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Israel
Zwischen Lockdown und Neuwahlen – Israel am Ende eines turbulenten Jahres

Protest in Tel Aviv
Demonstranten in Tel-Aviv protestieren gegen Benjamin Netanyahu und die Corona-Politik der Regierung. © picture alliance / NurPhoto | Gili Yaari

Ende 2020 kann Israel auf ein politisch außerordentlich bewegtes Jahr zurückblicken, auf Wahlen, die Bildung, das Streiten und Scheitern einer Regierung, auf Erfolge und Nachlässigkeiten in der Coronabekämpfung, auf die Anerkennung durch arabische Staaten, auf Geniestreiche und den beginnenden Niedergang des Benjamin Netanyahu. Und nach dem aktuellen Lockdown beginnt erneut ein Wahlkampf - für die vierten Parlamentswahlen innerhalb von zwei Jahren im März 2021.

Neuwahlen 2021 – Eine starke rechts-nationalistische Koalition

Die nächsten Wahlen werden innerhalb der Rechten entschieden

Wer die Knessetwahlen im März 2021 gewinnt, werden diesmal Israels rechtsgerichtete Parteien allein unter sich ausmachen. Der Mitte-Links Hoffnungsträger der letzten drei Wahlen, Benny Gantz, hat sein zentrales Wahlversprechen gebrochen, nämlich niemals mit Benjamin Netanyahu zu koalieren, und hat damit seine eigene Partei wie überhaupt Israels politisches Zentrum zerstört. Einen starken neuen Kandidaten der Mitte wird es nicht geben, die Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten werden nur von der politischen Rechten kommen.

Derzeit sehen wir einen Exodus von Politikern aus Netanyahus Likud hin zu einer neuen Partei ‚Tikva Chadasha‘ („Die neue Hoffnung“) des vormaligen Likud-Granden Gideon Sa’ar, einem Befürworter der Annexion palästinensischen Landes. Ein weiterer Herausforderer Netanyahus ist Naftali Bennett, Vorsitzender der Partei ‚Yamina‘ (‚Rechts‘), bis zum Auftauchen von Sa’ar der unangefochtene shooting-star der israelischen Rechten. Hinzukommt die russisch geprägte, nationalistisch-säkular ausgerichtete Partei ‚Yisrael Beiteinu‘ (‚Israel unser Haus‘) von Avigdor Libermann. Diese drei Rechtsparteien könnten zusammen mit dem Likud, der aus den nächsten Wahlen wohl geschwächt hervorgehen wird, Israel ab 2021 mit einer komfortablen Mehrheit regieren.

Welch ein Wandel in Israels Gesellschaft und politischer Landschaft ! Nach Jahrzehnten politischer Herrschaft der linksgerichteten Arbeiterpartei und ideologisch wechselnder Regierungen, wird Israel seit 2009 von religiös-nationalistischen Koalitionen regiert. Heute sind drei von Israels vier größten politischen Formationen im rechts-nationalistischen Spektrum zuhause. Und es ist da nur noch die liberale Partei ‚Yesh Atid‘ (‚Es gibt eine Zukunft‘) unter ihrem Vorsitzenden Yair Lapid, die zu den vier größeren Parteien Israels rechnet.

Benjamin Netanyahus Stern beginnt zu verblassen

So geht es in Israels Politik nicht mehr um Rechts oder Links, sondern nur noch um Nuancen in den Positionen rechtsgerichteter Kandidaten - denn zu Israels Schicksalsfragen besteht ein weitreichender politischer Konsens. Allein die Person Netanyahu polarisiert die Wählerschaft noch, er kämpft inmitten des Erosionsprozesses im Likud um sein politisches Überleben und um seine persönliche Freiheit, die von der Anklage wegen Korruption bedroht ist. Die Zustimmung zu ihm sinkt, ‚König Bibi‘ könnte entthront werden, wenn sein Likud 2021 nicht mehr stärkste Partei wird, weil die anderen Rechtsparteien sich gegen Netanyahu vereinen. Unter einem anderen Premier der Rechten könnte Netanyahu, weil unter Anklage stehend, nicht Minister sein und würde sich wohl aus der Politik zurückziehen.

Aber auch eine fünfte Knessetwahl im Herbst 2021 ist nicht ausgeschlossen – sollten sich nämlich die anderen Gruppen des nationalistischen Lagers einer Koalition mit Netanyahu verweigern, sich aber auch nicht auf eine Koalition gegen und ohne Netanyahu einigen können - und der Likud Netanyahu nicht fallenlassen. Wie auch immer es kommt, der ‚Mythos Netanyahu‘ hat zu schwinden begonnen.

Corona und Protest - Pandemiebekämpfung in politischer Konfrontation

Am 21. Februar trat der erste Coronafall auf, Anfang März schloss Israel seine Grenzen, ging in den weltweit ersten Lockdown, dämmte die Zahl der Infizierten ein und wurde zum weltweiten Vorbild. Die Politik nutzte die Zeit nach der Aufhebung der Einschränkungen aber nicht, testete zu wenig, öffnete Schulen, Gewerbe und Restaurants zu schnell. Im September hatte Israel die weltweit höchste Infektionsrate und ist seit dem 27. Dezember 2020 das erste Land in einem dritten Lockdown. Nun allerdings mit einer hohen Anzahl von Tests und Impfungen. Die Regierung Netanyahu hat es jetzt eilig, muss sie doch die Krankheit rechtzeitig vor den abermaligen Neuwahlen zur Knesset unter Kontrolle gebracht haben.

Die Menschen sind unzufrieden und demonstrieren jedes Wochenende nach Ende des Shabbat gegen PM Netanyahu; und zwar nicht nur seine beinharten Gegner, sondern auch Anhänger des Likud, Religiöse, Alte, Verlierer der Pandemie. Es bricht sich in diesen Protesten das Gefühl Bahn, dass das Versagen Netanyahus im Corona-Krisenmanagement auch seiner persönlichen Obsession geschuldet ist, der Korruptionsanklage der Justiz zu entkommen und um jeden moralischen Preis an seiner Macht festzuhalten. Im Protest vereint sich die Verzweiflung über wirtschaftliche Notlagen mit der Sorge um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bei den Säkularen und um das Gefühl der Bedrohung von Glauben und Kultur bei den Ultra-Orthodoxen, die sich den Regeln der Pandemiebekämpfung nur widerwillig oder auch gar nicht unterworfen haben. 

Corona hat das Land 2020 im Griff gehalten, die Jungen haben wichtige Schulzeit verloren, hunderttausende Familien sind in existentielle finanzielle Schwierigkeiten geraten, die Menschen haben Arbeit und ihre Würde verloren, alte Menschen sind vom Virus und Einsamkeit bedroht, menschliche Nähe ist verloren und viele Israelis haben wirtschaftliche Langzeitfolgen zu befürchten. Was ein Thema im Wahlkampf 2021 werden wird, nachdem schon die Wahlen vom 2.März 2020 unter den Bedingungen des Virus stattfanden und Netanyahu seinen Widersacher Gantz mit dem Argument in die jetzt zerbrochene Regierungskoalition und in den politischen Selbstmord gelockt hatte, es brauche jetzt eine ‚Regierung des nationalen Notstands‘ - die es tatsächlich auch noch über die nächste Wahl 2021 hinaus bräuchte, denn das Virus hält Israel weiter gefangen.

Israel gegen Iran – Eine veränderte regionale Konstellation

Am Ende des Jahres 2020 ist Israels gefährlichster Feind, der Iran, geschwächt. Das Jahr hatte am 3. Januar mit dem Paukenschlag der Tötung von Qasem Suleimani, dem Führer der iranischen Revolutionsgarden, begonnen. Es folgten im Sommer 2020 Zerstörungen in Waffenfabriken, ein beispielloser Cyberangriff auf die Atomanlage in Natanz und im November die Tötung des ‚Vaters der iranischen Atombombe‘, Mohsen Fakhrizadeh. Diese Angriffe mitten im Iran müssen die Führung des Landes schon deshalb sorgen, weil derartige Aktionen ein erhebliches Netz von Unterstützern im Iran voraussetzen.

Die Furcht vor dem Iran begründet eine neue regionale Allianz, in der die arabischen Staaten Israels und der USA Nähe in der Sicherheits- und Wirtschaftskooperation suchen und nicht länger die palästinensische Sache verfolgen. Im Scheitern des Arabischen Frühlings und im Blick auf die iranischen Hegemoniebestrebungen hat eine neue sunnitisch-arabische Politikergeneration ideologische Positionen gegenüber Israel aufgegeben und räumt den wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen ihrer Länder Vorrang ein. 

Plötzlich steht der israelisch-palästinensische Konflikt nicht mehr im Zentrum der regionalen arabischen Agenda, die Palästinenser sind marginalisiert und haben ihre Vetomöglichkeit gegen die Normalisierung der Beziehungen der arabischen Staaten zu Israel verloren.

Der Trump Plan – Aufbruch und palästinensische Kapitulation

Ende Januar 2020 hatte die US-Regierung ihre „Vision for Peace“ vorgestellt, einen Nahost-Friedensplan, der von den international anerkannten Verhandlungsparametern abweicht, Festlegungen in den Endstatusfragen zu Lasten der Palästinenser vornimmt, der die Annexion palästinensischer Gebiete erlaubt und strittige Kernpunkte wie den Status Jerusalems und die Flüchtlingsfrage vom Tisch genommen hat. Der Plan sieht einen palästinensischen Rumpfstaat ohne Souveränität vor, ist damit ein „Kapitulationsangebot“ an die nicht beteiligten Palästinenser und bedeutet überhaupt das Ende eines auf den Vereinbarungen von Oslo 1993 basierenden Verhandlungsprozesses. Der Plan ist nicht weniger als ein vollständiger Wandel der Nahostpolitik der USA unter Abkehr von den Positionen aller amerikanischer Administrationen vor dieser.

Es gilt aber auch: Die Region ist in einem politischen Aufbruch. Und der Trump-Plan beschreibt eine Position gegenüber den Palästinensern, die in Israel so gerade mehrheitsfähig sein könnte. Der Plan setzt auf eine wirtschaftliche Kooperation, die in der Regon schwach ist; ihm folgten Normalisierungsschritte zwischen Israel und arabischen Staaten, die den bisherigen arabischen Konsens auflösen, wonach eine Normalisierung von Beziehungen mit Israel die Lösung des Konfliktes mit den Palästinensern voraussetze.

Kritik blieb schwach, der Plan entfaltet Wirkung: Die EU ist nahostpolitisch schon lange paralysiert, weil uneins, Russland hält sich mit Kritik an der Annexion palästinensischen Landes zurück, um nicht an die Krim erinnert zu werden. Und kein US-Präsident kann weit hinter den Plan zurück, den Israel immer als Ausgangspunkt für weitere Schritte sehen wird.

Beziehungen zu Marokko – Potential für eine offene Kooperation

Israel und Marokko

Eine Normalisierung der Beziehungen mit Marokko ist für Israel von einer anderen Qualität als die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain sowie dem noch ungewissen Prozess einer Annäherung an den Sudan. Denn die Golfstaaten sind für Israel zwar interessante wirtschaftliche Partner, Marokko aber ist als zentraler arabischer Akteur ein ungleich gewichtigeres Bindeglied in die sunnitisch-arabische Welt. Deren neu entstehende Allianz gegen den Iran rückt mit dem Schritt Marokkos sichtbar näher an Israel heran.

Offizielle Beziehungen strahlen politisch-psychologisch in die arabische Welt aus, zumal zwischen Marokko und Israel ‚wärmere‘ Beziehungen denkbar sind als diejenigen, die Israel bislang mit Ägypten und Jordanien verbindet, wo die intensive Zusammenarbeit im Verborgenen bleiben soll, die Normalisierung eine ‚kalte‘ ist. Beziehungen mit Marokko haben, anders als die mit anderen arabischen Staaten, in Israel ein starkes sentimentales Element; die Million Israelis marokkanischer Abstammung wird Tourismus und Begegnungen beflügeln, vielerlei neue, auch wirtschaftliche Beziehungen schaffen und einen Beitrag dazu leisten, Marokkos jüdisch geprägte Kultur wiederzubeleben.

Israelis und Araber

Politisch-psychologisch wichtig im Sinne des Abbaus israelisch-arabischen Misstrauens ist dieses Abkommen auch insofern, als es die in Israels Bevölkerung verankerte Überzeugung erodieren kann, „die (alle) Araber sind unsere Feinde“. Die Euphorie der diplomatischen Annäherung und jüdisch-arabischer Begegnungen in Dubai oder Rabat kontrastiert nämlich zum Desinteresse sehr vieler Israelis an den arabischen Bürgern im eigenen Land, denen eine emotional aufgeladene Ablehnung entgegengebracht wird. Israel braucht deshalb im Innern Schritte und Projekte der Aussöhnung und der Begegnung zwischen seinen verschiedenen Sektoren, zwischen Juden und Arabern, Ultra-Orthodoxen und Säkularen, Drusen, National-Religiösen und allen anderen. Israels innere Spaltungen erschweren die Coronabekämpfung wie eine jede Regierungsbildung. Ein Besuch in Dubai zeigt Israelis, wie sie und der jüdische Staat in der Region akzeptiert werden können. Nun braucht es dieselben Anstrengungen auch innerhalb Israels.

Die Palästinenser als Verlierer

Auch wenn der marokkanische König an der Zwei-Staaten-Lösung und dem Recht der palästinensischen Muslime, in Jerusalem ungehindert zu beten, ausdrücklich festhält, sind die Palästinenser die Verlierer der Welle der Anerkennung Israels durch arabische Staaten. Wobei all diese Normalisierung keine Lösung des Konfliktes mit den Palästinensern bringt – diesen allerdings abverlangt, ihre Position vor allem in der historisch und für Ihre Identität zentralen Forderung nach einer Lösung der Frage der palästinensischen Flüchtlinge zu überdenken. Und sie müssen ihre innere Spaltung zwischen Hamas und Fatah überwinden, um überhaupt wieder politisch handlungsfähig zu sein. Eine in demokratischen Wahlen legitimierte palästinensische Regierung muss Bürgerrechte gewähren, der Gewalt abschwören, Vertrauen schaffen und wieder ein Partner für Friedensgespräche werden. Dann kann 2021 in Nahost ein gutes Jahr werden.