Niederlande
Rutte bei den Parlamentswahlen im Auftrieb
Die Niederlande wählen inmitten strenger COVID-19-Maßnahmen. Mit einer Kampagne, die auf Kontinuität setzt, wird der geschäftsführende Premierminister Mark Rutte die Liberalen voraussichtlich zu einem weiteren Wahlsieg führen. Doch unter der Oberfläche könnte eine neue Dynamik den Kurs der neuen Regierung verändern.
In den Niederlanden stehen Parlamentswahlen an. Beginnend am Montag, den 15. März, haben die niederländischen Wähler bis Mittwochabend Zeit, ihre Stimme für die Parlamentswahlen (Tweede Kamer) abzugeben.
Das Thema, das den Wahlkampf dominiert, ist - wenig überraschend - die COVID-19-Pandemie. Wie in weiten Teilen Europas gelten auch in den Niederlanden noch immer strenge Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren. Inmitten einer dritten Welle von Coronavirus-Infektionen verschärfte die Regierung im Januar die Einschränkungen und führte eine nächtliche Ausgangssperre ein. Obwohl einige Restriktionen in den Wochen vor den Wahlen aufgehoben wurden, stehen die verschiedenen Pläne für einen Neustart der Gesellschaft im Mittelpunkt der politischen Debatte.
Die Pandemie hat auch praktische Folgen für den Wahlkampf. Aufgrund der Maßnahmen konnten die normalen Wahlkampfaktivitäten nicht stattfinden und mussten abgesagt werden. Dies zwang die Parteien, die Kampagnen fast vollständig auf TV, Radio und Online zu verlagern.
Auf der Agenda: Klima, Wohnen, Bildung, Gesundheitswesen
Trotz des starken Fokus auf die Bekämpfung des Coronavirus werden andere Themen nicht vergessen. Schlüsselthemen der Kampagne sind die Klima-, Wohnungs-, Gesundheits- und Bildungspolitik. Während sich alle Parteien darüber einig sind, dass diese Themen angegangen werden müssen, herrscht weitgehende Uneinigkeit über die Prioritätensetzung und die wirtschaftlichen Belastungen. Obwohl die meisten dieser Debatten einem klassischen Links-Rechts-Gefälle folgen, trennen sich die Parteien eher in das Lager derjenigen, die zur alten Normalität zurückkehren wollen, und ein zweites Lager derjenigen, die einen neuen Status quo anstreben.
In einem Wahlkampf, der von Einschränkungen durch das Coronavirus geprägt war, stachen drei Entwicklungen besonders hervor:
Die Wähler vertrauen den Liberalen
Die beiden niederländischen liberalen Parteien können voraussichtlich gut abschneiden, auch wenn sie unterschiedlichen Positionen vertreten. Die VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie) des dreimaligen Ministerpräsidenten Mark Rutte wird wahrscheinlich von Ruttes Umgang mit der COVID-19-Pandemie profitieren. Die Rechtsliberalen liegen in den Umfragen derzeit weit vorne, etwa 25% der Stimmen werden für die VVD erwartet – und das trotz eines Betreuungsgeldskandals, der zum Rücktritt der Regierung führte, und landesweiter Proteste gegen die Verhängung der nächtlichen Ausgangssperre. Allerdings hat sich Rutte während der Pandemie als beständiger Krisenmanager bewiesen und es sieht so aus, als ob die Wähler ihn für seine Stabilität belohnen werden.
Der crisisbonus (Krisenbonus) käme zum premiersbonus (Bonus des Premierministers) hinzu, der den amtierenden Regierungschef dank seiner Bekanntheit und Publicity an der Urne belohnt. Das kommt in Zeiten von Corona nicht ungelegen. Kombiniert mit einer Agenda der Kontinuität hält dies den engsten Herausforderer, die rechtsradikale Freiheitspartei (PVV) von Geert Wilders, in einem komfortablen Abstand. Die große Frage ist im Moment nicht, ob Ministerpräsident Rutte gewinnt, sondern mit welchem Vorsprung er gewinnt.
Der linksliberale Koalitionspartner D66 (Democraten 66) hatte einen weniger komfortablen Start seiner Kampagne. Ohne prominente Sichtbarkeit bei der Bekämpfung des Coronavirus hatte die Partei Schwierigkeiten, Tritt zu fassen. Aber nach einem langsamen Start gewann die neue Parteivorsitzende Sigrid Kaag in den vergangenen Wochen an Schwung. Die Umfragewerte stiegen kontinuierlich auf etwa 10%, und durch ihre Vermarktung als Herausforderin von Rutte ist es Kaag geglückt, sich als alternative Führungspersönlichkeit zu positionieren.
Für die D66 würde ein Ergebnis von mehr als 10% auch eine Abkehr von ihrem ewigen Problem bedeuten, nach Eintritt in eine Koalition einen großen Teil ihrer Parlamentssitze zu verlieren („regeren is halveren“/„regieren heißt (sich) halbieren“). Aber das Ambitionen sind deutlich höher, als nur die Verluste zu reduzieren, und mit dem derzeitigen Schwung könnte eine Überraschung möglich sein.
Der EU-Elefant im Raum
In den vergangenen Wahlen war „Europa“ immer ein wichtiges Thema in den Kampagnen. Angestachelt von europaskeptischen Parteien, führte dies stets zu einer Diskussion über mehr oder weniger Europa. Diesmal haben die populistischen Parteien jedoch erkannt, dass das EU-Bashing keine Stimmen bringt. Stattdessen haben sie dieses Thema weitgehend aufgegeben zugunsten von Demagogie gegen die vermeintliche Islamisierung der Niederlande (im Falle der PVV) und Flirts mit Verschwörungstheorien (FvD/Forum für Demokratie).
Das daraus resultierende Vakuum an Euroskeptizismus lässt europäische Themen durch Abwesenheit glänzen. So auffällig, dass eine Gruppe von politischen Kommentatoren und Akademikern eine Kampagne unter dem Namen #EUolifant (#EU-Elefant) startete, um die Politiker aufzufordern, dem (EU-)Elefanten im Raum mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Obwohl dieses Stichwort von den pro-europäischen Parteien (D66, Grüne und auch Volt) eifrig aufgegriffen wurde, bleibt der EU-Elefant eine seltene Spezies in der niederländischen politischen Diskussion.
Die „Dutchification“ geht weiter
Inmitten einer europaweiten Entwicklung hin zu einer stärkeren politischen Fragmentierung werden die Niederlande als ein Paradebeispiel für diesen Prozess der „Dutchification“ gesehen. Bei den letzten Wahlen wurde eine Rekordzahl von 13 Parteien ins Parlament gewählt, was als Herausforderung angesehen wurde, um überhaupt ein kohärentes politisches Regierungsprogramm zu verabschieden. Nach aktuellen Umfragen könnten die niederländischen Wähler bei den nächsten Wahlen diese Zahl noch einmal übertreffen. Es wird prognostiziert, dass zwei weitere Parteien Sitze erhalten werden, was die Gesamtzahl der in die Tweede Kamer gewählten Parteien auf 15 erhöhen würde.
Ruhig an der Oberfläche, aber Vorsicht vor der Unterströmung
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würden sich die Niederlande für Kontinuität statt Veränderung entscheiden. Es ist wahrscheinlich, dass die geschäftsführende Regierung nach der Wahl in der gleichen oder einer sehr ähnlichen Konstellation weitermachen wird.
Doch unter der Oberfläche haben sich interessante Veränderungen aufgetan. Wenn man sich die Vielfalt der wählbaren Kandidaten ansieht, sieht es so aus, dass das niederländische Parlament ein zunehmend repräsentativer Spiegel der Gesellschaft sein wird. Sechs weibliche Spitzenkandidaten sind wählbar (im Vergleich zu einer, die 2017 gewählt wurde, und vier, die derzeit im Parlament sitzen), und die Anzahl der Kandidaten mit Migrationshintergrund ist auf fast 20% gestiegen. Darüber hinaus sieht es so aus, als werde das Parlament jünger, da das Durchschnittsalter der wählbaren Kandidaten bei etwa 43 Jahren liegt (2017 waren es im Durchschnitt 46 Jahre).
Gleichzeitig könnten Änderungen in der Koalitionszusammensetzung eine neue Dynamik in der nächsten Regierung erzeugen. Parteien, die aller Voraussicht nach an der nächsten Regierung teilnehmen werden, sind die derzeitigen (geschäftsführenden) Koalitionsparteien VVD, D66 und die christdemokratische CDA. Aber ein vierter Koalitionspartner wird notwendig sein, und es ist nicht sicher, dass sich der Junior-Koalitionspartner ChristenUnie (Christliche Union) erneut an der Regierung beteiligen wird.
Anstatt also auf die Gewinner zu schauen, wäre es gut, die Leistungen der Parteien zu betrachten, die auf den Plätzen 5 bis 8 landen. Eine oder mehrere dieser Parteien werden notwendig sein, um eine neue Koalition zu bilden (die Option, gemeinsam mit der rechtspopulistischen PVV zu regieren, wird von den meisten ausgeschlossen), und die Wahl des/der Koalitionspartner(s) wird ein Indikator für die politischen Prioritäten in den kommenden vier Jahren sein.
Auf den ersten Blick sollten wir von diesen Wahlen keine drastischen Veränderungen erwarten. Aber unter der Oberfläche können neue Dynamiken durchaus den Kurs der neuen Regierung verändern.
Jeroen Dobber ist European Affairs Manager und Leiter des FNF Security Hub im Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.