Wer traut sich an das irische Puzzle?
Noch ein Jahr, dann verlässt das Vereinigte Königreich aller Voraussicht nach die Europäische Union. Eine der drängendsten Fragen bleibt auch nach dem jüngsten EU-Gipfel ungelöst: Was geschieht mit der Grenze auf der irischen Insel?
Wer mit dem Fahrrad an der wildromantischen irischen Westküste von Nord nach Süd radelt, wird sich vielleicht wundern, dass die Geschwindigkeitsbegrenzungen plötzlich nicht mehr in Meilen, sondern in Kilometern pro Stunde angegeben sind. Dies ist mancherorts der einzige Hinweis darauf, dass man die 499 km lange Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland überquert hat. Nicht nur Radfahrer, auch alle anderen Personen sowie Güter, Dienstleistungen und Kapital können über die rund 200 Grenzübergänge frei verkehren. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union könnte sich dies jedoch bald ändern.
Dabei steht an der irischen Grenze mehr auf dem Spiel als reibungslose Radtouren und die Regionalwirtschaft einer Insel. Es geht vor allem um die Bewahrung des Karfreitagsabkommens, mit dem einer der letzten bewaffneten Konflikte in Westeuropa beigelegt wurde. Mehr als 3.500 Menschen verloren zwischen 1960 und dem Friedensschluss 1998 ihr Leben. Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Protestanten und Katholiken war nicht zuletzt die Frage, ob Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs bleiben oder stattdessen ein Teil Irlands werden solle. Der seit 1998 gültige Status Quo stellt einen bewährten, friedenssichernden Kompromiss dar, der durch den Brexit gefährdet wird.
Für die Verantwortlichen des Vereinigten Königreichs und der Europäischen Union ist die Nordirland-Frage der härteste Brocken in den Austrittsverhandlungen. Die Staats- und Regierungschefs klammerten das Thema deshalb während der letzten Gipfeltreffen meist aus und verschoben eine Entscheidung auf die nächste Zusammenkunft. Im Dezember 2017 einigten sie sich dann darauf, dass es unter keinen Umständen eine «harte Grenze» zwischen Nordirland und der Republik Irland geben dürfe. Für den Fall, dass kein Handelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich abgeschlossen wird, legt der erste Entwurf des Austrittsabkommens deshalb fest, dass Nordirland in der Zollunion verbleibt und seine Regularien vollumfänglich an EU-Bestimmungen angepasst bleiben („full alignment“).
Diese Einigung stellt die britische Regierung von Premierministerin May vor große Probleme. Denn die nordirische Democratic Unionist Party (DUP), auf deren Unterstützung sie im britischen Unterhaus angewiesen ist, pocht darauf, dass für Nordirland keine anderen Regeln gelten dürften als für den Rest des Vereinigten Königreichs. Somit sind für die britischen Verhandlungsführer Nordirland und das Vereinigte Königreich eine nicht teilbare Einheit. Wenn also Nordirland die Zollunion nicht verlassen kann, dann kann das Vereinigte Königreich dies ebenso wenig. Die meisten konservativen Tories in der Regierungsmannschaft um May verstehen einen Brexit jedoch als einen erfolgreichen Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion zur Wiedererlangung der Kontrolle über Geld, Grenzen und Gesetze.
Angesichts dieser scheinbar unvereinbaren Ziele wirkten die Verhandler auf beiden Seiten des Ärmelkanals in den vergangenen Wochen wie Kinder beim Versuch, gemeinsam ein großes Puzzle zusammenzusetzen. Jeder platzierte schon mal seine Randstücke, wohl wissend, dass es nicht genug passende Teile gibt, um diese mit dem Rand des Gegenübers zu verbinden. Die „Randstücke“ oder Richtlinien der EU bestehen aus einem Textentwurf für das Austrittsabkommen. In einem als „Rückfalloption“ bezeichneten Protokoll wird der freie Verkehr von Personen und Waren auf der irischen Insel und die Beibehaltung einschlägiger EU-Bestimmungen in Nordirland zur Voraussetzung zukünftiger Beziehungen erklärt.
Premierministerin May wies diese Formulierungen entschieden zurück und kündigte an, dass ihre Regierung einen eigenen Entwurf für eine Rückfalloption vorlegen werde. Ihre Puzzlestücke werden offenbar in eine andere Richtung weisen. Der britische Vorschlag könnte darin bestehen, dass die regulatorische Anpassung („full alignment“) und der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen auf sechs wesentliche Wirtschaftsbereiche begrenzt bliebe, zum Beispiel auf Landwirtschaft, Verkehr und Tourismus. Wie eine solche Lösung ohne Grenzkontrollen möglich sein könnte, ist bisher nicht klar. Es ist außerdem unwahrscheinlich, dass die EU einen solchen Vorschlag akzeptieren wird. Denn der oberste Verhandlungsführer auf Seiten des Kontinents, Michel Barnier, hat jegliche „Rosinenpickerei“ in den Grundfreiheiten des Binnenmarktes bisher kategorisch abgelehnt.
Die Puzzlestücke müssen jedoch bald zu einem klaren Bild zusammengefügt werden, da das Austrittsabkommen inklusive des Protokolls zur Rückfalloption für Nordirland möglichst bis Oktober unterzeichnet werden soll. Im Anschluss ist es dann am britischen Unterhaus und am Europäischen Parlament, das Verhandelte abzusegnen – oder neu puzzeln zu lassen.
Sebastian Vagt ist European Affairs Manager der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.