Koreanische Halbinsel
Musik gegen Müll
Nordkorea schickt Müllballons, Südkorea antwortet mit dröhnendem K-Pop. Die bizarre Situation auf der koreanischen Halbinsel erscheint albern, ist aber bedrohlich. Ein militärischer Zwischenfall wird wahrscheinlicher.
“Dynamite” ist einer der beliebtesten Songs der südkoreanischen Boygroup BTS. Im Juni schallte das Lied nicht nur durch Clubs und Jugendzimmer, sondern auch über die Minenfelder der demilitarisierten Zone in Korea.
Mit der zeitweisen Wiederinbetriebnahme der Propaganda-Lautsprecher reagierte Südkorea auf die Ballons mit Abfall und Dung, die der Norden seit Ende Mai Richtung Süden schweben lässt. Auf der Playlist der südkoreanischen Soldaten standen auch globale Nachrichten sowie Informationen über den Erfolg von Samsung-Smartphones auf dem Weltmarkt. Die Beschallung wurde jedoch wieder gestoppt. Die Südkoreaner behalten sich aber vor, die Lautsprecher jederzeit wieder aufzudrehen.
Müllballons gegen K-Pop – die Situation auf der koreanischen Halbinsel wirkt bizarr und albern. Unterschätzen sollte man die Lage aber nicht. Vieles deutet darauf hin, dass sich die Situation weiter zuspitzen könnte. Mehrfach feuerten südkoreanische Soldaten zuletzt Warnschüsse ab, weil nordkoreanische Soldaten bei Befestigungsarbeiten in der DMZ die Grenze Demarkationslinie überschritten hatten. Ein ernsthafter militärischer Zwischenfall scheint immer wahrscheinlicher.
Eine ähnliche Situation führte schon einmal zu einer militärischen Eskalation. 2015 beschossen die Nordkoreaner die südkoreanischen Lautsprecheranlagen mit Artilleriegranaten. Die Südkoreaner antworteten wiederum mit dem Beschuss nordkoreanischer Stellungen. Verletzt wurde damals niemand. Nach dem Schusswechsel trafen sich Diplomaten beider Seiten in der DMZ und entschärften die Krise.
Eine solche diplomatische Begegnung ist derzeit nicht in Sicht. Seit mehr als einem Jahr existiert kein Kommunikationskanal mehr zwischen beiden Staaten. Nordkorea koppelt sich immer stärker vom Süden ab. In einer Rede kurz vor dem Jahreswechsel verkündete Machthaber Kim Jong Un, sein Land strebe keine friedliche Wiedervereinigung mehr an. Nordkoreanische Medien setzen die historische Kehrtwende um, sie erwähnen ein geeintes Korea mit keinem Wort mehr.
Ein Grund für die stärkere Abschottung und die zunehmenden Spannungen dürfte die veränderte geopolitische Lage sein. Seitdem Russland Nordkorea als Munitionslieferant für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine benötigt, haben sich die Beziehungen zwischen den beiden Staaten deutlich verbessert. Das zeigte auch der pompöse Gipfel zwischen Putin und Kim im Juni. Das einst stark isolierte Nordkorea hat plötzlich wirtschaftlich und politisch wieder mehr Optionen und muss keine Verurteilung im UN-Sicherheitsrat fürchten. Damit kann es deutlich aggressiver und selbstbewusster auftreten.
Moskau hingegen hat kein Interesse daran, beschwichtigend auf Nordkorea einzuwirken. Im Gegenteil: Putin dürfte sich darüber freuen, dass sich die USA als Schutzmacht Südkoreas um einen weiteren Konflikt kümmern müssen. Angesichts dieser Rahmenbedingungen ist es nicht auszuschließen, dass der Norden wieder Lautsprecheranlagen ins Visier nimmt oder anderweitig versucht, Südkorea unter Druck zu setzen.
Zumal die Durchsagen äußerst unangenehm für das Regime sind: Sie reichen laut südkoreanischen Medien bis zu 30 Kilometer ins Hinterland Nordkoreas hinein. Das Regime sieht unerwünschte Einmischungen durch Flugblätter, Durchsagen oder hineingeschmuggelte USB-Sticks als existenzielle Gefahr für das System. Das zeigen auch die drakonischen Strafen. Wer in Nordkorea mit südkoreanischen Popsongs erwischt wird, riskiert jahrzehntelange Haft im Arbeitslager.
Schwierige Situation für Yoon
Auch Südkorea scheut nicht vor Eskalation zurück. Der konservative südkoreanische Präsident Yoon Suk Yeol setzt in seiner Nordkorea-Politik auf Abschreckung und Härte. So versuchte seine Regierung bisher auch nicht, südkoreanische Aktivisten daran zu hindern, Ballons mit Flugblättern und USB-Sticks Richtung Norden zu schicken – die Aktionen gelten bei vielen Südkoreanern als unnötige Provokation. Die privaten Propaganda-Kampagnen waren auch der Auslöser für die aktuellen Müllsendungen aus dem Norden.
Die Müllballons stellen Yoon aber nun vor ein Dilemma. Einerseits beschädigen sie das Schutzversprechen des südkoreanischen Staates. Dass Menschen ernsthaft zu Schaden kommen, ist nicht auszuschließen. So zertrümmerte ein Müllballon beispielsweise eine Autoscheibe in Südkorea. Andererseits wäre eine militärische Antwort auf Ballons vollkommen überzogen. Mit der zeitweisen Wiederinbetriebnahme der Lautsprecher wählte er einen Mittelweg. Ungefährlich ist seine Entscheidung aber nicht.
Auf einen möglichen Beschuss der Lautsprecher aus dem Norden würden die Südkoreaner wohl mit Gegenfeuer reagieren. Mehrfach forderte Präsident Yoon die südkoreanischen Soldaten dazu auf, jeden Angriff aus dem Norden sofort mit Gegenfeuer zu kontern – und zwar ohne vorher Rücksprache mit Vorgesetzten zu halten.
Wegen der Müllballons aus dem Norden kündigte Südkorea auch ein Militärabkommen zwischen beiden Staaten vollständig auf, aus dem es sich schon im Herbst nach einem nordkoreanischen Satellitenstart teilweise zurückgezogen hatte. Die Nordkoreaner sahen sich an die Verbindung ohnehin nicht mehr gebunden. Eine Pufferzone, die das Abkommen garantieren sollte, existiert nicht mehr. Nun stehen sich die Truppen beider Staaten so nah gegenüber wie lange nicht mehr.
*Frederic Spohr leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Seoul