Impfstrategie
Digitalisierung, Impfrekord, dritter Lockdown – was wir von Israel lernen können
Israels Impfrekord hilft kurzfristig nicht: Angesichts von täglich über 8.000 Neuinfektionen, was äquivalent zu 80.000 in Deutschland wäre, spricht das Gesundheitsministerium von einem Ausnahmezustand, veranlasst Premierminister Netanyahu in der prekärsten Lage seit Beginn der Pandemie einen erneuten harten Lockdown. Bis zunächst 21. Januar werden alle Schulen sowie Betriebe geschlossen, die nicht essentiell sind, Flugreisen ins Ausland werden eingeschränkt, die Bürger dürfen sich maximal 1.000 Meter von ihren Wohnungen wegbewegen. Ein Paradox: Weil mit den Impfungen die Hoffnung auf ein Ende der Infektionen besteht, ist es schwerer geworden, die Menschen auf die Beschränkungen des Lockdown und deren konsequente Einhaltung zu verpflichten und dies strikt durchzusetzen. Unser Israel-Experte Ulrich Wacker hat die wichtigsten Erfolgsfaktoren zusammengefasst und erklärt, in welchen Bereichen Deutschland bei der Bekämpfung der Pandemie von Israel lernen kann.
Kontaktverfolgung durch Geheimdienst und WarnApp
Seit dem ersten Lockdown im März 2020 darf der Inlandsgeheimdienst die Bewegungen der Bürger überwachen, warnt sie auf dem Mobiltelefon, wenn sie sich mehr als 10 Minuten lang in unmittelbarer Nähe einer infizierten Person aufgehalten haben und fordert sie auf, sich in Quarantäne zu begeben. Wenn möglich, werden weitere Kontakte rückverfolgt und in die spezifische Warnung einbezogen. Die parallel arbeitende „Shields App“ des Gesundheitsministeriums wird vom Nutzer individuell und freiwillig heruntergeladen.
Robustes Lobbying, vorausschauender Einkauf
Israel hatte erhebliche Mengen an Impfstoff eingekauft, vorausschauend, noch bevor die Präparate zugelassen waren. Israel konnte frei auf dem Weltmarkt agieren und hat wohl erheblich höhere Preise gezahlt als die EU. In seinen mehrfachen Interventionen muss Netanyahu gegenüber dem Chef von Pfizer sehr robust aufgetreten sein. Ein Argument dabei: Israel mit seiner relativ kleinen Bevölkerung von gut 9 Mio. Einwohnern gilt den Pharmaunternehmen wohl als ideales Testfeld für den Wirkungsgrad der Impfungen.
Israels Gesundheitssystem – dezentrale Struktur
Alle Israelis sind in vier halbstaatlichen Krankenversicherungen (Clalit, Maccabi, Meuhedet und Leumit) versichert und erhalten einen Basiskorb an Leistungen. Diese werden hauptsächlich in kommunalen Gesundheitszentren (entspricht den früheren Polikliniken) erbracht, die einfache Fälle effizient und schnell behandeln und die Hospitäler entlasten. Dieses dezentrale flächendeckende Netz der vier Krankenkassen wird nun für die Impfungen genutzt, was Schnelligkeit erlaubt und die Patientendichte reduziert. Im Raum Tel Aviv sind die Kapazitäten der dezentralen Kliniken nicht ausreichend, weshalb für die Impfungen auch die großen Zentralen der Krankenkassen genutzt und nun mobile Impfstationen eingerichtet werden.
Elektronische Patientenakte (ePA)
Die persönlichen und Krankendaten aller Versicherten sind in einer ePA gespeichert, die von allen Ärzten und Einrichtungen des Gesundheitssystems einsehbar ist. Diese online-database erlaubt es in einer Pandemiesituation, Risikopatienten schnell zu identifizieren und zu kontaktieren. Die Israelis sind Technologie-affine ‚early users‘, Innovationen gegenüber offen und aufgeschlossen, und stellen den schnellen Nutzen digitaler, technologischer Lösungen über den Datenschutz.
Das Impfverfahren – digitalisiert
Wer sich impfen lassen möchte, geht auf die Homepage der Krankenkasse, gibt die persönlichen Kenndaten ein, erhält Impftermine angeboten und wählt einen aus. Die folgende Kommunikation mit der Krankenkasse erfolgt per WhatsApp und Messenger, worüber das System wiederholt nachfragt, ob der gewählte Termin auch beibehalten wird.
Die zeitliche Staffelung der Impfungen ist so getaktet, dass es zu keiner Massierung von Patienten in den Einrichtungen kommt. Bei Eintreffen im Gesundheitszentrum wird die ePA aufgerufen, werden zur Sicherheit Allergien und vorangegangene Impfungen verifiziert, dann wird geimpft und den Geimpften werden Ruheräume zugewiesen.
Auch Israel kocht nur mit Wasser
Israels Impfkampagne wurde deutlich heruntergefahren, weil die Impfdosen nicht für die zweite Impfung ausreichen. Die Träger warten das Eintreffen weiteren Impfstoffes ab. Die Coronapolitik der Regierung war phasenweise chaotisch, viele Bürger haben das Vertrauen in die Maßnahmen der Regierung verloren, gehen auf die Straßen. Websites der Kassen waren vorübergehend überlastet. Überhaupt hat das Gesundheitssystem Defizite in der Medizintechnik, Mangel an Ärzten und Pflegern, vor allem fehlt qualifiziertes Personal für die Notfallbetten.
Das politische Kalkül Netanyahus
Natürlich treibt Premier Netanyahu das Impfprogramm auch deshalb so vehement voran, weil er das Thema Corona im Wahlkampf zu den nächsten Knessetwahlen am 23. März 2021 für sich nutzen will. War er im ersten Lockdown von März bis Mai 2020 noch als entschlossener Krisenmanager medial omnipräsent und erfolgreich, öffnete er das Land danach zu schnell, das seitdem entlang weltweit höchster Fallzahlen taumelt und Dauerdemonstrationen derer erlebt, die in der Krise finanziell abgerutscht sind. Diesen Makel muss er überdecken, indem er nun rechtzeitig vor der Wahl die Fallzahlen dramatisch senkt. So trifft sich freilich sein eigenes Kalkül mit dem Impetus, dem Land weitere Tote zu ersparen.
Was können wir von Israel lernen?
Wenn Deutschland nicht die ePA einführen kann, dann müssten die Kassen für künftige Pandemien wenigstens Impf- und Kommunikationsdaten digitalisiert bereithalten.
Die neugeschaffene Stelle eines für die Pandemiebekämpfung verantwortlichen Mediziners, dem ‚Corona-Zar‘, hat sich bedingt bewährt: Er hat gegenüber der Entscheidungsgewalt des Premierministers kein politisches Gewicht und wird oft zerrieben, aber er schafft Vertrauen, indem signalisiert wird, dass die Entscheidungen fachlich-professionell begleitet fallen. Diese Rolle übernimmt in Deutschland freilich das RKI.
Erfolgreich sind die israelischen Lockdowns, wenn sie kurzfristig angekündigt und schnell umgesetzt werden, so dass die Bevölkerung nicht noch tagelang letzte Freiheiten gesellig auskosten kann.
Schließungen der Schulen und der Landesgrenzen waren entscheidende Maßnahmen; zusammen mit der Einschränkung von Transits innerhalb des Landes sind sie Schlüssel zur Senkung der Infektionszahlen. Im Gegenzug erlauben sie, mehr Unternehmen offenzuhalten – und eine für die Wirtschaft weniger schädliche Balance zu schaffen.
Die Menschen akzeptieren Beschränkungen, wenn man ihnen Hoffnung gibt: Im ersten Lockdown im Frühjahr die, dass danach alles vorbei sei, jetzt im dritten, dass mit den folgenden Impfungen das Ende der Pandemie nahe ist. Im zweiten Lockdown während der hohen jüdischen Feiertage im Herbst 2020 gab es keine solche Hoffnung und er war ein Fehlschlag.