Zwischen europäischen Träumen und südkaukasischer Realität
„Georgischer Traum“ heißt die Regierungspartei in Georgien und georgische Regierungs-Träume gibt es genug, nicht nur was eine EU- und Nato-Mitgliedschaft des Landes angeht. Beide Ziele sollen auch in einer neuen Verfassung verankert werden. Doch dem von vielen als demokratisches Musterländle bezeichneten Staat im Südkaukasus wird die Tür zur Europäischen Union noch eine Zeit lang verschlossen bleiben. Visa-Freiheit mit dem Schengenraum, ein Dämpfer aus Brüssel, landesweite Kommunalwahlen und eine Verfassungsänderung: Georgien hat ein ereignisreiches Jahr 2017 hinter sich. Der Projektleiter der Stiftung im Südkaukasus, Peter-Andreas Bochmann, blickt zurück.
Es gab einmal einen langjährigen Deutschen Botschafter in Georgien, der vor Jahren anlässlich einer Pressekonferenz vor georgischen Journalisten sagte: „So ein bewegtes und ereignisreiches Jahr habe ich noch nicht in Georgien erlebt“, um dann in einem Teilsatz hinzuzufügen: „aber eigentlich kann ich das so jedes Jahr aufs Neue sagen“. Auch wenn diese Äußerung viele Jahre zurück liegt, würde er es für das vergangene Jahr wohl genauso formuliert haben.
Ein erstes großes und durchaus als historisch zu bezeichnendes Ereignis war die Gewährung der Visafreiheit für georgische Staatsbürger in den Schengenraum im Frühjahr. Lange hatten die Georgier auf diese Reisefreiheit gewartet. Obwohl das Land alle Kriterien erfüllt hatte, musste zunächst der von einigen geforderte Aussetzungsmechanismus auf Seiten der EU geregelt werden. Dieser greift mit einer Aussetzung der Visafreiheit, sollte ein Anstieg von Kriminalität, Asylanträgen oder eine spürbare Überschreitung der zulässigen Aufenthaltsdauer georgischer Staatsbürger zu verzeichnen sein. Doch diese Ängste erscheinen rückblickend auf die letzten neun Monate als unbegründet: Zehntausende Georgier nutzten ihre neu gewonnene Reisefreiheit nach Europa und eine hohe Anzahl an befürchteten Missbräuchen blieb seit März aus. Dies ist auch der Verdienst georgischer Behörden verbunden mit einer umfangreichen Aufklärungskampagne sowie einer intensiven Zusammenarbeit mit EU-Stellen.
Ein Dämpfer aus Brüssel
Die Statements vieler georgischer Politiker waren im Zuge der Visa-Liberalisierung an Superlativen kaum zu übertreffen. So wurde der Bevölkerung der Eindruck vermittelt, dass dies der erste Schritt einer baldigen EU-Mitgliedschaft sei. Doch Georgiens Ambitionen in Richtung EU-Mitgliedschaft erhielten dann im November auf dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft einen Dämpfer: Mehr Nähe ja, Beitritt nein – lässt sich das Ergebnis kurz zusammenfassen. Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, stellte klar: „Dies ist kein Erweiterungsgipfel und auch kein Beitrittsgipfel. Wir vertiefen die Beziehungen zu unseren wichtigen Nachbarn.“ Die europäischen Ambitionen der Partner würden anerkannt, aber mit der eindringlichen Forderung nach weiteren Reformen verbunden. EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn ergänzte dies mit dem diplomatisch formulierten Hinweis an die georgische Regierung, nicht den Eindruck zu erwecken, das alles könne in zwei oder drei Jahren geschehen. Mit solchen Aussagen setze sich die Regierung selbst unter einen Erfolgsdruck, den sie nicht erfüllen kann. „Wir sollten uns auf die Hausaufgaben konzentrieren. Diese müssen erfüllt werden. Es ist zu früh, darüber zu spekulieren, wie die nächste Phase aussehen wird.“ Während deutsche und internationale Medien dies mit Schlagzeilen wie „Die Tür bleibt zu“ oder „Keine EU-Beitrittsperspektive für Ostländer“ ausgiebig thematisierten, wurde in georgischen Medien nur sehr knapp bis überhaupt nicht über die Kernaussage des Gipfels berichtet. Lediglich der georgische Premierminister Giorgi Kvirikaschvili überraschte mit der realistischen und differenzierten Betrachtung „das Land dürfe in seinen Reformbestrebungen nicht nachlassen. Man müsse auf den Moment vorbereitet sein, wenn Europa bereit sei, die Tür für Georgien zu öffnen.“
Umstrittene Verfassungsreform
Eine EU- und Nato-Mitgliedschaft bleibt das erklärte Ziel der georgischen Regierung. Daran hat auch der Regierungswechsel 2012 nichts geändert. Dieses Ziel soll auch Bestandteil einer neuen georgischen Verfassung sein. Diese Verfassungsänderung bestimmte im Jahr 2017 auch die innenpolitischen Diskussionen bis zum heutigen Tag. Bei den Wahlen im Oktober 2016 errang die Regierungspartei „Georgischer Traum“ im Parlament die verfassungsändernde Mehrheit und verkündete unmittelbar nach den Wahlen, diese auch zur Änderung der geltenden Verfassung von 1995 nutzen zu wollen. Hauptpunkte der geplanten Änderungen sind die Abschaffung der Direktwahl und Machtreduzierung des Staatspräsidenten und damit der Übergang vom bisher bestehenden semipräsidialen in ein parlamentarisches Regierungssystem, eine generelle Reform des Wahlsystems sowie eine klare Festlegung der Entscheidungsbefugnisse von Staatspräsident, Premierminister und Parlament.
Kurz nach den Wahlen wurde durch das Parlament eine 73-köpfige Verfassungskommission eingesetzt. Doch schon bald überschatteten Verfahrensfragen die inhaltliche Diskussion zu den Verfassungsänderungen die Arbeit der Verfassungskommission. Als besonders problematisch gestaltete sich das Verhältnis zwischen Staats- und Parlamentspräsident. Parlamentspräsident Irakli Kobakhidze hatte Staatspräsident Giorgi Margvelashvili eine Mitgliedschaft in der Kommission angeboten, die dieser allerdings ablehnte. Statt einen Konsens zu suchen präsentierte Margvelashvili mit verschiedenen Oppositions-Parteien einen Alternativentwurf. Ende September hat das georgische Parlament in seiner dritten und letzten Lesung die Verfassungsänderungen mit den Stimmen der Regierungspartei beschlossen. Nachdem die Verfassungsänderungen beschlossen waren, startete im November seitens der Regierungspartei eine neue Runde der Verfassungsänderungsdebatte um u.a. Empfehlungen der Venedig-Kommission in eine neue Verfassung aufzunehmen. Am 14. Dezember wurden nun in erster Lesung weitere Änderungen mit der Mehrheit der Stimmen der Regierungspartei beschlossen.
Keine Chancengleichheit - Kommunalwahlen im Oktober
Wie auch im Parlament, verfügt der „Georgische Traum“ auf kommunaler Ebene über traumhafte Mehrheitsverhältnisse. Die Kommunalwahlen im Oktober brachten in dieser Hinsicht keine Überraschung. Landesweit ging die Regierungspartei als Sieger hervor und stellt die Mehrheiten in den Kommunalparlamenten und nahezu alle Bürgermeister. Die Bürgermeisterwahl in der Hauptstadt Tiflis gewann mit 51 Prozent der frühere stellvertretende Premier- und Energieminister Kakha Kaladze. Auch wenn der Urnengang von internationalen Beobachtern positiv bewertet wurde, kann sicher nicht von Chancengleichheit der Bewerber gesprochen werden. „Eine Stadt in Blau“ – so lässt sich der Wahlkampf beispielsweise in Tiflis in wenigen Worten zusammenfassen. Mal mit Familie, Hund und Fußball, mal als Portrait: Kaum eine Mauer, Häuserwand oder ein öffentliches Verkehrsmittel von dem nicht der ehemaliger Verteidiger des AC Mailand der Tifliser Bevölkerung entgegenlächelte.
Blau ist die Farbe der Regierungspartei und einige Medien witzelten, dass es sicher kein Zufall sei, dass die neuen Stadtbusse, die Briefkästen und auch die Papierkörbe und Mülltonnen blau sind. Einen Achtungserfolg erreichte bei der Wahl des Bürgermeisters von Tiflis der unabhängige Kandidat Aleko Elisashvili, mit 17 Prozent noch vor den Kandidaten der großen Oppositionsparteien Vereinigte Nationalbewegung (16 Prozent) und Europäisches Georgien (7 Prozent). Von Aleko Elisashvili gab es keine Plakate in der ansonsten „zugeklebten“ Stadt.
Die überproportionale Dominanz der Regierungspartei im öffentlichen Straßenbild im Kommunalwahlkampf ist sicher auch direkt mit den finanziellen Möglichkeiten verknüpft. Mit etwa 15 Millionen Lari (rund 4,8 Millionen Euro) finanzierten Firmen und Privatpersonen im Zeitraum von Juni bis Ende Oktober die an den Kommunalwahlen teilnehmenden Parteien. Die Regierungspartei „Georgischer Traum“ erhielt etwa 14 Millionen, das sind 91 Prozent aller Spenden.
Transparency International Georgien sieht in seinem Abschlussbericht zur Parteienfinanzierung bei den Kommunalwahlen in diesem Missverhältnis das „Risiko politischer Korruption“. Man fand heraus, dass in 42 Fällen die gewerblichen Spender direkte Geschäftsinteressen mit staatlichen Behörden hatten. Viele Spender hätten staatliche Ausschreibungen gewonnen, teilweise unter vereinfachten Bedingungen. Einige der Spender hätten staatliche Grundstücke zu einem symbolischen Preis erhalten oder auffallend hohe Zuwendungen aus Investitionsförderprogrammen – und dies ebenfalls in zeitlicher Nähe zu ihrer Parteienspende.
Umfassende Kabinettsumbildung
Die letzten Stimmen der Kommunalwahlen waren gerade ausgezählt, da gab der Premierminister eine umfassende Kabinettsumbildung verbunden mit einer Neustrukturierung der Ministerien bekannt. Drei Ministerien und ein Staatsminister entfallen: Das Energieministerium wird mit dem Ministerium für Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung zusammengelegt, das Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen wird aufgeteilt: der Bereich natürliche Ressourcen wird dem Wirtschaftsministerium übertragen und der Bereich Umwelt mit dem Landwirtschaftsministerium zu einem Ministerium für Umweltschutz und Landwirtschaft zusammengelegt. Aufgeteilt und damit abgeschafft wird auch das Ministerium für Sport und Jugend. Der Bereich Sport wird ins Ministerium für Kultur und Denkmalschutz integriert und der Bereich Jugend ins Ministerium für Bildung und Wissenschaft. Das Amt des Staatsministers für europäische und euroatlantische Integration wird mit dem Außenministerium zusammengelegt und damit abgeschafft. „Diese geplanten Änderungen werden einen größeren Fortschritt bringen, einen noch moderneren Staat und einen flexibleren Staatsapparat formen, was die Verwaltungskosten reduzieren wird“, begründet Ministerpräsident Kvirikashvili die Veränderungen. Am 22. Dezember wurden die neuen Minister vom Parlament bestätigt.
Am Ende des Jahres gab es noch ein Ereignis fernab von Georgien, das die georgischen Medien gerne und ausführlich aufgriffen: Die 21jährige Georgierin Natia Todua gewann die Casting Show „The Voice of Germany“. Eine Meldung die viele Georgier zum Jahresende mit Stolz erfüllte – in einem ereignisreichen Jahr 2017.
Peter-Andreas Bochmann ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für den Südkaukasus.