Jubliäum
10 Jahre Istanbul-Konvention – Jetzt erst Recht!
Unter türkischem Vorsitz ist die Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt 2011 in Istanbul entstanden. Die Türkei war unter den ersten Unterzeichnern dieser wichtigen Konvention, die nach ihrem Entstehungsort auch kurz nur Istanbul-Konvention genannt wird. Als drittes Mitglied des Europarats hatte die Türkei die Istanbul-Konvention am 14. März 2012 schließlich ratifiziert. Jetzt trat die Türkei als erster Staat aus dem völkerrechtlichen Vertrag aus. Präsident Erdogan hatte dies per Präsidialdekret entschieden. Eine parlamentarische Debatte war zuvor nicht erfolgt.
Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt ist trotz des Inkrafttretens der Istanbul-Konvention im Jahr 2014 noch immer weit verbreitet – auch in der Europäischen Union. So hat ein Fünftel bis ein Viertel aller Frauen in der EU schon mindestens einmal im Leben physische Gewalt erlebt. Die Zahlen sind seit Beginn der Corona-Pandemie und den andauernden Lockdowns weltweit massiv angestiegen. Die Türkei weist eine sehr hohe Zahl an Femiziden auf – 300 waren es im Jahr 2020. Dennoch hat sich die Regierung Erdogans nun zum Rückzug aus der Istanbul-Konvention entschieden.
Der Austritt aus einem völkerrechtlichen Vertrag ist grundsätzlich ein legitimer Schritt. Dahinter steckt allerdings im Fall der Türkei eine populistische Familienpolitik, welche die Errungenschaften der Gleichberechtigung von Frauen in der Gesellschaft generell in Frage stellen will. Es bleibt zu hoffen, dass andere Regierungen diesem Negativbeispiel nicht folgen werden.
Die Familie kann nur dann ein friedlicher Ort und ein Anker für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bleiben, wenn Frauen auch vor häuslicher Gewalt geschützt werden. Die Istanbul-Konvention muss eine Aufforderung an uns alle bleiben, uns weiterhin für den Schutz von Frauen und die Strafverfolgung von Tätern einzusetzen: auch in der Türkei.
Diese Publikation erschien im November 2020, bevor die Türkei den Entschluss zu einem Austritt fasste.
Pro-Familienpolitik vs. Individuelle Menschenrechte
Im Sommer 2020 ließ der angekündigte Rückzug Polens und der Türkei aus der Istanbul-Konvention Frauen und Frauenrechtler:innen in Europa und weltweit aufhorchen. Der völkerrechtliche Vertrag des Europarats, der mit vollständigem Titel Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt lautet, war 2011 verabschiedet worden und ist 2014 in Kraft getreten. Gewalt gegen Frauen ist ein weltweites Problem, das durch die Corona-Pandemie noch gravierender geworden ist. Häusliche Gewalt erfolgt überwiegend durch die eigenen Partner zuhause – auch in der Europäischen Union, wie eine umfangreiche Studie der Europäischen Grundrechteagentur bereits 2014 ergab.
Hinter den Austrittsbestrebungen von Polen und der Türkei sowie dem Widerstand anderer Mitgliedsstaaten des Europarats gegenüber der Istanbul-Konvention, wie Ungarn, Bulgarien und anderen verbirgt sich ein gezieltes politisches Anliegen, das bisher wenig Beachtung fand: Der Versuch, die klassische Familie zum Träger von völkerrechtlichen Pflichten und Rechten zu machen – ein bislang nicht akzeptiertes Konzept im internationalen Recht. Dies soll als Vehikel dienen, die Individualrechte von Frauen zu beschneiden und die Fortschritte, die durch die Istanbul-Konvention erreicht wurden, rückgängig zu machen. Es ist zugleich ein gezielter Schachzug, sogenannte „traditionelle Werte“ zu stärken und die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau umzukehren. Unterstützung für dieses Vorgehen formiert sich vor allem in Osteuropa und bei den Kirchen. Der Deutsche Frauenrat forderte nach der Ankündigung Polens aus der Istanbul-Konvention austreten zu wollen dazu auf, den „Dammbruch zu verhindern“. Doch diesen Dammbruch hat Russland mit den Versuchen einer gezielten Pro-Familienpolitik im Menschenrechtssystem der UN schon vor Jahren vorbereitet. Frauenrechtler:innen sollten darauf vorbereitet sein und offen wieder die Bedeutung der Gleichberechtigung von Frauen in der Familie diskutieren.
Bedeutung der Istanbul-Konvention
Die Gegner aus Kirche und Politik wenden sich gegen die drei wichtigsten Meilensteine der Istanbul-Konvention. Erstmalig wird in diesem Vertrag Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverstoß und eine Form der Diskriminierung von Frauen definiert:
„Violence against women“ is understood as a violation of human rights and a form of discrimination against women and shall mean all acts of gender-based violence that result in, or are likely to result in, physical, sexual, psychological or economic harm or suffering to women, including threats of such acts, coercion or arbitrary deprivation of liberty, whether occurring in public or in private life.“
Neben Frauen erfasst die Konvention auch Mädchen unter 18 Jahren. Sämtliche Handlungen von Nötigung, Bedrohung, sexueller Belästigung bis hin zu Vergewaltigung werden als Gewalttaten gegen Frauen verstanden. Der Gewaltbegriff wird weit gefasst: Er berücksichtigt Taten, die zu physischen, sexuellen und psychischen, aber auch wirtschaftlichen Schäden führen. An den traumatischen Folgen von Schlägen, sexueller Übergriffe oder gar Vergewaltigungen leiden nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Familienangehörigen sowie die gesamte Gesellschaft. Selten werden jedoch die gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen von häuslicher Gewalt bedacht. Sie belasten das Gesundheitssystem und führen zu Fehlzeiten in Unternehmen, geringerer Produktivität und entgangenen Löhnen. Die Betrachtung der wirtschaftlichen Schäden ist keine empathielose Verharmlosung des Phänomens, sondern trägt dazu bei, die unterschätzte Dimension von häuslicher Gewalt gegen Frauen zu verstehen. So ergaben die Forschungsergebnisse von UN Women für 2016, dass der Weltwirtschaft durch häusliche Gewalt gegen Frauen etwa 2% des globalen GDPs oder 1,5 Billionen US-Dollar an Schaden entstanden sind.
Häusliche Gewalt erfasst in der Istanbul Konvention nicht nur Frauen und Mädchen, sondern stellt auch klar heraus, dass Männer genauso betroffen sein können. Der zweite Meilenstein der Istanbul- Konvention betont mit der Neudefinition des Terminus „gender“ ausdrücklich, dass geschlechtsspezifische Gewalt über das binäre Geschlechtsverständnis von Mann und Frau hinausgeht.
„´gender` shall mean the socially constructed roles, behaviours, activities and attributes that a given society considers appropriate for women and men;“
Auf diese Weise soll stereotypen Mustern gezielt entgegengewirkt werden. Um geschlechtsspezifisches Rollendenken zu überwinden, sollen beispielsweise Gebräuche und Traditionen hinterfragt werden. Auch dürfen keine religiösen Motive oder Fragen der Ehre als Rechtfertigung akzeptiert werden, wenn Frauen Opfer von Gewalttaten werden. Die Gestalter der Istanbul-Konvention gingen davon aus, dass nur durch ein gezieltes Bekämpfen von klassischen Rollenmodellen und Stereotypen dauerhaft die bestehende Ungleichheit zwischen Männern und Frauen verbessert werden kann.
Dritter Meilenstein der Istanbul-Konvention ist die Verurteilung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen, die gezielt als Diskriminierung eingesetzt wird. „(V)iolence that is directed against a woman because she is a woman or that affects women disproportionately.“ Diese Worte stellen eine normative Weiterentwicklung gegenüber der bisherigen rechtlichen Auffassung der UN Frauenrechtskonvention dar. Die Ursache von Gewaltakten gegen Frauen wird damit klar auf die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen zurückgeführt, weil geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen oftmals tief in den sozioökonomischen und kulturellen Strukturen einer Gesellschaft verwurzelt ist.
Die Konvention beabsichtigt, Betroffene vor Gewalt zu schützen, einen Beitrag zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung von Frauen zu leisten und mit umfassenden politischen und sonstigen Maßnahmen den Rahmen für die Gewährleistung von Schutz und Unterstützung der Betroffenen zu schaffen und die Strafverfolgung der Täter zu ermöglichen. Im Rahmen einer ganzheitlichen Gewaltschutzstrategie verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten offensiv gegen alle Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt vorzugehen. Das Übereinkommen verpflichtet die Staaten zu umfassenden Maßnahmen in allen Bereichen, von der Prävention, über Unterstützungsangebote bis hin zum Straf-, Zivil- und Ausländerrecht.
Häusliche Gewalt gegen Frauen in Deutschland
Die Istanbul-Konvention ist am 1. Februar 2018 in Deutschland in Kraft getreten ist. Dass häusliche Gewalt gegen Frauen auch ein Problem in Deutschland, wird an folgenden Beispielen sichtbar:
Nach neun Tagen verstarb eine 44-jährige Frau an ihren schweren Hirnverletzungen im Krankenhaus. Ihr 51-jähriger Lebensgefährte hatte sie am 22. Juni 2020 heftig von hinten im Badezimmer gewürgt als sie gerade dabei war, ihre Haare zu föhnen. Durch das minutenlange Würgen waren die Venen abgedrückt, es floss kein Blut ins Gehirn und ein irreparabler Hirnschaden führte schließlich zum Tod der Frau. Es war zum Streit gekommen, weil sie einen gemeinsamen Ausflug am Nachmittag ablehnte und offensichtlich beabsichtigt hatte, sich von ihrem Mann zu trennen. Das Landgericht Oldenburg verurteilte den 51-jährigen schließlich zu acht Jahren Haft wegen Totschlag. Totschlag nicht Mord, weil die Frau noch gefragt hatte, ob er sie wohl schlagen wolle. Aufgrund dieser Erkenntnis einer aktuellen Bedrohung, lag keine Arglist des Mannes vor, so im Urteil des Landgerichts.
Besonders hellhörig werden Medien, wenn sich Taten im öffentlichen Raum ereignen und für jeden sichtbar sind, wie in einem Fall, der sich am 28. Oktober 2020 ereignete. Eine 37-jährige Frau wartete mit ihren drei Kindern auf ihren getrennt lebenden Ehemann. Als der Ehemann eintraf, kam es zum Streit. Er griff zu einer Flasche mit säurehaltigem Inhalt, den er der Frau ins Gesicht spritzte. Die Frau konnte sich in eine nahegelegene Apotheke retten, wo sie eine Erstversorgung erhielt. Der tatverdächtige Ehemann wurde wegen gefährlicher Körperverletzung in Haft genommen.
Derartige Taten und Gewalterfahrungen stecken hinter den erschreckend hohen Zahlen, welche die jährliche kriminalstatistische Auswertung der Partnerschaftsgewalt des Bundeskriminalamts (BKA) dokumentiert. Für das Jahr 2019 wurden 141.792 Opfer erfasst, davon waren 114.903, oder anders ausgedrückt 81%, Frauen. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Zahlen erneut an. Dahinter verbergen sich solche Fälle, wie die exemplarisch oben dargestellten. Besonders hoch ist der Anteil von weiblichen Opfern von Partnerschaftsgewalt bei Vergewaltigung, sexueller Nötigung, Freiheitsberaubung oder bei Bedrohung und Stalking. Auch Zuhälterei und Zwangsprostitution werden in der Statistik berücksichtigt, wo der weibliche Opferanteil bei 100% liegt. Die Hälfte aller weiblichen Opfer von Partnerschaftsgewalt lebt im gemeinsamen Haushalt mit der tatverdächtigen Person.
Bei den von der BKA Statistik erfassten Taten, handelt es sich aber nur um die Spitze des Eisbergs. Denn sie bilden nur das polizeiliche Hellfeld der eingegangenen Anzeigen ab. Die nicht angezeigten Taten, die im sogenannten Dunkelfeld liegen, sind nur schwer zu ermitteln. Anhaltspunkte liefert eine Dunkelfeldstudie der Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern aus dem Jahr 2015. Danach wurden rund 98,4% der Taten von häuslicher Gewalt und 98,9% von Sexualstraftaten erst gar nicht angezeigt. Dies macht deutlich, dass auch in Deutschland häusliche Gewalt gegen Frauen ein Massenphänomen darstellt.
Dies ist ein Auszug aus unserer Publikation, diese können Sie hier herunterladen.