Paris
„Grand Paris (Express)“ verspätet sich – Wann wird aus Paris eine echte Metropolregion?
In der französischen Hauptstadt entsteht seit zehn Jahren ein neues Infrastrukturprojekt: der Grand Paris Express verdoppelt das bestehende U-Bahn-Netz mit mehr als 60 Stationen und 200 Kilometern Schienenwegen im Untergrund. Entlang der U-Bahn-Stationen, die vom Flughafen Charles de Gaulle im Norden bis nach Versailles im Süden gebaut werden, entstehen neue Quartiere und Bürokomplexe mit einem Investitionsvolumen von über 4,5 Mrd. Euro. Trotz des Versprechens des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron kann dieses Megaprojekt nicht wie geplant bis zu den Olympischen Spielen 2024 abgeschlossen werden. Warum dauert das so lange?
Komplexe Verwaltung verhindert effiziente Entscheidungsführung
Bauherrin des Projekts ist die Societé du Grand Paris, ein staatliches Unternehmen, dessen Aufsichtsrat sich aus Bürgermeistern und Mitgliedern der Zentralregierung zusammensetzt. Das Projekt wurde mehrmals angepasst und sieht sich mit technischen, finanziellen und gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert: von eingebrochenen und gefluteten Tunneln, überschrittenen Budgets bis hin zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie. “[Der Grand Paris Express] wird fertig” versprach der von Macron eingesetzte Aufsichtsratschef Monteils noch im März 2021. Mitte Juli wurde nun allerdings bekannt gegeben, dass die neuen U-Bahn-Linien voraussichtlich erst ab 2025 bis 2030 schrittweise an den Start gehen werden.
Umso mehr auch die aktuelle Regierung das Projekt unter allen Umständen durchbringen möchte, ist für seine erfolgreiche Ausführung die Koordinierung mehrerer politischer Ebenen notwendig. In der Realität regieren aber verschiedene Institutionen aneinander vorbei, mit überlappenden Kompetenzen in Stadtplanung und Infrastruktur. Die mehrheitlich sozialistisch geführten Gemeinden, die in 12 Établissements publics territoriaux (Gemeindeverbänden)zusammengeschlossen sind, bilden zusammen mit der Stadt Paris die Métropole du Grand Paris, welche zwar für die Stadtplanung für die gesamte Metropole zuständig ist, aber seit ihrer Formierung vor fünf Jahren nicht aktiv in die Stadtplanung eingestiegen ist. Sie entscheidet nur einstimmig nach dem Konsensprinzip. Hinzu kommt, dass sie nicht Mitglied des Aufsichtsrats der Societé du Grand Paris ist, sondern nur eine Kooperationsvereinbarung im Jahr 2021 unterschrieben hat – zehn Jahre nach dem Beginn der Bauarbeiten am Megaprojekt. Das zeigt den Konflikt zwischen den beiden Institutionen, der Societé welche die Zentralregierung repräsentiert und der Métropole, die sich aus den Gemeindeverbänden zusammensetzt und ihre Interessen vertritt. Somit kann die Métropole du Grand Paris keinen Einfluss auf die Planung und Ausführung des Projekts ausüben, sondern muss sich an die schon beschlossenen Trassenverläufe anpassen, wenn sie als Akteurin in der Stadtplanung auftreten will.
Zwei Abgeordnete der Regierungsfraktion von La République en Marche (LREM) brachten deshalb bereits im Herbst 2020 eine Gesetzesinitiative ein, um die Métropole du Grand Paris abzuschaffen und die administrative Gliederung neu zu ordnen. Emmanuel Macron hat jedoch bereits 2017 nach seiner Wahl zum Präsidenten eine Konferenz mit den Gemeinden veranstaltet, um eine ähnliche Reform anzustoßen und einen echten dezentralisierten Gemeindeverband – einen syndicat mixte – einzuführen, jedoch ohne Erfolg. Auch deshalb liegt der aktuellen Regierung vor dem Hintergrund der nächsten Präsidentschaftswahlen 2022 viel daran, die Weichen für die Fertigstellung des Projekts zu stellen und eine Reform der Verwaltungsstruktur in der Pariser Metropolregion anzugehen. Diesmal scheint die Situation vorteilhafter zu sein, denn der Senat hat am 21 Juli 2021 ein Gesetzesvorhaben über eine Dezentralisierung und Stärkung der Gemeindeebene angenommen und an die Nationalversammlung übermittelt. Somit wäre der Weg für eine Reform der Metropolregion nach einer möglichen Wiederwahl Macrons geebnet.
Am Ziel festhalten: Zentrum und Peripherie miteinander verknüpfen
Trotz der Schwierigkeiten ist das Projekt ein zentraler Baustein, Paris und seine Umgebung zu einem Gesamtgebilde zu verbinden. Die Fläche der eigentlichen Hauptstadt beträgt lediglich 12% des Ballungsraums. Nur 25% der Menschen, die in der Stadt Paris leben, wohnen auch tatsächlich in der Gemeinde Paris. Beispielsweise liegt das bekannte Geschäftsviertel La Défense nicht in der Hauptstadt selbst, sondern innerhalb von vier Nachbargemeinden.
Zwischen der eigentlichen Hauptstadt und ihren Ballungsräumen werden sozioökonomische Verwerfungen immer sichtbarer: Senator Didier Rambourd (LREM) und Philippe Dalier (Les Républicains) konstatierten im März 2021 in einem Bericht an den Senat, dass “Paris die französische Metropole mit den größten Einkommensunterschieden ist”. Daran würden besonders die Einwohner von Saint-Denis leiden, einem Banlieue nördlich von Paris und eine der ersten Anlaufstellen für viele Zuwanderer. Viele Menschen arbeiten im Dienstleistungssektor der gesamten Agglomeration, haben aber nicht den gleichen Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln wie die Einwohner in anderen Teilen von Paris und dem Umland. Am äußersten Stadtrand versiegeln Einfamilienhaussiedlungen gleichzeitig wertvolle Freiflächen und ihre Bewohner verbringen immer mehr Zeit auf den Stadtautobahnen. Insoweit hat das Projekt “Grand Paris Express” auch das Ziel, das Bewusstsein zu schaffen, in einem gemeinsamen Paris zu leben und der Entkopplung von Zentrum und Peripherie entgegenzuwirken.
Wie kann aus dem Infrastrukturprojekt eine Metropolregion erwachsen?
Ein U-Bahn-Projekt, so umfangreich es auch ist, macht alleine jedoch keine erfolgreiche Metropolregion aus. Eine regionalökonomische Studie über die Auswirkungen des Projekts auf den Arbeitsmarkt stellt fest, dass die verstärkten Agglomerationseffekte durch das U-Bahn-Projekt tatsächlich die Produktivität der Unternehmen und Einwohner erhöhen könnte, da ein besserer Zugang zum Arbeitsmarkt in der gesamten Region hergestellt würde. Dies führe zu einem Zuzug von mehr Menschen aus Frankreich, der EU und weltweit.
Wenn das Angebot an Wohnraum jedoch nicht mit dem Zuzug von neuen Einwohnern Schritt hält, steigen die Mieten und relativieren das gestiegene Einkommen der Einwohner maßgeblich. Diese positiven Effekte durch die 200 Kilometer neuen Schienenwege drohen dann zu verpuffen. Es reicht also nicht, eine neue U-Bahn-Linie zu bauen, es muss auch eine moderne und unbürokratische Verwaltungsstruktur damit einhergehen, damit die positiven Effekte der gestiegenen Produktivität wirken können.
Zentralisierte Metropolen und dezentralisierte Metropolregionen in Europa
In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt es unterschiedliche Herangehensweisen, um große Städte und Metropolen zu entwickeln. Die EU hat außer ihren Kompetenzen in der Förderung der Regionalentwicklung im Rahmen ihrer Strukturfonds und der Finanzierung von Forschungsvorhaben kaum Einfluss auf den städtischen Raum. Besonders in den neuen EU-Mitgliedstaaten konzentriert sich die Wirtschafts- und Raumordnungspolitik auf wenige große Städte im Land, um die Landesentwicklung voranzutreiben. In Rumänien zum Beispiel sind die wenigen Metropolregionen autonomer als der Rest des Landes. Fragen der kommunalen Selbstverwaltung oder Infrastruktur auf dem Land werden zugunsten einer stark wachsenden Metropole – meist der Hauptstadt – zurückgestellt.
In Deutschland entstand in den Neunziger Jahren die Idee der “Europäischen Metropolregion”, welche ein Netz aus wirtschaftlich leistungsstarken Großstädten und ihren verbundenen Nachbargemeinden in Deutschland schafft. Damit soll verhindert werden, dass sich alles in wenigen einzelnen Mega-Städten konzentriert. Frankreich ist allein schon durch seinen historisch auf die Hauptstadt fokussierten Wirtschaftsstruktur gänzlich anders beschaffen. Aber liegt in dem neuen dezentralen Gemeindeverband des Grand Paris Express nicht auch eine Chance, über das traditionelle Hauptstadtverständnis hinauszuwachsen?
Grand Paris Express – für mehr Demokratie und lokale Identität?
Für Paris und seinen Ballungsraum ist noch nicht abzusehen, welcher administrative Weg eingeschlagen wird. Dies muss jedoch spätestens bis zur Fertigstellung 2030 geklärt werden, denn ein großes U-Bahnnetz bringt wenig, wenn die Entwicklung neuer Quartiere an den neuen Stationen nicht koordiniert und schnell genug passiert. Ein dezentraler Gemeindeverband, in dem die Gemeinden ihre Autonomie beibehalten aber in bestimmten Funktionen zusammenarbeiten, wie von Macron vorgeschlagen, würde in jedem Falle die Vorteile einer Metropole bei Beibehaltung der kommunalen Identität der Mitgliedsgemeinden vereinen.
Dezentral aufgestellte Metropolregionen sind eine Chance, die kommunale Identität innerhalb der Gemeinden zu stärken. Eine Studie des ifo-Instituts im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung zeigt, dass eine starke kommunale Identität mit stärkerem sozialen und politischen Engagement vor Ort einhergeht. Mit einer klar definierten Kooperation innerhalb von Metropolregionen können diese Gemeinden Probleme effektiver angehen, die sie alleine nicht lösen können. Ein gutes Beispiel ist hierfür die Metropolregion Ruhr, ein Verband aus 53 Städten mit insgesamt fünf Millionen Einwohnern. Sie übernimmt die allgemeine Planung der gesamten Region sowie die Wirtschaftsförderung auf der Metropol-Ebene und lässt den Mitgliedsgemeinden weitestgehend Autonomie. Trotzdem könnte die Kooperation hier noch tiefer gehen, wie beispielsweise bei der Verkehrsinfrastruktur oder der öffentlichen Verwaltung. Es können auch neue Dienste auf der Ebene der Metropolregion entstehen, die mit den Mitteln der Gemeinden finanziert werden können. Durch kluge Wirtschaftsförderung und Marketing kann ein Bild einer vereinten Metropole für Außenstehende vermittelt werden, ohne die Autonomie in den Gemeinden einzuschränken.
Insofern besteht in dem Mega-Projekt des Grand Paris Express vielmehr die Chance, die Bürger und Bürgerinnen in Paris und seiner Umgebung zu einem neuen großen Ganzen zu verbinden, lokale Demokratie erlebbar zu machen und den so dringend benötigten wirtschaftlichen Aufschwung über die Kernstadt hinaus weiter in die Fläche zu tragen. Hierfür wird in jedem Falle noch viel Schweiß, Geld und politischer Wille nötig sein.
Boris Kagan ist Masterstudent an der Sciences Po Paris und beschäftigt sich damit, welchen Einfluss Stadtplanung auf Urban Governance in Metropolen im Globalen Norden und Süden haben. Er ist Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.