Interview
„Die EU muss ihrer Verantwortung als ökonomische Weltmacht gerecht werden“
Am Donnerstag hat die Europäische Kommission eine neue Handelsstrategie vorgelegt. In dieser präsentiert sie auch konkrete Vorschläge zur Reform der Welthandelsorganisation. Im Interview mit Sven Hilgers ordnet die liberale Europaabgeordnete und Handelsexpertin, Svenja Hahn, die neue Strategie ein und formuliert klare Erwartungen an die Kommission.
Der protektionistische Trump ist weg, die WTO bekommt endlich eine neue Generaldirektorin und jetzt legt die EU eine neue Handelsstrategie vor. Wie fühlt man sich gerade als liberale Handelspolitikerin?
Hoffnungsvoll! Es liegt endlich wieder die Chance für Reformen in der Luft, auch wenn die großen Herausforderungen noch vor uns liegen. Wir müssen die transatlantische Partnerschaft wiederbeleben, die Hürden und Dispute der letzten Jahre abbauen und neue handelspolitische Zusammenarbeit vorantreiben. Dafür ist es unerlässlich, dass wir mit den USA gemeinsam für tiefgreifende Reformen der Welthandelsorganisation arbeiten. Denn bis jetzt ist die neue Handelsstrategie der EU nur ein Konzept - die tatsächliche Umsetzung wird der Knackpunkt werden.
Im Kern geht es in der neuen EU Handelsstrategie um das Thema „offene strategische Autonomie“. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Eine handelspolitisch selbstbewusste EU muss das Ziel sein. Das Schlagwort Autonomie darf nicht zu Protektionismus und Abschottung führen. Die EU ist eine starke Wirtschaftsmacht, scheut sich aber noch zu sehr davor, ihre Stellung für nachhaltigen und fairen Welthandel einzusetzen. Wenn „offene strategische Autonomie“ endlich zu einem selbstbewussten Mindset führt, begrüße ich das sehr. Dafür muss die EU-Kommission endlich alle ihre Werkzeuge nutzen, um Handelsvereinbarungen auch effektiv durchzusetzen. Das muss auch bedeuten, neue Instrumente zu schaffen, um sich gegen unfaires Handelsgebaren zu behaupten.
Der Umgang mit China nimmt eine zentrale Rolle in der neuen Handelsstrategie ein und die wohl aufsehenerregendste Neuerung in der Handelsstrategie ist der Umgang mit Gütern, für deren Produktion Zwangsarbeit zum Einsatz kommt. Ist das ein deutliches Signal an China?
Leider wird ein Importverbot für Produkte aus Zwangsarbeit nicht explizit genannt. Die Kommission spricht davon, effektive Maßnahmen gegen Zwangsarbeit zu entwickeln. Da Schutz von Menschenrechten zuvorderst staatliche Aufgabe ist, wäre es zu kurz gesprungen, nur die Unternehmen durch das geplante Lieferkettengesetz in die Pflicht nehmen zu wollen. Daher würde ich durchaus aus dem Konzept der Kommission herauslesen, dass ein Importverbot kommen könnte. Hier werden wir im Parlament Druck machen, für eine Regelung die sich nach betroffenen Produkten oder Regionen richtet, wie sie beispielsweise bereits die USA oder Großbritannien haben. Das haben andere Abgeordnete und ich als Reaktion auf die Berichte über Zwangsarbeit in China gefordert. Auch wenn ich mir eine klarere Sprache der Kommission erwartet hätte, ist es dennoch ein Signal an China. Denn es ist das einzige Land, das aktuell Schlagzeilen mit dem systematischen Einsatz von Zwangsarbeit macht.
Sind denn die in der Strategie aufgeführten Instrumente insgesamt ausreichend, um mit unfairen und aggressiven Handelspraktiken Chinas umzugehen?
Es ist schwer zu sagen, ob die Instrumente ausreichend sein werden. Die neue Enforcement Regulation gilt erst seit letzter Woche, da muss also erstmal die konkrete Anwendung zeigen, was dort wirklich drinsteckt. Wenn sich herausstellt, dass es noch mehr braucht, muss umgehend nachgebessert werden. Klar ist aber, die EU-Kommission muss durchsetzungsfähiger werden und jedes ihr zur Verfügung stehende Instrument anwenden, um sich gegen Chinas unfaires Handelsgebaren zu behaupten. Die Spanne darf nicht bei Dialog enden, sondern muss auch bis zu Sanktionen reichen.
Neben einem deutlicheren Umgang mit China setzt die EU auf mehr Kooperation im transatlantischen Handel, mit den direkten EU-Nachbarn und Afrika. Gibt es offene Flanken in der Strategie?
Ich frage mich, ob die Kommission vergessen hat, dass es außer China noch andere asiatische Länder gibt. Wir brauchen mehr Engagement mit den ASEAN Ländern, nicht weniger. Auch als eine Antwort auf das pazifisch-transatlantische Handelsabkommen RCEP. Wo ist der Vorschlag für ein bilaterales Investitionsabkommen mit Taiwan? Von dem die Kommission immer sagte, wenn das Investitionsabkommen mit China fertig verhandelt sei, würde man sich anderen Partnern in der Region widmen. Ich halte es für einen Fehler, die Zusammenarbeit mit dem asiatischen Raum nicht klar zu priorisieren.
Schon bei der Gründung der Welthandelsorganisation war die EU maßgeblich beteiligt. Welche Rolle sollte die EU im multilateralen Handelssystem spielen?
Wir sind eine der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt und müssen daher auch konsequent Verantwortung übernehmen, wenn wir wollen, dass die Zukunft des Handels im werte- und regelbasierten Freihandel liegt. Wir müssen unsere WTO-Partner an einen Tisch bringen und Lösungen finden. Dass die EU dies kann, hat sie gezeigt, als sie Übergangslösungen für den lahmgelegten WTO-Streitschlichtungsmechanismus gefunden hat. Das kann auch bedeuten, mit mehreren Partnern auf einer plurilateralen Basis anzufangen bei Themen, in denen nicht sofort die ganze internationale Gemeinschaft an Board ist.
Handelskonflikte, blockierter Streitschlichtungsmechanismus und eine globale Pandemie. Die neue WTO Generalsekretärin Ngozi Okonjo-Iweala steht vor gewaltigen Herausforderungen. Wie kann die EU dazu beitragen, um ihre Amtszeit zu einem Erfolg zu machen?
Mit der neuen Generalsekretärin ist eine neue Chance für Reformen in die Welthandelsorganisation eingezogen. Die EU muss endlich ihrer Verantwortung als ökonomische Weltmacht gerecht werden und sich entschlossen für die Modernisierung des multilateralen Welthandelssystems einsetzen. Die Kommission hat in ihrer neuen Handelsstrategie 19 Seiten für konkrete Vorschläge zur Reform der WTO gewidmet und welchen Beitrag die EU leisten kann. Die Vorschläge enthalten einen starken Fokus auf nachhaltige Entwicklung sowie die Forderung nach Verhandlungen zu klareren Regeln zu staatlichen Interventionen, kombiniert mit einer starken transatlantischen Reformagenda. Der nächste Schritt ist die Wiederherstellung des Streitbeilegungsmechanismus und der Berufungsinstanz. Die Reformvorschläge der Kommission sind ein dringend benötigter Anfang. Für den Erfolg wird es aber besonders wichtig, auch unsere Handelspartner mitzunehmen, allen voran die USA.
Zuletzt haben Freihandelsverhandlungen vor allem regional und bilateral stattgefunden. Wie kann die WTO wieder eine zentrale Stellung in der globalen Handelspolitik einnehmen?
Dass Verhandlungen vor allem bilateral oder regional stattgefunden haben, hing auch mit dem Reformstau und mangelndem multilateralem Commitment zusammen. Fast jede Verhandlung, egal zu welchem Thema, stockt seit längerem auf der WTO-Ebene. Ein echter Fortschritt bei laufenden Verhandlungen wäre daher ein klares Bekenntnis zur Zusammenarbeit in der WTO. Auch der Abschluss von einzelnen Verhandlungen vor dem nächsten Ministertreffen später im Jahr wäre ein Signal des Aufbruchs. Denn die WTO muss wieder relevant werden.
Das Europäische Parlament hat eine wichtige Rolle in der Handelspolitik der EU. Wie geht es jetzt weiter mit der Handelsstrategie der Kommission?
Das Europäische Parlament hat im letzten November seine Positionen zur neuen Handelsstrategie dargelegt und die Kommission viele elementare Punkte aufgegriffen, wie zum Beispiel Fokus auf Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Jetzt geht es an die Umsetzung der Strategie. Als erster Schritt wird Handelskommissar Dombrovskis nächste Woche dem Handelsausschuss Rede und Antwort stehen. Bei der Implementierung werden wir Parlamentarier genau hinsehen, welche Prioritäten die Kommission tatsächlich setzen wird, welche Bereiche sie effektiv vorantreiben wird und dann gegebenenfalls Nachbesserungen oder andere Schwerpunktsetzung fordern. 2021 wird handelspolitisch ein sehr spannendes Jahr werden.
Svenja Hahn ist Abgeordnete im Europäischen Parlament und Mitglied der "Renew Europe" Fraktion.
Sven Hilgers ist Referent für Internationale Wirtschaft im Referat für Globale Themen bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.