Menschenrechte
„Ein Europäisches Lieferkettengesetz kann und darf nur ein Baustein sein“
Die „Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte“ der Vereinten Nationen finden im zehnten Jahr nach ihrer Verabschiedung immer mehr Eingang in gesetzliche Vorgaben. Vorgestern stimmte das EU-Parlament mit großer Mehrheit einem Bericht des Rechtsausschusses zu einer Sorgfaltspflichtenregelung für Unternehmen zu. Besser bekannt als „Due Diligence Law“, ist dies ist ein weiterer Schritt hin zu einer Regelung auf europäischer Ebene. Durch menschenrechtliche Sorgfalt würden Unternehmen dazu verpflichtet, Menschenrechtsverletzungen in ihrem Geschäftsbereich klar zu adressieren und zu verhindern.
Bereits am 27. Januar wurde der Bericht fast einstimmig im Rechtsausschuss des EU-Parlaments angenommen. Mit der Zustimmung des Parlaments erhält die Kommission nun ein klares Mandat zur Vorlage eines Gesetzesvorschlages. Bei dem vom Europaparlament verabschiedeten Bericht handelt es sich um einen legislativen Initiativbericht (INL) nach Artikel 225 AEUV. Im Gegensatz zu nichtlegislativen INI-Berichten kann das EU-Parlament mit den INL-Berichten die Monopolstellung der Europäischen Kommission bei Gesetzesvorlagen dahingehend beeinflussen, dass es mit seinem Bericht einen konkreten Gesetzgebungsvorschlag unterbreitet, den die Kommission nicht einfach ignorieren kann.
Weitreichende Vorschläge für Sorgfaltspflichten von Unternehmen
Die Forderungen des EU-Parlaments gehen über den aktuellen Gesetzesentwurf in Deutschland hinaus, der am 6. März vom Kabinett verabschiedet wurde. Nicht nur Menschenrechtsverletzungen, sondern auch Umwelt- und Good Governance-Risiken sollen nach den Wünschen der EU-Parlamentarier in die Sorgfaltspflicht von Unternehmen aufgenommen werden. Auch sollen Unternehmen für die Gesamtheit der Lieferkette verantwortlich sein. In der Debatte umstritten war bis zuletzt die besondere Rolle von Kleinen und Mittleren Unternehmen (KMUs). Das Parlament spricht sich für eine Regelung aus, die bei großen Unternehmen, börsennotierten und „Hoch-Risiko-KMUs“ greifen soll. Unternehmen sollen jedoch auch die Möglichkeit einer „Erklärung über die Abwesenheit von Risiken“ abgeben können. Ein risikobasierter Ansatz ist zu begrüßen, da er den Aufwand für betroffene Unternehmen mindert. Kleinen und Mittleren Unternehmen sollten demnach keine untragbaren Haftungsrisiken aufgebürdet werden. Wie der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Markus Löning hervorhebt, beabsichtigt die EU damit, gleiche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen zu schaffen.
Was sagen Unternehmen und Zivilgesellschaft?
Von Oktober 2020 bis Februar 2021 führte die Europäische Kommission eine öffentliche Konsultation durch. Grundsätzlich soll mit derartigen Konsultationen die Meinung eines breiten Spektrums an Akteuren, von Unternehmen über Gewerkschaften und betroffenen Einzelpersonen bis hin zu Nichtregierungsorganisationen und Behörden, eingeholt werden. Der Rücklauf zeigte die außerordentliche Relevanz der Debatte: Über eine halbe Million Menschen und rund 700 zivilgesellschaftliche Organisationen, wissenschaftliche Einrichtungen und Gewerkschaften brachten sich in die Debatte ein.
Zu den primären Forderungen zählt die Inklusion von Betroffenen und marginalisierten Gruppen. Zudem sollen Opfer gegenüber Unternehmen zivilrechtliche Klagemöglichkeiten vor europäischen Gerichten eingeräumt werden. „Während [der Parlamentsvorschlag] einen Schritt in die richtige Richtung repräsentiert, wird die Kommission auf diesem Vorschlag aufbauen und einen noch robusteren, kohärenteren und ambitionierteren Gesetzesvorschlag herausbringen müssen, der in der Praxis funktioniert und Justizgewährungsanspruch für Opfer von Menschenrechtsverletzungen bietet“, kommentiert die European Coalition for Corporate Justice.
Diesen zivilgesellschaftlichen Forderungen gegenüber äußerten sich Wirtschaftsverbände bereits in einem früheren Konsultationsverfahren kritisch. Sie fordern die EU-Kommission auf, nicht die Herausforderungen in der Umsetzbarkeit und Belastung von Unternehmen zu vergessen. „Konzernobergesellschaften mit Sitz in der EU [sollen] auch für Schäden ihrer Geschäftspartner oder Tochtergesellschaften in Drittstaaten vor Gerichten in den Mitgliedstaaten zur Verantwortung gezogen werden.“ Fraglich sei, „ob Unternehmen die geplanten Anforderungen überhaupt kontrollieren und leisten können“, mahnt etwa der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).
Due Diligence und Lieferkettengesetz als Zeichen einer europäischen Öffentlichkeit
Die EU bemüht sich in Bezug auf die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht mit einer Stimme zu sprechen und gegenüber der Öffentlichkeit eine Einigkeit zu präsentieren, die andernorts nach der Coronapandemie und der Impfbeschaffung stark gelitten hat. Themenspezifisch zeigt die aktuelle Diskussion, dass es eine europäische Öffentlichkeit geben kann. Vermieden werden sollte in jedem Fall eine Situation eines rechtlichen Flickenteppichs, in dem einzelne Mitgliedstaaten in diversen Geschwindigkeiten unterschiedliche oder gar konträre Gesetze zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht beschließen.
Die intensiven Diskussionen zum neuen Lieferkettengesetz auf europäischer Ebene demonstrierten bereits, dass die gesetzgeberischen Überlegungen weit über die aktuelle Debatte in Deutschland hinausreichen. Die Bundesregierung hatte sich während der EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 von vornherein für eine europäische Regelung stark gemacht und die seit 2020 durch die Kommission und das EU-Parlament in Gang gebrachte Debatte begleitet und mit eigenen Konferenzen mitgestaltet. Aus Sicht des FDP-Bundestagsfraktionsvize Michael Theurer sei es „bedauerlich, dass die Bundesregierung einen nationalen Alleingang macht, anstatt gemeinsam mit der Europäischen Union die Durchsetzung von Menschenrechten in den Lieferketten wirksam zu gestalten“.
Eine positive Entwicklung ist der zunehmende Best-Practice-Austausch zwischen den EU-Mitgliedstaaten, angeleitet durch die Zivilgesellschaft. So wurde in der Anhörung des Menschenrechtsausschusses des Bundestags im Oktober 2020 explizit auf das französische loi de vigilance verwiesen und eine entsprechende Stellungnahme einer Sachverständigen eingeholt. Der Versuch, die unterschiedlichen Interessen miteinander in Einklang zu bringen, zeigt sich auch an der Beauftragung umfassender Berichte durch die Europäische Kommission Anfang 2020, in welchen die Machbarkeit und bisherigen Erfahrungen in 12 Mitgliedstaaten wie den Niederlanden, Schweden, Polen sowie dem Vereinigten Königreich genau analysiert wurden.
Paradigmenwechsel in Sicht?
Die Globalisierung hat weltweit zu mehr Wohlstand und einem steigenden Entwicklungsniveau geführt. Gleichzeitig begünstigen schwach ausgeprägte rechtstaatliche Systeme in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden in komplexeren Lieferketten. Das öffentliche Bewusstsein für diese Problematik hat spätestens seit den 1990er Jahren zugenommen. Die internationalen Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2011 bildeten den ersten und bisher einzigen Konsens zwischen Zivilgesellschaft, Staatengemeinschaft und Wirtschaft zu diesem Thema. Auch wenn bereits 25 Länder dies als Weckruf für die Erstellung nationaler Aktionspläne gesehen haben, mangelt es hier jedoch bisher immer noch an rechtlicher Verbindlichkeit, um zu einem nachhaltigen globalen Umdenken zu führen.
2015 beschlossen die G7 deshalb, Lieferketten nachhaltig zu gestalten. Was als ein Beschluss begann, leitete einen Paradigmenwechsel ein, der die Verantwortung für den Schutz der Menschenrechte nicht mehr allein bei Regierungen, sondern auch bei der Wirtschaft sah. Für Unternehmen liegen hier auch Chancen, da Verbraucher ihr Konsumverhalten stärker an ethischen Standards orientieren und somit Transparenz und Engagement von Unternehmen wertschätzen.
Nicht nur die UN-Leitlinien, sondern auch die UN-Ziele für Nachhaltige Entwicklung, die die EU stark beeinflusst hat, leiten den Paradigmenwechsel ein. Das vergangene Jahrzehnt war geprägt durch die Spaltung zwischen wachsenden autokratischen und demokratischen Kräften in Europa und weltweit. Angesichts des wachsenden Einflusses von wirtschaftlichen Schwergewichten wie China einerseits und um dem Phänomen der „Orbanisierung“ zieht die EU neue Register, um Demokratie und Menschenrechte zu wahren und spricht dabei auch der Wirtschaft eine zentrale Rolle zu. Ein Beispiel hierfür ist die so genannte „Alles außer Waffen“-Regelung der EU, durch die Zölle aus den am wenigsten entwickelten Ländern (LDC) wegfallen. Diese Handelspräferenzregelung gewann im vergangenen Jahr eine besondere Rolle in der Ausübung von wirtschaftlichem Druck auf die autokratische Regierung und ihre Menschenrechtsverstöße in Kambodscha. Deshalb setzte die EU hier rund 20% der Präferenzen aus und die kambodschanische Regierung unter Druck, die einen Großteil ihres Handels mit der EU betreibt.
Es ist nicht verwunderlich, dass das geplante Gesetz zur nachhaltigen Unternehmensführung nun als neuster Hoffnungsträger der Wirtschaftsinstrumente zur Demokratieförderung gesehen wird. Der Schutz der Menschenrechte kann jedoch nicht nur von Unternehmen realisiert werden, sondern muss durch staatliche Entwicklungszusammenarbeit flankiert werden, wie die liberale Europaabgeordnete Svenja Hahn in der Plenardebatte anmahnt: „Ein Europäisches Lieferkettengesetz kann und darf nur ein Baustein sein.“
Jeanette Süß ist European Affairs Manager im Europäischen Dialogprogramm
Jana Weber ist Manager Programmes & Outreach im Europäischen Dialogprogramm