Élysée-Vertrag
60 Jahre deutsch-französische Freundschaft
Was Deutschland kann, kann Frankreich schon lange. So könnte man die Ankündigung Frankreichs verstehen, von 2024 bis 2030 insgesamt 413 Milliarden Euro in das französische Militär zu investieren. Damit reagiert Frankreich auf die 100 Milliarden Investitionen der deutschen Bundesregierung in die Bundeswehr und dem Festhalten am 2%-Ziel der NATO. Einen ähnlich hohen Investitionsaufwand seitens Frankreichs hat es zuletzt nur unter Charles de Gaulle in den 60er-Jahren gegeben, als Frankreich zur Atomnation hochgerüstet wurde. Macrons Ankündigung vom 20. Januar scheint fast wie eine Trotzreaktion Frankreichs; ganz nach dem Motto: Wenn Deutschland denkt, es könne sich mit seinem ‚Doppelwumms‘ von Sondervermögen und jährliche Militärausgaben an die wirtschaftliche und militärische Spitze Europas katapultieren und dabei seinen engsten Nachbarn hinter sich lassen, habe es sich getäuscht.
Dabei reiht sich dieser durchaus symbolische Seitenhieb nur zwei Tage vor dem 60-jährigen Jubiläum des deutsch-französischen Freundschaftstages ein in eine Kette von Schmollreaktionen von französischer Seite: So wurde bereits der deutsch-französische Ministerrat im Oktober 2022 in Paris unter Angabe von dubiosen Gründen kurzerhand abgesagt. Als jetzt kurz vor dem 60-jährigen Jubiläum des Élysée-Vertrags offenbar wurde, dass statt des gesamten Bundestags lediglich rund 140 Abgeordnete zur offiziellen Zeremonie des Freundschaftsvertrags nach Frankreich kommen, wurde die Feierstunde von Versailles kurzerhand in die Sorbonne verschoben. Noch vor der Bekanntgabe der milliardenschweren Investitionen in das französische Militär preschte Macron mit der Ankündigung von Lieferungen von französischen Spähpanzern an die Ukraine vor und schloss auch die Lieferung von Leclerc-Kampfpanzern nicht aus. Die Ankündigung kann als Zeichen an Bundeskanzler Scholz gedeutet werden, endlich Leopard 2-Panzer zu liefern. Und dann unterzeichnete das französische Staatsoberhaupt auch noch drei Tage vor dem Jubiläum des Élysée-Vertrags einen bilateralen Freundschaftsvertrag mit Spanien, der zwar schon lange geplant war, aber eben erst kurz vor der deutsch-französischen Feierstunde besiegelt wurde. Kurzum: Um die deutsch-französischen Beziehungen, zumindest auf höchster politischer Ebene, könnte es durchaus besser bestellt sein.
Keine Sorbonne-Rede 2.0
Mit Spannung waren die Reden des Festaktes über das 60-jährige Bestehen des Élysée-Vertrags in der Pariser Sorbonne-Universität erwartet worden. An Reden und Freundschaftsbekundungen fehlte es am deutsch-französischen Tag nicht, der neben einem Festakt in der Sorbonne von einer anschließenden doppelten Arbeitssitzung des Deutschen Bundestages und der Assemblée Nationale sowie dem deutsch-französischen Ministerrat mit anschließender Pressekonferenz begleitet wurde. Nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz und Staatspräsident Emmanuel Macron bereits zwei Tage vorher in einem Gastbeitrag bei der FAZ „sieben strategische Ziele zur Stärkung Europas“ aufgezeigt hatten, enthielten zumindest ihre jeweiligen Festreden keine neuen Vorschläge. Obgleich die Ampelkoalition mit ihrem Koalitionsvertrag europapolitisch einen großen Schritt auf den energischen französischen Staatspräsidenten zugegangen ist und Olaf Scholz in seiner Prager Rede Ende September 2022 zu weiteren europäischen Integrationsschritten aufrief, scheinen die vielen kleinen Einzelprojekte und Verkündungen nicht vergleichbar mit den großen integrationspolitischen Schritten wie der Schaffung eines Binnenmarkts, dem Maastrichter Vertrag oder der Währungsunion, die der deutsch-französische Motor einst vorantrieb.
Zwar dankte Bundeskanzler Scholz dem französischen Präsidenten für sein europapolitisches Engagement, das er 2017 in der Sorbonne-Rede eindrucksvoll dargelegt hatte, aber er vermochte nicht die gleiche europäische Begeisterungsfähigkeit zu vermitteln, die dem französischen Staatschef zumindest rhetorisch regelmäßig gelingt. In seiner Rede zum Festakt wiederholte der Bundeskanzler im Wesentlichen die großen europapolitischen Prioritäten und Imperative für die kommenden Jahre.
Bestehende Vorhaben werden ausgebaut
Mehr Substanz lässt sich demgegenüber in der gemeinsam verabschiedeten Erklärung im Anschluss an den deutsch-französischen Ministerrat finden, die auf die Bereiche Außen- und Verteidigungszusammenarbeit, industrie- und finanzpolitische Kooperation, die Weiterentwicklung der Europäischen Union sowie die Festigung bilateraler Initiativen fokussiert.
In der außen- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit wurden außer der Ankündigung, dass die deutschen und französischen Streitkräfte gemeinsame Übungen der deutsch-französischen Brigade in Litauen und Rumänien planen, keine neuen Initiativen bekannt gegeben, sondern vielmehr der Wille zur Zusammenarbeit beteuert. Insbesondere konnte Emmanuel Macron dem Bundeskanzler keine feste Zusage entlocken, Leopard-2-Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern. Bei der Entwicklung gemeinsamer Waffensysteme soll dafür das bereits geplante, aber bislang nur mäßig vorangekommene Bodenkampfsystem MGCS vorangetrieben werden und die Zusammenarbeit in der Luft- und Raumfahrt ausgebaut werden. Die Westbalkanländer, die Partnerschaft mit Afrika und die Präsenz Deutschlands und Frankreichs im Indopazifik machen die geopolitischen Prioritäten aus, die Teil der jeweiligen nationalen Sicherheitsstrategien Deutschlands und Frankreichs sind bzw. sein werden. Sie knüpfen unmittelbar an die bereits im November erschienene französische nationale Sicherheitsstrategie an, der bald eine deutsche folgen wird.
In der Kooperation im Energiesektor sollen Energieeffizienz und erneuerbare Energien mit einem „gemeinsamen Fahrplan“ entwickelt werden. „Gerade im Bereich der Energieversorgung gibt es große Synergieeffekte, die wir nutzen können“, sagt auch die Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der deutsch-französischen Freundschaftsgruppe, Nicole Westig (FDP). Hierzu dient eine bereits geschaffene Arbeitsgruppe zwischen französischem und deutschem Ministerium. Auch die deutsch-französischen Pläne für eine Wasserstoffunion sollen weiter vorangetrieben werden und „strategische Entscheidungen“ seien „für Ende April 2023 geplant“. Bis zuletzt durchaus strittig bleibt die Frage, wie Wasserstoff produziert werden soll. Während Frankreich hierfür doch vor allem seinen Atomstrom nutzen möchte, setzt Deutschland vor allem auf Strom aus erneuerbaren Energien. Um die bestehenden Reibereien im deutsch-französischen Verhältnis mit Blick auf die Energiezusammenarbeit abzumildern, soll die gerade vereinbarte französisch-spanische H2-Med-Wasserstoff-Pipeline auf Deutschland ausgeweitet werden, nachdem das deutsche Vorhaben, mit Spanien eine andere Gas-Pipeline (MidCat) zu bauen, am Widerstand Frankreichs gescheitert war.
Auch soll ein „neues deutsch-französisches Forschungsprogramm zu neuen Batterietechnologien“ geschaffen werden sowie eine „deutsch-französische Dialogplattform über Batterieaufladungs- und Wasserstoffzapfstellen-Infrastruktur“. Während in der Definition von Schlüsseltechnologien und der Notwendigkeit, die europäische strategische Autonomie zu fördern und sich dabei weniger einseitig von einzelnen Lieferanten wie China abhängig zu machen, große Einigkeit herrscht, ist die Implementierung derartiger Vorhaben bekanntermaßen schwieriger. Dabei sollten nicht die Fehler der Vergangenheit perpetuiert werden, wie das Lehrstück des deutsch-französisch-spanischen Luftabwehrsystems FCAS (future combat air system) zeigt. Politisch auf höchster Ebene gewollt und beschlossen, wurden die industriepolitisch auf Konkurrenz basierenden Unternehmen zu wenig in den Entscheidungsprozess miteinbezogen, um von vornherein Dissonanzen mit Blick auf Technologieführerschaft und Patente auszuräumen. Wenig überraschend kam es dann zum Eklat zwischen Airbus und Dassault.
Neben diesen durchaus konkreten Ankündigungen und Initiativen finden sich in den Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Europäischen Union wenig Neuigkeiten. Vielmehr gehen die Forderung nach Mehrheitsentscheidungen im Rat in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie bei Steuerfragen, der Anwendung des politischen Instruments der verstärkten Zusammenarbeit und die Schaffung von transnationalen, also europaweiten Listen über die Reden Macrons im Rahmen der „Konferenz zur Zukunft Europas“ sowie Scholz Prager Rede vom Herbst 2022 nicht hinaus. Insbesondere wird auch eine erweiterte Union von 35 oder mehr Mitgliedstaaten nur dann effizient bleiben können, wenn nötige Reformen durchgeführt werden. Doch so sehr sich Deutschland und Frankreich eine weitere Europäisierung der Entscheidungsbefugnisse und der Wahlsysteme wünschen, so unwahrscheinlich scheint deren Einführung noch vor den Europawahlen 2024. Schließlich blockieren mehrere Mitgliedstaaten Vertragsreformen. Diese Blockadehaltung anderer Mitgliedstaaten zeichnet vielleicht auch für das geringe Ambitionsniveau der Erklärung verantwortlich. Insgesamt dürfte die deutsch-französische Erklärung vom 22. Januar den ein oder anderen Proeuropäer enttäuscht haben, schließlich wurde sie mit Spannung erwartet und sollte große europapolitische Vorstellungen beider Länder für die nächsten 15 Jahre beinhalten.
Realistischer werden wohl weitere bilaterale Vorgehen umzusetzen sein, wie etwa die von Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) angekündigte Einführung von 60.000 Bahntickets für Jugendliche in Deutschland und Frankreich, eine Nachtzugverbindung zwischen Paris und Berlin sowie die Einrichtung eines Fonds für Kulturgüter aus afrikanischen Ländern. Insgesamt sind die Erklärungen und Initiativen des deutsch-französischen Tags daher von viel Pragmatismus und Realpolitik geprägt. Einen ‚großen Wurf‘ in Richtung einer verstärkten europäischen Integration enthalten sie aber nicht. Aber vielleicht braucht es diesen auch nicht, denn auch zuvor mangelte es nicht an Vorschlägen, die mit den zahlreichen Projekten des 2019 geschlossenen Aachener Vertrages bereits vorlagen. Insbesondere in Schlüsseltechnologien stehen große industriepolitische Vorhaben an, die es jetzt gilt, umzusetzen. Mit einer angekündigten Wasserstoffunion, gemeinsamen europäischen Projekten in Bereichen wie künstliche Intelligenz, Batteriezellforschung oder Cloud-Computing können und sollten Deutschland und Frankreich vorangehen und damit den Weg für eine neue Technologieavantgarde ebnen, der sich andere Länder anschließen.
Deutsch-französische Beziehungen nicht in Silos organisieren
Mit Blick auf weitere Richtungsentscheidungen sollte die Kooperation zwischen politischer, wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Ebene in den deutsch-französischen Beziehungen gestärkt werden. Zu sehr ist die deutsch-französische Zusammenarbeit noch in jeweiligen Silos verhaftet. So funktioniert die Kooperation auf zivilgesellschaftlicher Ebene durchaus sehr gut, schließlich sind Deutschland und Frankreich immer noch durch zahlreiche Städtepartnerschaften verbunden. Zudem finden Jugendaustausche mit wichtigen Mittlerorganisationen wie dem Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW) oder der akademische Austausch im Rahmen der Deutsch-Französischen Hochschule statt, ganz zu Schweigen von den vielseitigen Kulturbeziehungen beiderseits des Rheins. Doch diese mit den anderen Ebenen zu verknüpfen, fehlt vielerorts. Die deutsch-französischen Beziehungen müssen neben der Nachkriegsgeneration und einer jungen selektiven Elite mehr in die Breite der beiden Gesellschaften getragen werden, wozu der Spracherwerb und Austausch weiterhin unabdingbar bleiben. Derzeit beherrschen nur etwa 15% der jeweiligen Bevölkerung die jeweilige Nachbarsprache. Deutschlehrer etwa würden in Frankreich viel zu schlecht bezahlt, und es bedürfe einer neuen Sprachstrategie beider Länder, um das gegenseitige Verständnis zu fördern, so die einhellige Meinung der Panellisten auf einer Diskussionsveranstaltung in der Assemblée Nationale, die in Kooperation mit der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und der FDP Paris mit deutschen und französischen Abgeordneten organisiert wurde. Insbesondere in Ostdeutschland ist die Kenntnis und das Interesse gegenüber Frankreich begrenzt, was auch auf die geringen Direktinvestitionen zurückgeführt werden kann, die zehnmal geringer ausfallen als beispielsweise in Hamburg, worauf der Generalsekretär des DFJW, Tobias Bütow in der Volksstimme hinweist.
Parlamentarische Vernetzung ist essenziell, aber bleibt bruchstückhaft
Sich für diese Belange, insbesondere den Austausch der Jugend und jungen Erwachsenen in der beruflichen Bildung, auch über bekannte Pfade wie Schüleraustausch oder Erasmus einzusetzen, soll auch Schwerpunkt der neuen Tätigkeiten der frisch gewählten Vorsitzenden der deutsch-französischen Parlamentariergruppe werden, wie der französische Abgeordnete der Präsidentenpartei Renaissance Sylvain Maillard beteuert. Die Freundschaftsgruppe existiert parallel zur erst 2019 geschaffenen Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung (DFPV), die sich ihrerseits der Überprüfung der Fortschritte des Aachener Vertrages verschrieben hat. Die Freundschaftsgruppe soll die Beziehungen der Parlamentarier stärken und durch gegenseitige Austauschformate - z.B. im Rahmen eines Kurzpraktikums - das Wissen über die Arbeitsweise des jeweils anderen Parlaments vertiefen. Demgegenüber sei die Arbeitsweise der DFPV noch sehr formal ausgestaltet, monierte dessen Vorsitzende auf französischer Seite, Brigitte Klinkert, auf der Diskussionsveranstaltung am 21. Januar. Der Austausch auf parlamentarischer Ebene zwischen den beiden Ländern darf sich nicht auf formale Aussprachen beschränken, wie dies bislang bei den elf Sitzungen der DFPV der Fall war, sondern sollte im Rahmen von Arbeitsgruppen, die im ständigen Austausch miteinander stehen, themenspezifische Koalitionen und klare Ansprechpartner hervorbringen. Beachtenswert in der gemeinsamen Erklärung der beiden Parlamentspräsidentinnen der Assemblée Nationale und des Deutschen Bundestages sind zwölf Politikfelder, in denen sie ihren parlamentarischen Austausch fortsetzen möchten und so schließlich auch Druck auf das jeweilige Regierungshandeln ausüben können. Dies ist auch dringend notwendig, denn neben den wichtigen aktuellen Schwerpunktthemen auf exekutiver Ebene dürfen andere Themen wie die europäische Migrationspolitik, Entwicklungszusammenarbeit oder Gleichstellungspolitik nicht außen vor bleiben. Positiv ist zudem die Einrichtung einer Arbeitsgruppe der beiden Parlamente zur Umsetzung von europäischem Recht, denn es mangelt weiterhin an einem wirklichen Verständnis zwischen nationaler und europäischer Ebene. So konstatiert der liberale Europapolitiker Jan-Christoph Oetjen auf der Diskussionsveranstaltung in der Assemblée Nationale, dass er immer wieder erlebe, dass auf nationaler Ebene der komplexe europäische Gesetzgebungsprozess zu wenig verstanden wird und die Vernetzung zwischen nationalen und europäischen Abgeordneten bruchstückhaft bleibt. Um die anderen europäischen Partner nicht zu verstoßen, sei es zudem wichtig, dass Deutschland und Frankreich kein „Direktorium“ bilden, sondern „im Sinne der EU als Ganzes handeln“, wie der europapolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag und ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für deutsch-französische Zusammenarbeit, Michael Link, in den sozialen Medien beteuerte.
Mit dem Begehen des Festaktes zum 60-jährigen Bestehen des Élysée-Vertrages haben Deutschland und Frankreich gezeigt, dass sie sich über die wichtigen europapolitischen Herausforderungen unserer Zeit einig sind. Die Zusammenarbeit soll in verschiedenen Politikbereichen ausgeweitet werden, ohne dabei gänzlich neue Pfade einzuschlagen. Statt großen Elan scheint das Vorankommen in kleinen Schritten das Gebot der Stunde. Ein bisschen mehr Pathos und Emotionen hätte es vor allem von deutscher gegenüber französischer Seite schon sein dürfen, um den in Teilen gekränkten Franzosen von dem wahrhaftigen deutschen Reformwillen für Europa zu überzeugen. Umso wichtiger wird das zivilgesellschaftliche Engagement sein, um zu einer Verständigung beider Völker über Politik, Gesellschaft und Kultur beizutragen, wie dies auch Aufgabe des Europäischen Dialogprogramms der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist.
Jeanette Süß ist European Affairs Managerin im Regionalbüro „Europäischer Dialog“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel und leitet dort die Frankreich-Aktivitäten.