Wirtschaft
Wachstum als fünfte Grundfreiheit der EU: So schafft der Binnenmarkt den Durchbruch
Die EU muss sich wirtschaftlich reformieren. In unseren geopolitischen Zeiten muss eine Formel gefunden werden, globale Wettbewerbsfähigkeit mit einem wachsenden Regelwerk zu verbinden. Geschieht dies nicht, wird dies den Binnenmarkt hemmen – zum langfristigen Schaden Europas. Allen Herausforderungen zum Trotz hat die EU aber bereits effektive Instrumente entwickelt. Sie muss diese im kommenden Mandat weiter ausbauen, um den Binnenmarkt verantwortungsbewusst zu revitalisieren. Denn es gilt weiterhin: Wachstum ist das Fundament für Stabilität und wirtschaftliche Macht in einer globalisierten Welt.
Seit etlichen Jahren befindet sich die EU im Kampf um scheinbar widersprüchliche Ziele. Der European Green Deal, Due-Diligence-Initiativen der wirtschaftlichen Sorgfaltsprüfung und Maßnahmen zur Verbesserung der Rechenschaftspflicht im digitalen Sektor sind die neuesten Ergänzungen in der EU-Gesetzgebung. Die Erwartungen an die EU sind hoch: nach umfassenden Maßnahmen in Bereichen wie Klimawandel, der Covid-19-Pandemie und der Digitalisierung – um nur einige zu nennen – steht sie nun vor der Herausforderung, trotz wachsendem Regelwerk auch weiterhin wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen. Und die Bürokratie wächst und wächst: seit dem Vertrag von Lissabon im Jahr 2010 hat die EU-Integration dazu geführt, dass der Umfang der EU-Regulierungen um mehr als 100 % zugenommen hat. Seit dem Vertrag von Maastricht vor etwa 30 Jahren sind es insgesamt sogar mehr als 700 % mehr EU-Regeln.
Seit einiger Zeit wird deutlich, dass die steigende administrative Arbeitslast eine verlangsamende Wirkung auf die Marktdynamik in Europa hat. Das Zusammenspiel von Freiheit und Verantwortung erscheint dabei angesichts eines so schwerfälligen Regelwerks zunehmend widersprüchlich. Es überrascht daher auch nicht, dass der drastische Anstieg der EU-Regulierung rückblickend mit einem verlangsamten Wirtschaftswachstum zusammenfällt, insbesondere in den ältesten EU-Mitgliedstaaten. Dies führt zu einer Situation, in der die zuvor vitale Dynamik des Binnenmarkts allmählich erstickt wird. Dadurch entsteht in unseren geopolitischen Zeiten ein großes Risiko für die EU, denn ihre Wirtschaftskraft ist und bleibt ihr größtes Kapital. Ohne diese könnte sie langfristig hinter Mitwettbewerbern wie den Vereinigten Staaten und China zurückbleiben, und auch ihre Rolle als globaler Trendsetter für Regulierung verlieren. Die nächste Europäische Kommission muss demnach einen Weg finden, die durch Regulierungen verursachte Überlast zu senken und insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen zu entlasten. Nur so kann sie sicherstellen, dass der Binnenmarkt seine Flexibilität zurückgewinnt und Europa seinen Platz in der Welt behält.
Schwache Wirtschaft als Rutsche zum rechten Rand
Europäische Entscheidungsträger müssen akzeptieren: ein schlecht funktionierender Binnenmarkt verändert auch die politische Landschaft in der EU. Die Ergebnisse der Europawahlen deuten auf eine Verschiebung der Unterstützung der Wählerschaft hin zu den, insbesondere rechten, Rändern. Wie Beispiele aus Frankreich, Deutschland und Italien gezeigt haben, hat das träge Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahrzehnte zu Unmut in größeren Teilen der europäischen Bevölkerung geführt. Obwohl das Votum für extreme Parteien weit mehr innere Konflikte als eine bloße Kritik an der wirtschaftlichen Leistung des Binnenmarktes ausdrückt, darf nicht unterschätzt werden, dass die hohe Inflation und stagnierenden Löhne eine der Hauptmotivationen für Wählerinnen und Wähler in ganz Europa waren. Die EU-Institutionen müssen dieses Problem angehen, wenn sie verhindern wollen, dass Parteien an den Rändern weiterwachsen und die wirtschaftliche Strategie der EU zukünftig noch stärker in Frage gestellt wird.
Im Kern war und ist die EU eine wachstumsorientierte Erfindung. Ohne ihre Existenz wären einige EU-Volkswirtschaften um bis zu 20,5% kleiner. Die neuen EU-Mitglieder bringen zusätzlichen wirtschaftlichen Schwung und ihre Integration hat die EU-Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten beflügelt. Dies legt nahe, dass die EU sich auch weiterhin verstärkt auf ihre wirtschaftliche Integration, statt auf die Einführung immer neuer Gesetze konzentrieren sollte.
Innovation entfesseln, statt Regulierung?
Eine allzu simplifizierende Kritik an der EU-Regulierung bedient sich gern großer und anspruchsvoller Ziele wie des Green Deal. Neue, heiß diskutierte Gesetze und Instrumente haben in dessen Kontext bereits zu einer großen Spaltung geführt. Viele Kritikerinnen und Kritiker sind heute ablehnender gegenüber regulatorischen Maßnahmen, die im weiteren Sinne unter den Begriff „Nachhaltigkeit“ fallen. Darunter fällt auch die steigende Beliebtheit staatlicher Subventionen in älteren EU-Mitgliedstaaten, insbesondere in Frankreich. Hier fließt ein Großteil der Subventionen in den Nachhaltigkeitsbereich. Während Nachhaltigkeit ein wichtiges Ziel ist, sollte langfristig jedoch auch beachtet werden, dass eine solche Strategie ohne sorgfältige Abstimmung erhebliche Risiken für den Wettbewerb im EU-Binnenmarkt birgt.
Insbesondere werden jüngere EU-Mitgliedstaaten benachteiligt, die zumeist finanziell nicht in der Lage sind, ähnliche Maßnahmen für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus beeinträchtigen nicht nur Subventionen, sondern auch die hohen Compliance-Kosten neuer Vorschriften die Wettbewerbsfähigkeit der EU, insbesondere aufgrund des hohen Berichtsaufwands für Unternehmen. Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen berichten von großen Schwierigkeiten, diese arbeitskrafttechnisch zu bewältigen, ohne dabei ihre Gesamtwettbewerbsfähigkeit erheblich zu beeinträchtigen. Maßnahmen des EU Green Deal stehen hier stark in der Kritik, innovationshemmend zu sein. Neue Vorschriften für den Digitalsektor, wie der Digital Markets Act, der Digital Services Act und der AI Act bergen dasselbe Risiko, und schränken zudem Freiheiten in den digitalen Märkten ein.
All dies hemmt sektorspezifisches Wachstum und Innovation made in Europe. Zumeist werden legitime regulatorische Ziele, wie der Schutz der Bürger, der Umwelt, oder der Demokratie um ihrer selbst willen verfolgt, auch mit dem Ziel, globale regulatorische Trends zu setzen. Dennoch scheint sich nicht abzuzeichnen, dass die meisten anderen Regionen die europäischen Ansätze als Anstoß zur gemeinsamen Regulierung anerkennen würden. Eher wird deutlich, dass andere Regionen gerade im digitalen Sektor eher zur Deregulierung tendieren, um innovative Ansätze zu fördern. Dies führt zu einem ernstzunehmenden Wettbewerbsnachteil für die EU und dadurch nicht zuletzt auch zu einem erheblich verringerten Einfluss Europas auf die zukünftigen Entwicklungen der digitalen Technologie. Bestimmte Entwicklungen könnten somit indirekt auch zu hohen Kosten für zentrale europäische Werte führen, die ja gerade durch die ursprünglichen Vorschriften hätten geschützt werden sollen. Die EU sollte daher in Zukunft „smarte“ Regulierung priorisieren: dies bedeutet, Regeln zu straffen und ihre Umsetzung zu erleichtern, ohne dabei die großen Ziele aus den Augen zu verlieren. Insbesondere sollten dabei die kleinen und mittelständischen Unternehmen in die Entscheidungsfindung und Umsetzung einbezogen werden.
Aufschwung durch Vereinfachung der Umsetzung von Regulierung
Das Europäische Parlament und die EU-Kommission müssen den Binnenmarkt als zentrales politisches Ziel neu priorisieren. In den letzten Jahren haben der Klimawandel, geopolitische Herausforderungen, Migration und Fragen zur Rechtsstaatlichkeit praktisch Vorrang vor wirtschaftlichen Fragen gehabt. Letztlich war die europäische Wirtschaft ja auch Jahrzehnte lang wirtschaftlich stabil. Aber auch heute sollte EU ihre Kernstärke – die Fähigkeit, die wirtschaftliche Agenda des Kontinents zu bestimmen – nicht vernachlässigen. Die Aufgabe besteht darin, wertorientierte Entscheidungsfindung zu fördern und gleichzeitig größere Flexibilität und Wirtschaftswachstum im Binnenmarkt zu stimulieren.
Die Europäische Kommission verfügt bereits über mehrere Instrumente, um dies zu erreichen. Sie kann die Durchsetzung der Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten stärken, indem sie die Umsetzungsverfahren vereinfacht und Rückstände bei der Fallbearbeitung abbaut. Darüber hinaus würde die Liberalisierung einiger Handelspolitiken und ein verstärktes Engagement in Freihandelsabkommen der EU besseren Zugang zu globalen Gütern und Dienstleistungen verschaffen und so ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt erhöhen. Ebenso würde eine stärkere Liberalisierung der Berufsregulierung und des EU-Arbeitsmarktes einen erheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber internationalen Wettbewerbern schaffen.
Die Grundlagen der EU basieren auf vier Kernfreiheiten, die darauf abzielen, den Wohlstand und das Wohlbefinden der Europäerinnen und Europäer zu maximieren. Indem wir sicherstellen, dass die EU-Gesetzgebung die Freiheit von Arbeitskräften, Gütern, Dienstleistungen und Kapital respektiert, reintegriert und weiter fördert, sollten wir außerdem danach streben, eine fünfte Freiheit hinzuzufügen: wirtschaftliches Wachstum.
Dr. Nele Fabian ist Senior European Affairs Managerin im Europäischen Dialogprogramm der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) in Brüssel.
Akim van der Voort ist Referent für Freihandel und Globalisierung bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) in Berlin.