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EU-Kommission
Ursula von der Leyen‘s Rede zur Lage der Union – viele Headlines, wenig Vorschläge

Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen während ihrer Rede zur Ukraine im Europäischen Parlament in Straßburg

Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen während ihrer Rede zur Ukraine im Europäischen Parlament in Straßburg

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Jean-Francois Badias

In ihrer dritten Rede zur Lage der Union (SOTEU), die seit 2010 als unmittelbare Folge des Vertrags von Lissabon jährlich gehalten wird, zog Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Bilanz über das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission und erinnerte an den Geist der Einheit und Solidarität der EU in Kriegszeiten. Erwartungsgemäß legte von der Leyen einen starken Fokus auf den Umgang mit Russland und der Ukraine, die offiziell durch ihre First Lady vertreten war. Sie wies zu Recht darauf hin, dass es der EU als Ganzes gelungen ist, entschlossen zu handeln, ohne in die Falle endloser Verhandlungen, Einstimmigkeitsblockaden oder technokratischer Diskussionen zu tappen. Im Vergleich zu den Folgen der Finanzkrise oder den festgefahrenen Verhandlungen im Nachgang der Migrationskrise 2015/2016 hat die EU rasch mehrere Sanktionsrunden eingeleitet und beispiellose Unterstützung geleistet (z. B. 348 Millionen Euro humanitäre Hilfe oder die Aufnahme von mehr als 5 Millionen ukrainischen Flüchtlingen).

Im Vergleich zu ihrer zweiten Rede zur Lage der Union im Jahr 2021 enthielt ihre diesjährige Rede weniger neue und konkrete Vorschläge und konzentrierte sich mehr auf einige Schlüsselbereiche: Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Auswirkungen auf die europäischen Haushalte und den Energiemarkt, die wirtschaftliche Governance und die Konjunktur, die Energiewende und Investitionen in neue Technologien, die strategische Autonomie bei Lieferketten und Rohstoffen sowie die europäische Demokratie und die Erweiterungspolitik der EU.

Die Ukraine langfristig an die EU binden, soziale Unruhen in Europa abwenden

Für die kommenden Monate soll die Ukraine weiter in den europäischen Binnenmarkt integriert werden, nachdem sie bereits erfolgreich mit dem europäischen Strommarkt verbunden wurde. Ein erster konkreter Schritt besteht in der Öffnung des europäischen Roamingraums und dem Abbau von Zöllen. Eine weitere wirtschaftliche Zusammenarbeit ist in der Tat in beidseitigem Interesse, da die Ukraine bereits ein wohlbekannter und privilegierter Partner der EU ist. Um die steigenden Kosten für die Haushalte in ganz Europa aufgrund des Abbruchs der russischen Energielieferungen abzumildern, kündigte von der Leyen eine Abschöpfung der Gewinne von Stromkonzernen an, die den Mitgliedstaaten rund 140 Milliarden Euro einbringen soll. Dieser Vorschlag wird von der liberalen Renew Europe-Fraktion im Europäischen Parlament vehement unterstützt. Um für eine ausreichende Energie- und Rohstoffversorgung zu sorgen, sollte die EU den Sprung zu mehr grünen Technologien wagen. Wasserstoff soll massiv ausgebaut werden, und von der Leyen kündigte eine eigene europäische Wasserstoffbank an, um dies zu finanzieren. Während Investitionen in Zukunftstechnologien wie Wasserstoff oder die Chipproduktion sicherlich eine gute Idee sind, sollte die EU in jedem Fall von Alleingängen absehen und nicht in einen Protektionismus abgleiten. Klar ist, dass die Abhängigkeit von Russland im Sinne einer größeren strategischen Autonomie der EU drastisch verringert werden muss, aber die Antwort sollte in der Diversifizierung von Lieferketten und dem Abschluss weiterer Freihandelsabkommen liegen, wie sie mit Chile, Mexiko oder Neuseeland angekündigt wurden.

Flexiblere Fiskalpolitik zu welchem Preis?

Ein weiterer wichtiger Politikbereich von Ursula von der Leyen’s Ansprache, der ursprünglich bereits Teil des französischen Programms der Ratspräsidentschaft 2022 war und seit Juli von Tschechien adressiert wird, betrifft die Zukunft der wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU. Frankreich musste seine Prioritäten vollkommen ändern und den Versailler Gipfel im März 2022 zur Verteidigungspolitik abhalten, anstatt ein neues Wirtschaftsmodell für die EU zu entwerfen. Die unzähligen Verteidigungsinitiativen der letzten Monate könnten auch der Grund dafür sein, dass verteidigungs- und außenpolitische Initiativen in der Rede völlig außen vorgelassen wurden. Finanzminister Christian Lindner hat bereits im Sommer deutlich gemacht, dass eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts mehr Flexibilität bei den fiskalischen Regeln ermöglichen könnte, aber die Mitgliedstaaten zugleich stärker in die Pflicht genommen werden, ihre Schulden abzubauen. Ursula von der Leyen scheint diese Vision aufgegriffen zu haben, obwohl Details erst im Oktober bekannt gegeben werden, wenn die Kommission ihre genaueren Strategiepläne vorstellt. Bemerkenswert ist, dass sie sich nicht für eine umfassende Reform der bereits bestehenden Instrumente (wie den Stabilitäts- und Wachstumspakt, das Europäische Semester usw.) und für einen weiteren Investitionsplan ausgesprochen hat, da die Mittel des europäischen Wiederaufbauprogramms Next Generation EU noch nicht einmal vollständig ausgeschöpft wurden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die anstehenden Diskussionen insbesondere bei den südlichen Mitgliedstaaten, darunter Frankreich, für Unbehagen sorgen werden, das sich dafür eingesetzt hat, alle Investitionen in grüne Technologien von der Staatsverschuldung auszunehmen.

Mehr europäische Demokratie trotz nationalem Reformunwillen

Von der Leyen hielt ihre Rede in einer Zeit, die allgemein von geringem Interesses an europäischer Politik auf nationaler Ebene geprägt ist. Wie der Fraktionsvorsitzende der Liberalen im Europäischen Parlament, Stéphane Séjourné, in einem Interview in l'Opinion betonte, spiele Europa angesichts der Wahlen in Italien, Schweden, Bulgarien und Litauen auf nationaler Ebene eine eher unbedeutende Rolle. Steigende Lebenshaltungskosten, eine gescheiterte Integrationspolitik und die Kaufkraft werden als dringendere Themen wahrgenommen als die weitere Integration des komplexen Governance-Gebildes namens EU.

Die Erwartungen an mehr Effizienz, Handlungsfähigkeit und Schlagkraft der europäischen Mehrebenen-Architektur sind jedoch hoch, angetrieben durch die Vorschläge der Konferenz zur Zukunft Europas (CofEU). Noch bevor Ursula von der Leyen neue Vorschläge machte, wie z.B. eine EU-Strategie zur mentalen Gesundheit zu schaffen, kündigte die Kommission an, die Vorschläge der Zukunftskonferenz aufzugreifen. Hier hat die Kommissionspräsidentin ihren einzigen unerwarteten "Coup" gelandet: die Zukunftskonferenz solle als Bürgerbeteiligungstool weitergeführt werden und die EU einen Europäischen Konvent ins Leben rufen, der dann auch die Voraussetzung für Vertragsänderungen böte. Nicht zu vergessen bleibt dabei jedoch, dass die Europäische Kommission und das Europäische Parlament dies nicht ohne Berücksichtigung des Rates einfach anordnen können. Es bleibt daher unklar, ob Vertragsänderungen wirklich Teil der weiteren Diskussionen sein werden, da 13 Mitgliedstaaten, darunter Tschechien, das derzeit die Ratspräsidentschaft innehat, bereits ihren Unwillen bekundet haben, sich auf Vertragsänderungen einzulassen. Diese Haltung wurde von der finnischen Ministerpräsidentin Sanna Marin bekräftigt, die einen Tag vor Ursula von der Leyen ihrerseits eine Rede im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Das ist Europa" hielt. Sie war das sechste Staatsoberhaupt, das vor den EU-Parlamentariern über Europa sprach. Die finnische Ministerpräsidentin betonte, dass die Zukunftskonferenz nicht Grund genug dafür sei, Vertragsänderungen zu eröffnen, sondern dass institutionelle Reformen innerhalb des bestehenden institutionellen Rahmens durchgeführt werden sollten.

Bislang lassen sich die Vorschläge der Zukunftskonferenz in vier Kategorien einteilen: bereits laufende Initiativen wie das Fit-for-55-Paket, Initiativen, die noch den letzten Schliff brauchen, wie der Pakt für Migration und Asyl, Änderungen für geplante Initiativen wie das Gesetz über freie Medien und ganz neue Initiativen, vor allem solche, die auf die Ausweitung von EU-Kompetenzen abzielen, z. B. die Schaffung einer Gesundheitsunion. Auf einer Folgeveranstaltung im Herbst dieses Jahres werden die Konferenzteilnehmer nun wohl darüber informiert werden, welche nächsten Schritte auf der Grundlage der Vorschläge und Maßnahmen des Abschlussberichts zu erwarten sind.

Liberale fordern seit langem Vertragsänderungen

Der Mangel an Reformwillen auf nationaler Ebene wurde von Liberalen und dem Europäischen Parlament in Frage gestellt, die Vertragsänderungen als Voraussetzung für die Überwindung bestehender institutioneller Blockaden sehen. Mehrere der derzeit diskutierten Vorschläge waren bereits Teil des "Verhofstadt-Berichts" aus dem Jahr 2016, in dem die Unzulänglichkeiten des gegenwärtigen legislativen und institutionellen Rahmens der EU angesprochen wurden, die mehrere Krisen nacheinander bewältigen musste. In seinem Bericht gab der ehemalige Vorsitzende der Liberalen und Hauptvertreter des Europäischen Parlaments für die Zukunftskonferenz bereits einige Hinweise auf Vertragsänderungen: Die EU sollte die zwischenstaatlichen Mechanismen außerhalb der Verträge (wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus), die Einstimmigkeitsregel, die oft in einer totalen Blockade mündet, die Praxis von Europas à la carte (z. B. Schengen) mit In- und Opt-outs abschaffen und die unzureichende Nutzung flexibler Instrumente wie der verstärkten Zusammenarbeit überdenken. Diese Anregungen könnten zusammen mit den Vorschlägen der Zukunftskonferenz die künftige Debatte über die Reform der EU beflügeln, bevor weitere Verhandlungen zur Erweiterung erfolgen.

Unterstützung für Macrons Konzept der Europäischen Politischen Gemeinschaft

Wie der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Prager Rede Ende August hat auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Vorschlag von Emmanuel Macron aufgegriffen, eine Europäische Politische Gemeinschaft für Europas Nachbarn ins Leben zu rufen. Während Olaf Scholz betonte, dass dieser neue Kooperationsmechanismus das reguläre und stärker formalisierte Erweiterungsverfahren ergänzen und somit Ländern des westlichen Balkans nicht den Weg zum endgültigen EU-Beitritt versperren sollte, schwieg von der Leyen zu den Details weiterer Pläne. Wie bei den meisten Ankündigungen ihrer Rede werden die Details erst nach der Veröffentlichung eines Papiers durch die Kommission im Oktober bekannt gegeben, das zusammen mit einem Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU, der Ukraine, des Vereinigten Königreichs, Norwegens, der Schweiz, der westlichen Balkanländer und wahrscheinlich der Türkei in Prag vorgelegt werden soll. Abgesehen von der Form, die eine solche Zusammenarbeit annehmen könnte, muss die EU gegenüber ihren Nachbarn und Partnern weltweit eine Rolle im Kampf gegen Desinformation und ausländische Einmischung spielen, wenn sie ihre Werte der Demokratie und der Meinungsfreiheit aufrechterhalten will. Nach dem Europäischen Aktionsplan für Demokratie kündigte von der Leyen deshalb ein Paket zur Verteidigung der Demokratie an, um Angriffen autoritärer Regime zu begegnen. Ob die EU ihr demokratisches Modell ernst nimmt, wird in den kommenden Tagen auf den Prüfstand gestellt, denn die Kommission könnte im Rahmen des neu geschaffenen Konditionalitätsmechanismus Gelder für Ungarn einfrieren. Die EU ist gut beraten, zuerst ihren eigenen Standards gerecht zu werden, bevor sie andere belehrt, wie sie ihre Demokratie schützen sollen.

Jeanette Süß ist European Affairs Managerin im Regionalbüro „Europäischer Dialog“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel und leitet dort die Frankreich-Aktivitäten.