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Nahostkonflikt
Israel und die Hamas: Das Ende einer Illusion

"Iron Dome"
Das israelische Raketenabwehrsystem "Iron Dome" fängt Raketen bei Sderot ab. © picture alliance/AP Photo | Ariel Schalit

Die Menschen in Israel und im von der islamistischen Hamas kontrollierten Gazastreifen erleben eine Welle der Gewalt wie seit vielen Jahren nicht mehr. Niemand hatte erwartet, dass die Hamas, aber auch andere Milizen wie der Palästinensische Islamische Dschihad trotz systematischer Grenz- und Einfuhrkontrollen eine so große Anzahl einsatzfähiger Raketen würde produzieren können. Über 2.000 Raketen sind bereits auf israelische Städte abgefeuert worden, um israelische Zivilisten zu töten und Chaos und Angst in der israelischen Bevölkerung zu erzeugen. Eigentliches politisches Ziel aber dürfte das Kalkül sein, die nur geschäftsführende Regierung Netanyahu in die Enge zu treiben und dadurch die Rolle der politischen Führungskraft aller Palästinenser einzunehmen, also auch derjenigen im Westjordanland. Denn durch ihren Raketenterror führt die Hamas auch die Ohnmacht der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) unter Präsident Mahmud Abbas aller Welt vor Augen. Die PA kontrolliert zwar das Westjordanland, verliert aber im Konfliktgeschehen mit Israel – ob gegenüber der Regierung Netanyahu oder den israelischen Siedlern im Westjordanland – seit Jahren zusehends an Boden. Zumindest das Kalkül, die Regierung Netanyahu zu Konzessionen zu zwingen, ist jedoch auf Sand gebaut. Die Raketenangriffe wurden mit hunderten Luftschlägen auf die Hamas im Gazastreifen beantwortet; seit dem Wochenende erstrecken sie sich auch auf das verzweigte Bunkersystem der Islamisten. Am meisten leiden wie immer die Bewohner Gazas, denn die Hamas unterhält ihre militärischen und politischen Einrichtungen mitten unter der Zivilbevölkerung, so dass die Schläge der israelischen Luftwaffe nahezu zwangsläufig zu Opfern unter der Zivilbevölkerung führen – ein Umstand, der ebenfalls zum perfiden Kalkül der Hamas gehört.  

Strategiewechsel bei der Hamas?

Noch vor einem Monat schien die Hamas darum bemüht, durch Kompromisse mit der im Westjordanland regierenden Fatah-Partei Wahlen zu organisieren. Ziel war, auch vor den Augen der Weltöffentlichkeit politische Legitimität zu gewinnen. Nachdem die Herrschaft der Islamisten im Gazastreifen seit 2006 vor allem zu internationaler Isolation, Armut und Frustration in der Bevölkerung geführt hatte, schien das auch plausibel. Die Zahl der Raketen in den vergangenen Tagen zeigt aber deutlich, wofür die Hamas ihre beschränkten finanziellen Ressourcen genutzt hat. Waren viele noch vor einem Monat bereit, über die antidemokratische Ideologie der Hamas zwei Augen zuzudrücken, um Wahlen zu ermöglichen, zeigt die Hamas inzwischen wieder allzu deutlich die hässliche Fratze der Gewalt.

Die Illusion einer friedlichen Koexistenz ohne den Konflikt mit den Palästinensern zu lösen

Damit steht die Doktrin der Regierungszeit Benjamin Netanjahus, die Sicherheit Israels primär durch den Ausbau der eigenen militärischen und ökonomischen Stärke zu gewährleisten, auf dem Prüfstand.  Vor dem Hintergrund der Terroranschläge während der zweiten Intifada hatte Netanjahu alle Konzessionen vorheriger israelischer Regierungen an die Palästinenserführung als naive Illusion dargestellt. Stattdessen wurde aufgerüstet, der Siedlungsbau im Westjordanland vorangetrieben und die palästinensische Führung, soweit es ging, marginalisiert. Und die seit 2020 mit einer Reihe arabischer Staaten verhandelten Normalisierungsabkommen, die sogenannten Abraham-Accords, schienen der Strategie recht zu geben. Auch ohne Fortschritte im Verhältnis mit den Palästinensern schien plötzlich Frieden und Sicherheit in der Nachbarschaft greifbar. Man kann weiter hoffen, dass die Abraham-Accords ihre positive Wirkung entfalten. Aber der Gedanke, Israel könne eine friedliche Koexistenz in der arabischen Welt erreichen, ohne den Konflikt mit den Palästinensern zu lösen, ist eine Illusion.

Die palästinensische Führung trug in den letzten Jahren zu der Illusion bei. Mit der totalitären Herrschaft der Hamas, die nicht einmal das Existenzrecht Israels anerkennt, hat man keinen konstruktiven Verhandlungspartner im Gazastreifen. Und weil Mahmoud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, seit Jahren mit seinem Sicherheitsapparat hart gegen gewaltbereite Gruppen wie die Hamas im Westjordanland vorgeht, schien von dort keine Bedrohung auszugehen. Die Doktrin schien darin bestätigt, die Hamas als Bedrohung in Schach zu halten und Abbas mit ausreichend Ressourcen auszustatten, dass keine Gewalt von Palästinensern im Westjordanland drohte. Wenn Abbas den Siedlungsbau oder fehlende Schritte zur vereinbarten Zweistaatenlösung verurteilte, konnte man leicht seine fehlende demokratische Legitimität ankreiden oder über die Anliegen dieses „zahnlosen Tigers“ hinwegsehen.

Israels Sicherheit und das Leiden der Palästinenser

Wie die USA bekennen sich auch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union regelmäßig zu ihrer Solidarität mit Israel. Dabei wird ihnen aber gleichermaßen ihre Ohnmacht bewusst, wenn es um das Leid der Palästinenser geht. Im Gazastreifen leben die Menschen schon lange in Angst und Elend unter der Führung der Hamas, und im Westjordanland leiden sie unter dem doppelten Druck der autoritären Palästinensischen Autonomiebehörde sowie der israelischen Militärverwaltung. Die westliche Staatengemeinschaft hat es bisher nicht vermocht, dieses Geflecht zu entwirren bzw. die Zivilgesellschaft aus dieser „Geiselhaft“ zu befreien. Allen Versuchen über große entwicklungspolitische Unterstützung zum Trotz. Erst der amerikanische Präsident Trump leitete einen Paradigmenwechsel ein, für den man ihn in Israel bis heute feiert. Er stellte sich als erster US-Präsident bedingungslos auf die israelische Seite, verlegte die Botschaft nach Jerusalem und fror Gelder für Hilfsorganisationen in den Palästinensischen Gebieten ein. Seinen Entwurf eines Friedensplans hatte er eng mit der Netanjahu-Regierung abgestimmt. Den Palästinensern wurde das Ergebnis lediglich vorgelegt. Kein Beobachter hatte erwartet, dass die palästinensische Führung auf den Plan eingehen können würde. Doch er konnte wieder die Illusion nähren, dass es ja Friedensbemühungen gebe, ohne Not für Zugeständnisse oder Verhandlungen mit der palästinensischen Seite.

Die neue US-Administration unter Joe Biden war mit Blick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt zunächst zurückhaltend. Ihr Fokus liegt ohnehin derzeitig auf der US-Innenpolitik, und was den Nahen Osten angeht, so lagen die Prioritäten auf Iran und dem Jemen. Biden nahm lediglich einige Kurskorrekturen vor; so bekannte er sich nicht nur zum Schutz Israels, sondern ließ wieder Gelder an Hilfsorganisationen zu und versuchte gleichzeitig, Vertrauen auf palästinensischer Seite aufzubauen. Doch die Raketen auf Israel zwingen nun die gesamte westliche Staatengemeinschaft zur Positionierung. Richtigerweise mit einem Bekenntnis zur Garantie der Sicherheit Israels. Richtig, weil, mit den Worten Angela Merkels die Sicherheit Israels „Teil unserer Staatsräson“ ist, ohne die eine Freundschaft mit einem so vielfältig bedrohten Staat Makulatur wäre. Doch über dieses erste Bekenntnis hinaus gibt es Konkretes zu tun, um wirklich etwas zur Israelischen Sicherheit beizutragen.

Die USA genießen als Schutzmacht traditionell hohes Vertrauen in Israel. Die Europäer haben darüber hinaus, aufgrund ihrer kontinuierlicher Unterstützung beim Aufbau staatlicher und lebenswichtiger Infrastruktur, auch Einfluss auf die palästinensische Seite. Von unterschiedlichen Seiten leisten sowohl Ägypten als auch Katar schon jetzt wichtige diplomatische Hilfe für Verhandlungen mit der Hamas. Aber inzwischen sind, aufbauend auf den Abraham Accords, auch weitere Vermittler aus den Golfstaaten denkbar. Diese Kanäle müssen genutzt werden. Es ist jetzt zwingend notwendig, dass Deutschland innerhalb der EU mit den USA und im Gleichklang anderer relevanter Vermittler einen schnellen Waffenstillstand zwischen Hamas und Israel verhandeln, um zuallererst das Blutvergießen zu stoppen.

Anknüpfen an den Friedensprozess als schwierigere Aufgabe

Dann beginnt erst die eigentliche und viel schwierigere Aufgabe, nämlich an den seit fast zwei Jahrzehnten blockierten Friedensprozesses anzuknüpfen. Das ist deswegen so notwendig, weil die Unruhen in Jerusalem und die ethnische Gewalt in vielen israelischen Städten zeigen, dass viele Probleme im Verhältnis zwischen Israel und den Palästinensern unbearbeitet blieben. Während bei der Integration arabischer Israelis Fortschritte gemacht wurden, hat sich die Spannung in Jerusalem und dem Westjordanland eher verschärft. Völkerrechtlich umstritten, weitete Israel sein Staatsgebiet nach der dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 auf das arabisch geprägte Ost-Jerusalem aus. Aber bis heute wurde seinen arabischen Einwohnern nicht mehr als ein leicht entziehbares Wohnrecht eingeräumt. Die im Oslo-Prozess nur als vorrübergehend verhandelte Herrschaft des israelischen Militärs über den Großteil des Westjordanlands hat sich als Normalzustand verfestigt. Die Ausweitung der Siedlungspolitik im Westjordanland hat seit Oslo zu einer Vervierfachung der dortigen Siedler auf über 400.000 geführt, die sich frei zwischen Israel und  ihren Siedlungen und Wohngebieten im Westjordanland bewegen können, während Palästinenser überall Passierscheine der israelischen Militäradministration benötigen.

Ähnlich wie vor dem Beginn der Verhandlungen in den 90er Jahren herrscht eine gewisse Sprachlosigkeit, und niemand weiß aktuell, welche Kompromisse man auf beiden Seiten zu schließen bereit ist. Deutschland sollte von Anfang an innerhalb der EU eine Richtung aufzeigen mit dem erklärten Ziel, an der verhandelten Zweistaatenlösung festzuhalten. Trotz ihrer Schwächen bleibt sie die einzig bekannte Grundlage einer friedlichen Koexistenz, in der beide Seiten relative Sicherheit genießen können. Zusätzlich sollte sich Deutschland vehement dafür einsetzen, den Prozess, anders als in den 90er Jahren, mit einer festen Verankerung im Bereich Menschenrechte und Demokratie zu verknüpfen. Damit könnte man eigenen Werten gerecht werden und gleichzeitig zu einem tieferen Verständnis von Frieden und Sicherheit beitragen. Dieser Logik folgend, sind nachgeholte Wahlen in den Palästinensischen Gebieten ein notwendiger Impuls für einen Prozess, bei dem wieder demokratisch legitimierte Vertreter die Verhandlungen führen. Demokratie, Freiheit und Verantwortung auf beiden Seiten sind aus liberaler Sicht notwendige Grundvoraussetzung einer stabilen Friedensordnung. Wir dürfen für einen solchen Prozess weder Illusionen noch Scheuklappen haben, aber nach der geplatzten Illusion der Netanjahu-Doktrin ist es eindeutig an der Zeit, es wieder am Verhandlungstisch zu versuchen.

Dieser Beitrag erschien am 17.05.2021 bei ZEIT ONLINE und ist auch hier zu finden.