Türkei Bulletin
Nachhaltige Städte gegen Katastrophen
Eine nachhaltige Stadt zeichnet sich durch Integrativität, Sicherheit und Widerstandsfähigkeit aus. Nach dem verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei mit über 50.000 Todesopfern ist das Thema einmal mehr auf der Tagesordnung. Die drei Schlüsselbereiche einer nachhaltigen Stadt teilen sich in Governance, Bürgergemeinschaften und Technologie auf.
Im Bereich der Governance oder “Regierungsführung” ermitteln Kommunalverwaltungen gemeinsam mit allen Beteiligten die Probleme einer Stadt und setzen Lösungen um, die gleichzeitig evaluiert und überwacht werden. Die Grundsätze des guten Regierens, wie Zugang zu Informationen, Rechenschaftspflicht und Transparenz, sind dabei ein wichtiger Bestandteil. Diese Art der Governance ist von entscheidender Bedeutung für die Verringerung der zerstörerischen Auswirkungen von Katastrophen in Städten. Das gilt für das Ergreifen von Sicherheitsmaßnahmen, die Erhöhung der Widerstandsfähigkeit einer Stadt, die wirksame Planung, Umsetzung und Überwachung des Krisenmanagements ebenso wie für die Normalisierung und den Wiederaufbauprozess nach einer Katastrophe. Die Großstadt İzmit mit 360.000 Einwohnern ist ein positives Beispiel für erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltung, Stadtrat und Krisenstab in Krisenzeiten. Letzterer wurde während des Marmara-Erdbebens 1999 etabliert, und zeigt wie wichtig eine gute Governance in der Katastrophenprävention ist.
Bürgergemeinschaften sind durch den Informationsfluss und die Organisation untereinander unerlässlich für die Katastrophenvorsorge und -hilfe sowie für die Solidarität im Ernstfall. Die Kommunikation zwischen verschiedenen Bürgernetzwerken und die rasche Verbreitung von Informationen können lokale Bedürfnisse schnell und effizient identifizieren und befriedigen. Die Zusammenarbeit der Bürgergemeinschaften mit lokalen Verwaltungen, dem Privatsektor, Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen und den Medien spielt eine Schlüsselrolle für die Vorbereitung auf den Katastrophenfall und die Solidarität nach einer Katastrophe.
Neue Technologien können außerdem die partizipative Verwaltung und die wirksame Kommunikation der Bürgergemeinschaften erleichtern. Sie können auch für das Sammeln und Nutzen von Daten in der Politikentwicklung und bei Überwachungsprozessen helfen. Die Aufbereitung der Daten in einem Open Source-Format und ihre Bereitstellung für die öffentliche Nutzung kann bei der Entwicklung innovativer politischer Maßnahmen von großer Hilfe sein. Das Zusammenspiel von Online- und Offline-Anwendungen hilft auch bei der regelmäßigen Erfassung von Daten, selbst wenn der Zugang zum Internet im Falle einer Katastrophe unterbrochen ist.
Dank guter Regierungsführung, Rechenschaftspflicht und datengestützter politischer Entwicklungsprozesse gibt es in der Türkei Städte, die selbst von verheerenden Erdbeben nicht dramatisch zerstört wurden. Im Jahr 1999 war das Marmara-Erdbeben der Stärke 7,4 mit Zentrum in Gölcük verheerend – nach offiziellen Angaben verloren fast 18.000 Menschen ihr Leben. In Tavşancıl gab es keine einzige verletzte Person und keine beschädigten Gebäude. Der Grund dafür war kein Wunder, sondern die vom Bürgermeister auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Berichts getroffenen und umgesetzten Präventionsmaßnahmen. In Tavşancıl, das aus niedrigen und weit entfernten Gebäuden besteht, die von Bäumen umgeben sind, wurde eine Stadtplanung vorgenommen, die sowohl die Natur der Stadt als auch mögliche Krisenszenarien eingebunden hat. Mit einer ähnlichen Herangehensweise gelang es auch der Stadt Erzin, die Kahramanmaraş-Beben vom Februar 2023 zu überstehen.
Obwohl Tavşancıl 1999 bewiesen hat, wie eine Stadt ihre Widerstandsfähigkeit gegen Katastrophen sicherstellen kann, hat sich dieses Bespiel-Modell nicht durchgesetzt, weil sich die Stadtverwaltungen mit kurzfristigen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger befassen. Interviews mit den Behörden aus den oben als positive Beispiele genannten Städten zeigen, dass strenge Maßnahmen zum Erdbebenschutz bei den Bürgern immer wieder auf Ablehnung stoßen, weil sie nicht ihren kurzfristigen Wünschen und Anliegen entsprechen. Dabei retten sie im Ernstfall tatsächlich Leben und stoßen erst dann auf die Dankbarkeit der Bürger.
Der vorgestellte Ansatz der nachhaltigen Stadt berücksichtigt nicht nur das tägliche Leben, sondern auch langfristige Fragen zukünftiger Generationen und der Städte selbst. Wenn also die nachhaltige Stadt als integrative, sichere und widerstandsfähige Stadt verstanden wird, kann sie eine Lösung zur Beseitigung wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ungleichheiten sein und sich dabei als widerstandsfähig gegen Naturkatastrophen erweisen.
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