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Europa
Europa, wo ist deine Führung?

Europaparlament
Blick ins Europaparlament in Straßburg © picture alliance/Marijan Murat/dpa

Beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 17. und 18. Oktober in Brüssel sieht unser Experte, Thomas Ilka, die Situation im politischen Europa stark angespannt zwischen internem Vertrauensverlust und externen Bedrohungsszenarien. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den deutsch-französischen Beziehungen.

Brexit, Beitrittsperspektive Westbalkan, Mehrjähriger Finanzrahmen der EU, Türkei/Syrien-Krise, Schutz der Außengrenzen, Einrichtung eines berechenbaren Asyl- und Migrationssystems, transatlantischer Handelskonflikt, Herausforderung China, Risikoland Russland, klimapolitische Verpflichtungen und so ganz nebenbei noch die Bildung der neuen Kommission von der Leyen – das europäische Pflichtenheft war selten so prall gefüllt am Vorabend eines Zusammentreffens der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Gleichwohl „business as usual“? Nein, zwar stehen bei weitem nicht alle genannten Themen auf der Tagesordnung der Chefinnen und Chefs in Brüssel, aber alle schweben über dem Gipfel, zehren am politischen Kapital seiner Teilnehmer und belasten das institutionelle Kraftdreieck aus Europäischem Rat, Parlament und Kommission. Schauen wir zunächst nach Innen.

Wir wissen: Politik machen ohne Vertrauen ist wie Radfahren ohne Kette – es funktioniert nicht. Und da ist soeben in der für Europa so wichtigen Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland durch die Ablehnung der liberalen Kommissarsanwärterin Sylvie Goulard durch das Europäische Parlament – und hier insbesondere der konservativen EVP-Fraktion – jede Menge Vertrauen zerstört worden. Die Französin mag sich in ihrer Anhörung nicht klug verhalten haben, aber die Ablehnung im Parlament hinterlässt nur Schäden: eine beschädigte Goulard, einen beschädigten Macron, eine beschädigte von der Leyen, eine beschädigte Merkel, ein beschädigtes deutsch-französisches Verhältnis.

Haben die Abgeordneten unter Führung der EVP geglaubt, sich mit einem Affront vor allem gegenüber der künftigen Kommissionspräsidentin und dem französischen Präsidenten Respekt verschaffen zu können? Oder wollten manche von ihnen vermeintlich süße Rache nehmen? Aus deutscher Perspektive jedenfalls ist das Ergebnis, um es mit einem Maximum an Diplomatie zu sagen, unbefriedigend. Die Franzosen werden die Rechnung spätestens beim Mittelfristigen Finanzrahmen stellen, so könnte Deutschland z.B. in der Agrarpolitik extra zur Kasse gebeten werden. Zudem war das Signal tief nach Frankreich hinein: deutschaffin zu sein wird bestraft. Mag da Macron nun als Goulard-Ersatz benennen wen er will, merken wird sich der französische Staatspräsident, dass die Deutschen nicht wissen, was sie wollen und über die Institutionen hinweg nicht abschlussfähig sind. Tolle Aussichten gerade für die wichtigen wirtschafts- und klimapolitischen Beschlüsse, die anstehen.

Wie auch immer es nun weitergeht, eines steht jetzt schon fest: von der Leyen kann nicht pünktlich starten, die neue Kommission wird mit mindestens einem Monat Verzögerung an den Start gehen. Der Monat an sich, so ärgerlich er in bewegten Zeiten bleibt, ist nicht das Problem. Schwerer wiegt das Misstrauensgepäck, mit dem von der Leyen loslaufen muss.

Die nun zu erwartende neue französische Rauflust zeigte sich sogleich an der Schnittstelle zwischen europäischer Innen- und Außenpolitik: die Franzosen blockieren zur Stunde die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien. Zu der von Jean-Claude Juncker zu Recht geforderten und beschworenen Weltpolitikfähigkeit Europas passt das nicht. Mal ganz abgesehen davon, dass in Deutschland (klugerweise!) viel innenpolitisches Kapital eingesetzt worden ist, um zu einer positiven Empfehlung des Bundestages zu kommen: Was müssen die Nordmazedonier und Albaner über die Vertrauenswürdigkeit der EU denken? Im Kreml wird sich Wladimir Putin die Hände reiben. Er muss sich gar nicht mehr anstrengen, die EU erledigt seine Arbeit der Destabilisierung gleich en passant mit.

Nächstes Beispiel: Auch wenn sich die Unterhändler von EU und Vereinigtem Königreich auf einen Kompromiss geeinigt haben und die Staatschefs und -chefinnen dem zustimmen sollten, steht in den Sternen, wie die Parlamentarier in Westminster und Straßburg entscheiden. Es bleibt zudem die Frage, wie stabil die anschließenden Prozesse zur Umsetzung eines Brexits sein werden. Und weitere Ungewissheit ist Gift für Wirtschaft und Politik.

Die drei Beispiele zeigen nicht nur den massiven Druck auf die Vertrauensreserven aller Beteiligten, sie dokumentieren auch ein hohes Maß an innerer europäischer Orientierungslosigkeit. Um diese zu überwinden, bräuchte es politische Führung. Die Briten werden dazu nicht mehr zur Verfügung stehen, die Italiener sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, ebenso die Spanier, zumindest bis nach den (dann hoffentlich Klarheit schaffenden) Parlamentswahlen. Andere Länder sind allein zu klein oder verfolgen nicht mehrheitsfähige Agenden. Bleiben Deutschland und Frankreich. Ob die amtierende Bundesregierung die Kraft aufbringen wird, hier, noch dazu mit den Franzosen gemeinsam, die nötigen Akzente zu setzen, darf nach den letzten Monaten und Wochen bezweifelt werden. Aber, nach Lage der Dinge werden wir in absehbarer Zeit keine andere Regierung in Deutschland haben.

Und woher kann jetzt die Hoffnung kommen? Aus zwei Quellen haben die Europäer immer schöpfen können, wenn es eng wurde: Zusammenstehen gegen äußere Bedrohung und Vertrauen auf die gletscherartige Macht der internen Politikprozesse, die noch immer eine Einigung erzwungen haben. Also gemeinsam reagieren auf die wirtschafts-, sicherheits- und handelspolitischen Angriffe aus China, Russland und den USA. Und die Hoffnung darauf setzen, dass das miteinander Reden und Entscheiden am Ende funktioniert und im nervenzerfetzenden Klein-Klein der politischen Prozesse Europas wieder Vertrauen entsteht. Dass müssen jetzt gerade Deutschland und Frankreich trotz der Ereignisse der vergangenen Woche beweisen. Dies ist in beider Länder und im europäischen Interesse.