Conference on the Future of Europe
Demokratie 2.0
Auf einmal ging dann doch alles sehr schnell: nach monatelangem Hin und Her zu Führungspersönlichkeiten, Struktur und Beschaffenheit der „Konferenz über die Zukunft Europas“, legten Kommission, Parlament und Rat der EU Anfang März ihre mit Spannung erwartete gemeinsame Erklärung zur Zukunftskonferenz vor. Knapp drei Wochen vor dem offiziellem Startschuss der Zukunftskonferenz am Europatag, dem 9. Mai, veröffentlichte die EU diesen Montag ihre Online-Plattform, in der sich alle Bürger und Bürgerinnen der EU aktiv einbringen können. Der liberale belgische Europaabgeordnete und Ko-Vorsitzende des Exekutivausschusses der Konferenz für das Europäische Parlament, Guy Verhofstadt (Renew Europe), wies auf der Pressekonferenz am 19. April darauf hin, dass die digitale Plattform eine völlig neue Form der Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene darstellen würde und damit nicht vergleichbar mit bereits bestehenden Formaten sei, wie etwa den Eurobarometer-Umfragen.
Transparent, divers und demokratisch
Auf der Plattform kann jeder Bürger und jede Bürgerin der EU Reformvorschläge für die zukünftige Ausgestaltung der EU unterbreiten. Diese Vorschläge werden thematisch gebündelt, 9 Themenfelder sind vorgegeben, um die Debatte zu strukturieren. In der Spalte „Weitere Ideen“ können jedoch weitere Ideen und Vorschläge eingebracht werden – allein innerhalb von 3 Tagen kamen so knapp 90 Beiträge zustande. Damit die Beteiligten sich nicht nur in ihrer eigenen Filter-Bubble aufhalten, wie man sie von den sozialen Medien wie Facebook oder Twitter kennt, also z.B. nur Vorschläge sehen, die zu ihren eigenen Anschauungen passen, wurde eigens ein Algorithmus eingerichtet, der vollkommen zufällig Vorschläge anderer Teilnehmender einblendet. Beiträge sollen mithilfe künstlicher Intelligenz automatisch in alle 24 Sprachen übersetzt werden. Ein erster Selbsttest ergab jedoch, dass die Beiträge bislang nur in den Originalsprachen einsehbar sind, ein Umstand, der bis zum offiziellen Launch am 9. Mai noch behoben werden sollte!
Mit 3 P’s der Mammutaufgabe der europäischen Mehrebenenpolitik Herr werden
Die Vielschichtigkeit der verschiedenen politischen Ebenen der EU – von lokal bis national zu europäisch – soll in der Meinungsbildung der Zukunftskonferenz abgebildet werden. Dafür ist die Zukunftskonferenz auf drei Ebenen – den 3 P’s – präsent:
- der Plattform, die die Beteiligung aller Bürger auf freiwilliger Basis ab sofort ermöglicht;
- 4 Bürger-Panels (Bürgerforen) ab Herbst 2021, die von der EU organisiert werden, in denen 235 zufällig ausgewählte und damit repräsentativ für die Bevölkerung der EU stehende Bürgerinnen und Bürger debattieren;
- eine Plenardebatte mit Vertretern der drei Institutionen, nationalen Parlamenten, zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie Vertretern der vier Bürgerforen. Die genaue Ausgestaltung der Plenardebatte und der Panels wird sich jedoch in den folgenden Wochen noch klären: so existieren weiterhin unterschiedliche Wünsche mit Blick auf die Verteilung von Repräsentanten der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments, der Kommission und der Bürgerpanels innerhalb der Gesamt-Plenardebatte.
Neben diesem komplexen interinstitutionellen Austarieren ist in jedem Falle positiv zu bewerten, dass neben der aktiven Einbindung der Bevölkerung im Rahmen der Online- Plattform auch sämtliche Veranstaltungen zivilgesellschaftlicher Organisationen oder auch individueller Gruppen gelistet werden können, sodass dezentral Veranstaltungen zur Konferenz abgehalten und diese transparent und übersichtlich gemacht werden. So können europaweit erarbeitete Thesen kanalisiert werden und in den Gesamtdiskurs eingespeist werden. Auch die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit wird sich in verschiedenen Veranstaltungsformaten im In- und Ausland an diesem Prozess beteiligen.
Freie Meinungsäußerung ohne Hate speach und Fake-News
Damit diese deliberative Beteiligungsform nicht für Hassrede oder Verschwörungstheorien missbraucht wird, müssen die Teilnehmer eine Charta unterschreiben, in der sie sich verpflichten, die europäischen Werte zu respektieren, mit "konstruktiven und konkreten Vorschlägen" beitragen und keine "illegalen, hasserfüllten oder absichtlich falschen oder irreführenden" Inhalte zu verbreiten.
Dies ist Teil der Bemühungen, mit denen verhindert werden soll, dass die Seite von Trollen übernommen und durch Desinformation gekapert wird. Eine Gruppe von Moderatoren überwacht die Einhaltung der Charta und entfernt Inhalte bei Regelverstößen. Allerdings zeigt ein erster Blick auf die bereits veröffentlichten Beiträge, dass einige wenige diese Kriterien nicht erfüllen und dennoch öffentlich einsehbar sind. Hier müssen die Moderatoren noch nachlegen und gegebenenfalls gestärkt werden!
Lektionen aus vorherigen Versuchen ziehen
Auch wenn die Konferenz-Plattform einmalig ist, da sie die erste transnationale Debattenmöglichkeit auf europäischer Ebene darstellt, wird es für das Gelingen der Zukunftskonferenz von zentraler Bedeutung sein, die richtigen Lehren aus verschiedenen nationalen Initiativen zu ziehen. So birgt der Vergleich insbesondere zu den Bürgerkonventen in Frankreich, aktuell zum Klima (convention citoyenne pour le climat), erhebliches Lernpotenzial mit Blick auf Risiken und Chancen physischer und digitaler Bürgerbeteiligungsformen. Das Handeln der französischen Regierung im Nachgang der vom Konvent erarbeiteten 150 Vorschläge wurde von den Teilnehmenden selbst sowie von Nichtregierungsorganisationen als unzureichend kritisiert, da viele Vorschläge verfälscht oder unzureichend aufgenommen worden seien. Grundsätzlich stellt sich bei dieser demokratischen Übung also die Frage, inwieweit von Bürgerinnen und Bürgern erarbeitete Vorschläge dann auch im Rahmen regulärer Gesetzgebungsprozesse aufgenommen werden können bzw. müssen, ohne die Politikverdrossenheit breiter Kreise der Bevölkerung weiter zu schüren. Durchweg positiv ist der französische Klimakonvent jedoch mit Blick auf die Sozialisationseffekte, die er entfaltet: Durch die längere und genauere Beschäftigung mit politischen Inhalten wurden die vollkommen zufällig ausgewählten französischen Bürgerinnen und Bürger für die Komplexität von politischen Entscheidungsprozessen sensibilisiert. Zielkonflikte zwischen ideellen Vorstellungen auf der Einen, in diesem Fall dem Klimaschutz, und politischer Machbarkeit auf der anderen Seite wurden so transparent und erlebbar gemacht, was insbesondere vor dem Hintergrund der Gelbwestenbewegung und sozialer Spannungen in Frankreich friedensstiftend sein kann. Auch der Dialog zwischen den teilnehmenden selbst ist im Sinne der Förderung einer freien und pluralistischen Debatte wertvoll, da sich Menschen, die sich sonst lediglich in ihrem eigenen sozialen und damit begrenzten Umfeld bewegen, mit Positionen Anderer konstruktiv auseinandersetzen müssen. Durch die Repräsentativität wird Inklusivität daher überhaupt erst ermöglicht.
Liberale Forderungen für eine gewinnbringende Zukunftsdebatte
Während bei den organisierten Bürger-Panels Repräsentativität durch die Ziehung per Los gewährleistet werden soll, ist nun eine zentrale Herausforderung der Online-Plattform, sicherzustellen, dass sie nicht nur von Europaskeptikern und Europa-Enthusiasten oder Personen, die sich beruflich mit EU-Politik befassen, genutzt wird, sondern auch breite Teile der Bevölkerung erreicht, wie der Fraktionsvorsitzende von Renew Europe, Dacian Cioloş, auf Twitter anmerkte.
Um eine breite Beteiligung der Bevölkerung zu gewährleisten, wird daher die Vermarktung der Konferenz über klassische und soziale Medien eine von mehreren Erfolgsfaktoren darstellen. Weitere Gelingensfaktoren bei Online-Beteiligungsformaten wie der Zukunftskonferenz sind Vertrauen in die entsprechende Plattform als auch eine intuitive Handhabung, wie eine kürzlich vom European Liberal Forum und der Friedrich-Naumann Stiftung mitgetragenen Studie zu E-Democracy deutlich gemacht hat. Die Mitgliedstaaten sollten daher die Streuung von Informationen über die Konferenz bewusst planen und fördern und über Medienpartnerschaften eine größtmögliche Reichweite erzielen.
Nicht zuletzt die Wirtschafts- und Finanzkrise als auch die Gesundheits-Krise im Zuge der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass die Europäische Union mit Blick auf ihre Handlungsfähigkeit reformbedürftig ist. In zu vielen Politikfeldern quotiert das Institutionengefüge der Europäischen Union nationale Egoismen, die dann die Lösung von Problemen blockieren, statt diese effektiv auf europäischer Ebene zu lösen. Die Zukunftskonferenz böte nun eine politisch gut legitimierte Möglichkeit, jetzt Weichen für eine stärkere europäische Integration zu stellen und mit konkreten Vorschlägen Lösungsansätze für die bisherigen Missstände aufzuzeigen. Allerdings werden viele dieser Änderungswünsche ohne Vertragsänderung nicht umsetzbar sein. Eine progressive Agenda sollte diese daher nicht ausschließen, denn nur mit Vertragsänderungen kann die EU sich ein Parlament mit Initiativrecht und transnationalen Listen ermöglichen, kann endlich das Mehrheitsprinzip in der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik einführen, kann der unzureichende Rechtsstaatsmechanismus nach Artikel 7 EUV reformiert oder die die Einhaltung einer EU-Grundrechtecharta einklagbar gemacht werden. Auch wenn nicht alle Vorschläge der Konferenz umgesetzt werden können: weitere Reformen der EU sind dringend nötig und es muss Offenheit gegenüber der Finalität, also der Zielvorstellung einer handlungsfähigeren und integrativeren Europäischen Union herrschen. Die Europäische Union braucht einen neuen Rahmen, um ihre gemeinsamen Probleme wirkungsvoll gemeinsam zu lösen. Nur so können wir Europäer unseren European way of life im 21. Jahrhundert behaupten.
Jeanette Süß ist European Affairs Managerin im Regionalbüro „Europäischer Dialog“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.