Grundbedürfnisse

Kühnert geht in jüngsten Äußerungen noch einen großen Schritt weiter: Er hält es „nicht für ein legitimes Geschäftsmodell, mit dem Wohnraum anderer Menschen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten“. Er sieht also im Wohnraum ein Grundbedürfnis und sakrosanktes Gut, mit dessen Bereitstellung kein Geld verdient werden darf, schon aus moralischen Gründen. 

Mit Verlaub: Das ist absurd. Auch Nahrungsmittel sind Grundbedürfnisse. Soll deshalb der Bäcker verstaatlicht werden? Es steckt aber mehr dahinter als ein missglückter Ausflug in die Sozialethik. Kühnert will, wie er selbst sagt, den Kapitalismus überwinden und generell zu einem sozialistischen Wirtschaftsmodell übergehen. So solle jeder nur noch jenen Wohnraum besitzen dürfen, den er selbst bewohnen kann – im Idealfall eine genossenschaftliche Lösung ohne jede Vermietung. Und auch die Verstaatlichung weiterer Branchen sieht er positiv, etwa der Autoindustrie.

Das ist nun wirklich radikal. Man könnte diese Aussagen als originelle Gedankenspielerei eines Außenseiters abtun, aber sie kommen eben von einem prominenten Sozialdemokraten, der ernst genommen werden will. Und er findet bei Grünen und Linken, wenn überhaupt, nur verhaltenen Widerspruch. Wir stehen also doch an einer Art Wegmarke der Debatte, und die verlangt Klartext. Es geht immerhin um unser Wirtschaftssystem, Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft. Man muss sich deshalb dreier verblüffend einfacher Erkenntnisse erinnern.

  1. Mehr Angebot, niedrigere Preise, bessere Qualität und mehr Vielfalt von Gütern gibt es auf Dauer nur dann, wenn privates Kapital über wirtschaftliche Anreize in die gewünschten Produktionslinien gelenkt wird – und zwar durch Marktsignale. Dies gilt für Wohnungen genauso wie für Nahrungsmittel und für Autos. Es ist nichts anderes als das Urprinzip der Marktwirtschaft – und letztlich die entscheidende Rechtfertigung für sie. Genau dies hat doch Ludwig Erhard im Sinn gehabt. Es gilt völlig unverändert auch heute.
  2. Natürlich lässt sich durch steuerliche Anreize oder Subventionen die Produktion steigern. So geschah es zur Bekämpfung der extremen Wohnungsnot in der frühen Nachkriegszeit, als Millionen von Vertriebenen schnellstmöglich ein Dach über dem Kopf suchten. Und es geschah im Zug des Aufbaus Ost in den frühen 90er-Jahren, als Bau und Renovierung von Wohnungen kräftig staatlich unterstützt wurden. Darüber lässt sich dann im Einzelnen politisch kräftig streiten. Aber Verstaatlichungen sind dabei weder nötig noch nützlich und zielführend.
  3. Die Erfahrung lehrt, dass sich der Staat durch Enteignungen nicht nur in eine fragwürdige unternehmerische Verantwortung begibt, sondern auch seinen Haushalt massiv belastet. Denn er muss die Käufe finanzieren: durch Steuereinnahmen oder Kreditaufnahme am Kapitalmarkt. Tut er dies im großen Stil, kommt er schnell in eine gefährliche Schieflage. Tut er es nicht und verstaatlicht mit unzureichender oder ohne Entschädigung, untergräbt er die Eigentumsordnung und schreckt private Investoren ab, macht also die Not nur noch schlimmer.

Fazit: Die Vorschläge von Kevin Kühnert sind völlig ungeeignet, um der Problemlage gerecht zu werden. Das muss unmissverständlich gesagt werden. Es ist gut, dass die SPD sich jüngst davon klar distanziert hat – sonst liefe sie Gefahr, sich auf den tiefsten Abwegen ihrer eigenen Geschichte zu verirren. Denn durch die Verabschiedung des Bad Godesberger Programms vor gut 60 Jahren haben die Sozialdemokraten mit Ludwig Erhards sozialer Marktwirtschaft eigentlich ihren Frieden gemacht – ein großer Schritt nach vorne, von dem sie noch heute zehren. Sonst würde sich schnell die Frage stellen: Wollen sie wirklich in die grauen Vorzeiten ihrer eigenen marxistischer Ideologie zurück? Und wollen andere Repräsentanten des linken Spektrums ihnen folgen?

 

Dieser Beitrag erschien am Freitag, 3. Mai bei welt.de und ist auch hier zu finden.