Delegation
Welche Zukunft für die Ukraine- und Russlandpolitik?
Die Gretchenfrage der Ukraine an die Europäische Union, und wie man angesichts von wachsender Repression und anhaltender Aggression im Donbas mit Russland umgehen soll, das sind entscheidende Fragen für die Zukunft Europas. Christian Lindner, FDP-Fraktionsvorsitzender und seine Fraktionskollegen Bijan Djir-Saraj, Außenpolitischer Sprecher, Renata Alt, Sprecherin für Mittel- und Osteuropa und Michael Link, Europapolitischer Sprecher der Fraktion, haben sich in Gesprächen mit Staatsvertretern sowie liberalen Partnern in Kiew und Moskau ein Bild vor Ort gemacht.
Die Delegationsreise begann in der Ukraine. In Kiew drehten sich die Gespräche um die Konfliktsituation im Donbas und die Aussichten für eine Umsetzung der Minsker Vereinbarungen. Die Treffen mit Vertretern des jungen Kiewer Regierungsteams dämpften Erwartungen, die der Normandie-Gipfel im Dezember 2019 geweckt hatte: Die militärischen Aktivitäten seitens der von Russland unterstützten Separatisten sind seit Neujahr merklich aufgeflammt, beinhalten zunehmend Sniper-Angriffe, und die Rekonstruktion der Infrastruktur an den „entflochtenen“ Punkten scheint nur von ukrainischer Seite voranzugehen. Ein Bemühen der ukrainischen Regierung um die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen wurde in den Gesprächen ebenso deutlich wie die Unmöglichkeit, unter den derzeitigen Bedingungen – quasi mit vorgehaltener Waffe – in den besetzten Gebieten Wahlen durchzuführen. Der Weg zur Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität bleibt weit und ein Interesse daran bei den Treffen in Moskau bislang nicht erkennbar. Neben den zahlreichen Gesprächen fanden die Abgeordneten Zeit, den Maidan zu besuchen und der Menschen zu gedenken, die vor nunmehr fast sechs Jahren ihr Leben für die Freiheit in ihrem Land ließen.
Die FDP-Abgeordneten brachten die Betonung einer einheitlichen Position der EU gegenüber Russland auch nach Moskau mit und hielten an der Bedingung von substantiellem Fortschritt für die Lockerung der Sanktionen gegenüber Russland fest.
In Moskau wurden mit Entscheidungsträgern aus Außen- und Wirtschaftspolitik die Möglichkeiten der Zusammenarbeit trotz des anhaltenden Konflikts erörtert. Christian Lindner betonte, den Austausch zwischen jungen Menschen, in Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft ausbauen zu wollen, um den Konflikt langfristig zu überwinden. Intensive Diskussionen mit liberalen russischen Experten und Expertinnen zu Innen- und Außenpolitik konnten dabei helfen, das Verständnis weiter zu vertiefen. Ein Besuch bei der Menschenrechtsorganisation Memorial im Gespräch mit Prof. Irina Scherbakowa legte den Blick auf die Aufarbeitung der politischen Repression während der Sowjetunion sowie die Menschenrechtslage und Repression im heutigen Russland. Nach einem Austausch mit der jungen Parteiführung der russischen ALDE-Partnerpartei Jabloko, zollte die Delegation dem verstorbenen Stiftungspartner Boris Nemzow, liberaler Politiker und ehemaliger Vizepremierminister, der 2015 in Sichtweite des Kremls feige erschossen wurde, den Respekt und legte Blumen am Bürgerdenkmal „Nemzow-Brücke“ zu seiner Ehren nieder.
Ein weiteres wichtiges Thema der Gespräche in Kiew und Moskau war das langfristige Ziel eines EU-Beitritts der Ukraine, das inzwischen in der Ukraine in der Verfassung festgeschrieben ist. Sie wird von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen, während russische Staatsvertreter eine Logik von Einflusssphären vertreten, in der ein Beitritt einer Absage an russische Interessen gleichkäme. Während man in Kiew betonte, dass jedes laufende Reformprojekt bereits die angestrebten EU-Standards berücksichtige, wies man in Moskau darauf hin, wieder eine vertiefte Kooperation mit Europa anzustreben. Aber Gespräche in beiden Ländern mit der liberalen Opposition und zivilgesellschaftlichen Partnern der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit differenzierte das Bild der staatlichen Stellen.
Interessante Einblicke erhielten die Abgeordneten auch in Treffen mit Vertretern der deutschen Wirtschaft in Kiew und Moskau, die aus jahrelanger Erfahrung über Erfolge und Misserfolge der ukrainischen Reformprozesse und der russischen Investitionsbedingungen berichten konnten. Während einige Branchen in beiden Ländern weiterhin über systemische Korruption klagen, sehen andere in der Ukraine deutliche Verbesserungen gegenüber der Vor-Maidan-Zeit und in Russland den Bürokratieabbau und wachsenden Rechtsschutz. Als wichtiges Aktionsfeld für deutsche Unterstützung in der Ukraine wurde einhellig das Eindämmen der Arbeitsmigration in Richtung Europa genannt, beispielsweise durch den Aufbau eines dualen Ausbildungssystems in der Ukraine. In Russland dagegen wurden Reise-Erleichterungen für Studenten und Wirtschaft gefordert, und deutlich, wie sehr mangelnde Kontrollmechanismen aus Justiz, Medien, Zivilgesellschaft und Opposition mit dem Investitionsklima zusammenhängen. Große deutsche Konzerne hingegen genießen verhältnismäßig privilegierte Bedingungen.
Die Delegation will versuchen, mit dem liberalen Kompass eines klaren Bekenntnisses zu Recht und Demokratie, die Ergebnisse der Gespräche mit Staatsvertretern, liberaler Opposition, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, in eine Reihe von Initiativen im Bundestag einfließen zu lassen. So kann sie die deutsche Bundesregierung auf ihre besondere Verantwortung zur Zukunft der Ukraine und der Beziehung mit Russland hinweisen.
Beate Apelt ist Projektleiterin für die Ukraine und Belarus mit Sitz in Kiew.
Julius von Freytag-Loringhoven ist Projektleiter Russland und Zentralasien mit Sitz in Moskau.