Belarus
Wie in Belarus über die Situation an der Grenze berichtet wird
Das belarusische Regime hat im Frühjahr und Sommer 2021 alle unabhängigen Medien, die heute objektiv vor Ort über die Geschehnisse berichten könnten, aufgelöst. Die Fortsetzung der Arbeit wurde ihnen unmöglich gemacht bzw. die Journalisten und Journalistinnen ganz aus dem Land gedrängt. Auf diese Weise unternimmt das Lukaschenka-Regime einen Versuch, den Informationsraum im Land zu monopolisieren, um den Informationsfluss und damit die öffentliche Stimmung zu kontrollieren.
Dies zeigt sich jetzt deutlich in der jetzigen Krise. Den Zugang in das Grenzgebiet, in dem sich derzeit Tausende von Migranten aufhalten, haben alleine die staatlichen Zeitungen und das Staatsfernsehen, Lukaschenkas Propagandakanäle. Ihr Hauptnarrativ lautet, Polen sei ein beinahe faschistischer Staat, der Migranten brutal behandeln würde, indem er sie nicht in sein Gebiet hineinlasse. Belarus hingegen leiste Hilfe für die armen Kinder und Frauen, die an der Grenze erfrieren. Dabei wird aber kein Wort darüber verloren, wie sie dorthin gekommen sind und warum belarusische Grenzschutzbeamte die Grenze nicht bewachen, sondern Migranten auf ihrem Weg begleiten, illegal in das Hoheitsgebiet eines anderen Staates zu gelangen.
Unabhängige Medien außerhalb von Belarus stützen sich häufig auf die Berichte polnischer und belarusischer Nachrichtendienste sowie auf Foto- und Videomaterial, das von Migranten selbst aufgenommen wurde. Das sind allerdings eher zweifelhafte Informationsquellen, denn jede Seite verfolgt hierbei eigenen Ziele und diese bestehen nicht unbedingt darin, objektiv und wahrheitsgetreu über die Geschehnisse zu berichten.
Belarusische regierungskritische Telegram-Kanäle berichten zwar auch aktiv über die Migrationskrise, aber ihre Qualität der Faktenüberprüfung ist ebenfalls deutlich geringer als die der früheren professionellen Nachrichtenredaktionen. Somit gibt es weiter viele Unklarheiten und ungeprüfte Fakten. In Chatrooms, in denen Migranten kommunizieren, werden Videos veröffentlicht, in denen zu sehen ist, wie ein bewegungsloser Körper auf einer Bahre transportiert wird oder wie Feuerholz an Menschen ausgehändigt wird. Ja, es gibt Videos, aber in welchem Zusammenhang werden sie gefilmt? Was passierte vorher und nachher?
Interessant ist auch, wie in den russischen Medien über die Migrationskrise berichtet wird. Einige von ihnen - z.B. RT, Sputnik, RBC oder Kommersant - bekommen ebenfalls Zugang zum Grenzgebiet. Kommersant veröffentlichte kürzlich einen Bericht mit dem Bild eines barfuß laufenden Mädchens. Das provoziert sofort neue Fragen: Ist es ohne Schuhe aus dem Irak geflogen? Wenn nicht, haben ihre Eltern die Schuhe ausgezogen, um die emotionale Wirkung des Bildes zu verstärken? Haben sie die Journalisten gar selbst dazu aufgefordert? Viele Fragen - wenige Antworten.
Einige Belarussen betrachten die Krise als humanitäre Katastrophe und politische Konfrontation, die Menschenleben in Geiselhaft nimmt. Sie fordern dazu auf, an die Grenze zu gehen und den Migranten zumindest mit warmer Kleidung und Lebensmitteln zu helfen. Ihr Hauptargument lautet: "Wir müssen die Migranten aus dem Nahen Osten wie uns selbst betrachten, denn wir teilen ein gemeinsames Unglück: Sie fliehen vor Verfolgung, genau wie wir es tun".
Ein anderer Teil der Belarussen sieht die Situation deutlich anders: "Irgendwie haben wir bei uns keine Belarussen gesehen, die vor der Verfolgung fliehen müssen und deshalb Kolonnen bilden, zur EU-Grenze marschieren, die Grenzanlagen durchbrechen und "Deutschland" skandieren“. Oft diskutiert wird auch, dass die Menschen, welche die polnische Grenze illegal zu überqueren versuchen, über viel Geld verfügen zu scheinen. Alleine um nach Belarus zu gelangen, investieren die Flüchtlinge mehrere Tausend Dollar, um danach "von Sozialhilfe in Deutschland zu leben".
In einem Punkt jedoch sind sich alle Belarussen einig. "Ich kann nicht glauben, dass dies in Belarus wirklich geschieht. Was hat Lukaschenka bloß aus unserem Land gemacht?" - schreiben sie und kommentieren damit die Geschehnisse an der polnisch-belarusischen Grenze. Genau die gleiche Frage stellten sich viele Menschen schon damals im Sommer 2020, als niemand glauben konnte, dass die belarusischen Polizisten in Uniform gegenüber anderen Belarussen, die nach Reformen und nach fairen Wahlen verlangten, zu solchen Grausamkeiten fähig sein würden.