Israel
Benjamin Netanjahu kehrt zurück, mit toxischem Partner
Israel hat gestern gewählt, und die Nacht blieb kurz für alle fiebernden Beobachter. Trotz des fünften Wahlgangs in knapp über drei Jahren war die Wahlbeteiligung überdurchschnittlich hoch, denn die Wahl war eine Schicksalswahl für alle Beteiligten. Für die heute jubelnden Anhänger von Benjamin Netanjahu ging es um nicht weniger als die vermeintliche Rettung Israels durch ihren populistischen Anführer „Bibi“ Netanjahu vor deklariert linken und arabischen Einflüssen in der Regierung. Für die niedergeschlagenen Unterstützer der letzten Regierung unter dem liberalen Yair Lapid ging es um die Verteidigung der israelischen Demokratie vor den Ultranationalisten von der Liste Religiöser Zionismus unter dem Hetzredner Itamar Ben Gvir und der populistischen Unterminierung der Gerichte und Institutionen durch Benjamin Netanjahu und seiner Partei Likud.
Die israelische Knesset hat 120 Sitze. Mit 61 Sitzen hat eine Koalition die Mehrheit, um eine Regierung zu bilden. Die Wählerbefragungen der zwei Nachrichtenfernsehkanäle 12 und 13 haben gestern nach dem Schließen der Wahllokale um 22:00 Uhr Netanjahus Block mit seinem Likud (gemäß Kanal 12: 30 Mandate / Kanal 13: 31 Mandate), den Ultranationalisten Religiöser Zionismus (14 Mandate) und den ultraorthodoxen Parteien Shas (10 Mandate) und dem Vereinigtes Thora Judentum (7 Mandate) eine Mehrheit von 61 bis 62 Mandaten prognostiziert. Wenn auch unwahrscheinlich, könnte Netanjahu theoretisch in der Auszählung noch unter eine Regierungsmehrheit rutschen. Für die amtlichen Wahlergebnisse muss aber vermutlich das Ende des Tages abgewartet werden, denn wenige Stimmen haben großen Einfluss auf den endgültigen Wahlausgang.
Die liberale Partei Yesh Atid („Es gibt eine Zukunft“) von Yair Lapid hat nach den Befragungen Mandate hinzugewonnen (jetzt 24 Mandate), die beiden Linken Parteien Avoda („Arbeit“) und Meretz („Tatkraft“) schaffen knapp den Wiedereinzug in die Knesset mit jeweils 6 (gemäß Kanal 12) bzw. 5 Mandaten (gemäß Kanal 13) und 5 oder 4 Mandaten. Ebenso kann die moderat-islamistische Partei Ra’am („Vereinigte Arabische Liste“) ein Mandat zulegen (5 Mandate), während auch das nicht dem Lapid-Lager angehörige arabische kommunistisch-nationalistische Bündnis Hadash–Ta'al mit 4 Mandaten in der Knesset erwartet wird.
Über die Hälfte der arabischen Wahlberechtigten haben nicht an Wahl teilgenommen
Das Bündnis der Nationalen Einheit unter Benny Gantz blieb dagegen unter seinen Erwartungen (11 bis 12 Mandate) genauso wie die Partei Israel Beteinu („Unser Haus Israel“) von Avigdor Lieberman (4 Mandate). Zum einen schneit der Stern des einstigen Hoffnungsträgers Benny Gantz keine zusätzlichen Wähler mehr zu begeistern. Zum anderen scheint eine, an russischsprachige Wähler gerichtete, gezielte Anti-Lieberman-Kampagne Wirkung gezeigt zu haben. Mit zusammen 55 bzw. 54 Mandaten fehlt dem Bündnis von Lapid voraussichtlich eine Mehrheit, um eine Regierung bilden zu können. Maximal kann Gantz darauf hoffen, dass die arabisch-nationalistische Balad-Partei doch noch mit vier Mandaten in die Knesset einzieht, damit die Mehrheit von Netanjahu zusammenschrumpft und Lapid dann bis zu Neuwahlen im Jahr 2023 weiterregieren kann.
Wenn die Befragungen recht behalten, dann haben allerdings wieder über die Hälfte der arabischen Wahlberechtigten nicht an der Wahl teilgenommen. Damit haben auch Hoffnungslosigkeit und Misstrauen der arabischen Israelis eine Regierung möglich gemacht, die ihnen feindlicher nicht hätte sein können. Sowohl die arabischen Parteien als auch der Block von Lapid müssen gründlich analysieren, warum sie diese Wähler trotz aller Bemühungen in den letzten Wochen nicht mobilisieren konnten.
Netanjahu feiert Sieg
Netanjahu selbst feiert heute seinen Sieg bereits mit Partei und Familie. Aber er hat diesen Wiedereinzug teuer erkauft: Nach der Abwanderung früherer engster Weggefährten wie Naftali Bennet, Avigdor Lieberman und Gideon Sa’ar ins Gegenlager hatte er vor der letzten Wahl das Wahlbündnis Religiöser Zionismus mit National-Religiösen, Homophoben und Rechtsradikalen geschmiedet. Dass ihm aber Itamar Ben Gvir als Hassredner am Ende so viele Stimmen des Likud abwerben würde und damit zu einem so bedeutenden Zwangspartner würde, hätte er nicht gedacht. Seine Anhänger hoffen, dass er Ben Gvir, wie viele Partner zuvor, taktisch ins Aus manövrieren wird. Aber den medienwirksamen Einfluss von Ben Gvir auf die israelische Rechte und vor allem viele Erstwähler wird er bei der inzwischen drittstärksten Kraft in der Knesset schwerer im Zaum halten können. Anders als viele ehemalige Partner ist Ben Gvir kein lavierender Politiker, sondern ein lauter und ideologisch rechtsradikaler Volkstribun der Straße. Das wird Netanjahus Regierung bei den engsten Partnern in den USA und der Europäischen Union keine Türen öffnen. Und auch die Annäherung mit den arabischen Nachbarstaaten, die sich Netanjahu wie Lapid auf die Fahnen geschrieben haben, kann offener Rassismus gegen Araber schnell wieder gefährden und einfrieren lassen.
Deswegen wird Netanjahu vermutlich zuerst versuchen, Parteien aus dem Gegenlager in eine Regierung der vermeintlichen „Einigung“ abzuwerben, um ein Gegengewicht gegen einen zu großen Einfluss von Ben Gvir zu bilden. Sein erster Kandidat zum Abwerben wird der Verteidigungsminister Benny Gantz sein, der schon einmal die Seite zu ihm gewechselt hatte und ohne einen erneuten Wechsel vor dem politischen Aus stünde. Man kann nur hoffen, dass Netanjahu dann wiederum mit solchen Manövern Erfolg hat, denn die Geister, die er mit Ben Gvir rief, bedrohen bereits heute Demokratie und gesellschaftlichen Frieden. Es ist eine Eigenschaft von Netanjahu, sich selbst als ordnenden Retter porträtieren zu lassen – vor Gefahren, die er teilweise erst selbst geschaffen hat.